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Full text of "Galilei und sein Kampf für die copernicanische Lehre"

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GALILEI 

UND  SEIN  KAMPF 
FÜR  DIE  COPERNICANISCHE  LEHRE 


ZWEITER  BAND 


Nach  einetn  Ölgemälde  von  G.Wr.blwill. 


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GALILEI 


UND   SEIN   KAMPF 
FÜR  DIE  C0PERNICANI8CHE  LEHRE 


VON 


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EiAlIL  WOHLWILL 


ZWEITER  BAND 

NACH  DER  VERURTEILUNG  DER  COPERNFCANISCHEX  LEHRE 
DURCH  DAS  DEKRET  VON  1616 


AUS   DEM   NACHLASS   HERAUSQK GEBEN 


MIT  EINEM  PORTRÄT  UND  EINER  TAFEL 


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LEIPZIG  /VERLAG  VON  LEOPOLD  VOSS 


Copyright  by  Leopold  Vobe,  Leipzig,  1926. 


Ob 


Druck  TOD  Metzger  &  Willig  in  I^ipzig. 


GennanT 


Vorwort. 

Erst  heute,  16  Jahre  nach  dorn  Erscheinen  des  ersten,  kann  der 
zweite  Band  von  Emil  Wohlwills  Galilei  dem  Druck  übergeben 
werden,  und  dies  keineswegs  in  der  Form,  die  ihm  der  Verfasser  selbst 
gegeben  haben  würde.  Als  im  Jahre  1909  der  erste  Band  des  Werkes, 
zu  dem  die  Vorarbeiten  mehr  als  40  Jahre  zuvor  begonnen  waren, 
fertig  vorlag,  hat  er,  der  damals  74  jälirige,  selbst  bezweifeln  müssen, 
daß  er  das  Erscheinen  des  zweiten  Bandes  erleben  werde.  GcNviß 
stand  ihm  das  Tatsachenmaterial  schon  damals  in  einer  Vollständig- 
keit zur  Verfügung,  die  für  manchen  anderen  zu  einer  Darstellung 
der  ganzen  Wissenschaftsgeschichte  jenes  Zeitalters  genügt  haben 
würde;  davon  zeugen  zahllose  Hefte,  gefüllt  mit  Untersuchungen 
und  Notizen  über  alles,  was  auch  nur  mittelbar  in  Beziehung  zur 
Persönlichkeit,  zu  dem  Lebensschicksal  und  zu  dem  Werk  und  der 
Wissenschaft  Galileis  steht.  Gewiß  stand  der  Gang  der  Darstellung, 
wie  sie  der  zweite  Band  bringen  sollte,  bis  in  die  Einzelheiten  vor  dem 
geistigen  Auge  des  Verfassers.  Aber  seine  Arbeitsweise  mußte  einen 
schnellen  Fortgang  der  Vorbereitungen  iür  den  zweiten  Band  ver- 
hindern: niemals  konnte  er  sich  auch  bei  scheinbar  nebensächlichen 
und  kleinen  Dingen  mit  Möglichkeiten  und  Wahrscheinlichkeiten 
zufrieden  geben,  wo  eine  entfernte  Hoffnung  bestand,  durch  weiteres 
Forschen  zur  Sicherheit  zu  kommen  oder  sich  ihr  wenigstens  mehr 
zu  nähern;  immer  wieder  legte  er  selbst  die  kritische  Sonde  an  die 
eigenen  Behauptungen  und  war  immer  aufs  neue  bemüht,  etwa, 
mögliche  Einwendungen  aus  dem  Wege  zu  räumen,  ehe  etwas  als 
feststehend  hingestellt  wurde. 


VI 


Diese  Arbeitsweise  entsprang  nur  zum  Teil  einer  fast  auf  die 
Spitze  getriebenen  historischen  Gewissenhaftigkeit,  zum  anderen  war 
sie  der  Ausfluß  einer  Versenkung  in  den  Stoff,  die  ihre  Quelle  hatte 
in  allerporsönlichstor  Anteilnahme  an  dem  zu  bearbeitenden  Gegen- 
st<ind.  Denn  nicht  von  ungefähr  ist  Emil  Wohlwill  dazu  gekommen, 
eine  Galiloi-Biographio  zu  seinem  Lebenswerk  zu  machen.  Der 
Kampf  der  Avissenschafthchen  Überzeugung  gegen  Intoleranz  und 
Geistesknechtung,  der  unwiderstehliche  Drang,  die  gewonnenen  Er- 
kenntnisse durch  Lehre  in  Wort  und  Schrift  zum  Gemeingut  der 
Älitlebcnden  zu  machen,  das  waren  Dinge,  die  dem  Verfasser  alier- 
eigenste  Herzenssache  waren.  „Ich  habe  mich  für  ihn  begeistert", 
heißt  es  in  einer  für  die  Vorrede  bestimmten,  aber  nicht  zur  Ver- 
wendung gekommenen  Notiz,  die  wii'  in  einem  jener  Hefte  vorfanden, 
„weil  ich,  seit  ich  ihn  aus  den  Quellen  kennen  lernte,  ihn  immer  an- 
sehen mußte  als  einen  von  denen,  die  ihr  volles  Herz  dem  Pöbel 
offenbarten,  und  kam  dazu,  über  ihn  schieiben  zu  wollen,  weil  ich 
fand,  daß  Leute,  die  nie  ein  volles  Herz  gehabt,  nie  mit  den  Herrschen- 
den in  Widerspruch  sich  zu  setzen  vermocht  hatten,  wagten,  von 
ihm  gering  zu  denken." 

Und  noch  ein  Anderes  war  es,  was  für  ihn  die  Wahl  gerade  dieses 
Themas  anziehend  machte.  Er  konnte  sich  bei  seinen  Studien  davon 
überzeugen,  daß  bis  zum  heutigen  Tage  Galileis  Persönlichkeit  und 
Leben  kaum  je  ohne  Parteinahme,  ja  kaum  ohne  Affekt  dargestellt 
worden  ist.  Insbesondere  hat  die  Tatsache,  daß  bei  genauerer 
Kenntnis  Galilei  sich  nicht  durchweg  und  überall  als  der  Held  der 
Wahrheit  und  Geistesfreiheit  erweist,  als  der  er  vielleicht  dem  weniger 
I^nterrichteten  in  ideahsiertem  Bilde  vorschwebt,  die  meisten  Autoren 
zu  abfälligen  Werturteilen  veranlaßt.  Nichts  konnte  Emil  Wohlwill 
ferner  liegen  als  eine  derartige  Betrachtungsweise.  Wohl  hat  er  im 
mündlichen  Gespräch  gelegentlich  einmal  etwas  wehmütig  und  nicht 
ganz  ohne  Neid  das  durch  keinen  Schatten  befleckte  Bild  Keplers 
dem  nicht  entfernt  so  abgeklärten  Charaktei  seines  Helden  gegenüber- 
gestellt. Aber  gerade  hier  schien  ihm  eine  besonders  reizvolle  Aufgabe 


—     vu     — 

des  Historikers  zu  liegen,  auch  solchen  Schwächen  des  großen 
Mannes  nachzugehen  und  sie  aus  seiner  Lebensgeschichte  und  seiner 
Umgebung  zu  verstehen  und  so  vor  Augen  zu  führen,  wie  der  Kon- 
flikt zwischen  Gläubigkeit  und  wissenschaftlicher  Überzeugung  in 
Galileis  Handlungsweise  sich  auswirkte. 

„Dieser  Konflikt",  heißt  es  in  einer  weiteren,  ebenfalls  nicht  in 
die  spätere  Ausarbeitung  aufgenommenen  Notiz,  „entsteht,  indem  der 
kirchlich  Gesinnte  oder  als  solcher  GeltenwoUende,  der  also  in  Dingen 
der  Keligion  sich  schlechthin  unterwirft,  der  Wahrheit  nachgehen 
will  auf  Gebieten,  die  er  selbst  der  Kirche  entzogen,  die  Kirche  sich 
angehörig  glaubt.  Wer  nur  der  Kirche  unterworfen  ist.  erlebt  diesen 
Konfhkt  ebensowenig,  wie  derjenige,  der  ihn  auch  in  anderer  Be- 
ziehung feindUch  oder  fremd  gegenübersteht.  Der  Erstere  kennt 
keinen  selbständigen  Wahrheitstrieb,  \vie  er  den  echten  Naturforscher 
mit  oder  wider  Willen  fortreißt,  der  Letztere  schickt  sein  Buch  nach 
Amsterdam  und  druckt  ohne  Zensur.  Der  Erstere  hält,  wie  Grisar, 
für  möglich,  daß  man  auf  bedenklichem  Gebiet  sich  Befriedigung  ver- 
sagt, oder,  wie  Marini,  daß  man  Tycho  Brahe  akzeptiert,  wenn  man 
Copernicus  glaubt;  dem  Letzteren  kann  die  Differenz  über  die  wissen- 
schaftliche Lehre  zum  Ausgangspunkt  des  völligen  Abfalls  werden." 

Ähnlich  war  bei  der  Darstellung  der  wissenschaftlichen  Forscher- 
tätigkeit Galileis  das,  was  den  Verfasser  reizte,  die  Analyse  der  Ent- 
wicklung seines  Denkens  mit  allen  ihren,  zum  Teil  bis  ans  Ende 
festgehaltenen,  Irrtümern,  viel  mehr  als  der  Nachweis,  was  von  dem 
heutigen  Besitz  der  Wissenschaft  sich  auf  Galilei  zurückverfolgen 
läßt.  Durchdrungen  von  der  hohen  Bedeutung,  die  der  Lehre  vom 
Werden  der  Erkenntnisse  für  das  menschUche  Erkennen  selbst  zu- 
kommt, hoffte  er,  in  seinem  Galilei  Wesen  und  Wert  einer  solchen 
Geschichtsbetrachtung  im  lebendigen  Beispiel  in  der  Form  vor  Augen 
führen  zu  können,  wie  sie  ilim  als  notwendig  vorschwebte  und  wie  er 
sie  in  einschlägigen  Darstellungen  so  oft  vermißte. 

Ln  November  1911  schrieb  er  an  den  Unterzeichner  dieses  Vor- 
worts:   „Abgesehen  davon,  daß  ich  über  die  Zukunft  der  Meinigen 


—       VIII       — 

beruhigt  sein  möchte,  habe  ich  nichts,  was  ich  dringender  wünschte, 
als  soviel  Arbeit  nicht  umsonst  getan  zu  haben;  und  das  würde  doch 
der  Fall  sein,  wenn  ich  nicht  mehr  dazu  käme,  dies  Lebensbild  aus 
dem  17.  Jahrhundert,  so  wie  es  mir  vor  Augen  steht,  lebendig  hin- 
zustellen.  So  anmaßend  es  klingt,  glaube  ich  doch  auf  Grund  meiner 

langjährigen    Erfahrungen    ,    daß    immerhin    noch    einmal 

50  Jahre  vergehen  können,  bis  weder  einmal  einer  sich  so  weit  in 
diese  merkwürdigen  Dinge  vertieft." 

Wenige  Wochen  darauf,  am  2.  Februar  1912,  starb  Emil  Wohl- 
will. Die  Arbeit  war  —  wenigstens  zum  Teil  —  umsonst  getan, 
der  zweite  Band  war  nicht  fertig  geworden.  Was  wir  Hinterbliebenen 
in  seinem  handschriftlichen  Nachlaß  fanden,  war  folgendes: 

Zunächst:  Ausarbeitungen  zu  den  sechs  ersten  Kapiteln  des 
zweiten  Bandes,  aUe  mit  dem  Vermerk  „nicht  fertig"  versehen,  aUe 
in  einer  Zeit  vor  der  endgültigen  Abfassung  des  ersten  Bandes  nieder- 
geschrieben. Eine  genauere  Angabe  über  die  Entstehungszeit  vermag 
ich  nicht  zu  machen;  einen  Anhalt  gibt  nur  die  Tatsache,  daß  an 
den  meisten  Stellen  —  mit  Ausnahme  von  Kap.  V  —  die  Edizione 
Nazionale  noch  nicht  benutzt  worden  ist. 

Ferner:  vollständig  ausgearbeitet  und  mit  der  Notiz  versehen: 
„kann  so  gedruckt  werden"  das  Schlußkapitel:  „Nach  Galileis  Tod". 
Es  ist  in  der  Zeit  zwischen  1909  und  1912  entstanden. 

Alsdann:  der  Abschnitt  „Sagenhafte  Ergänzungen  der  Jugend- 
geschichte", der  als  Anhang  für  den  ersten  Band  gedacht,  aber  von 
ihm  aus  Raumgründen  zurückgestellt  worden  w'ar^,  ebenfalls  in  einer 
Form  vorliegend,  die  gestattet,  ihn  als  abgeschlossen  zu  betrachten. 

Außerdem  fanden  wir  noch  Aufzeichnungen  zu  den  Prozeß- 
akten, die  Emil  Wohlwill  nach  seinem  Besuch  in  Rom  und  dem 
persönlichen  Studium  des  Vatikanmanuskripts  im  Jahre  1891  nieder- 
geschrieben und  mit  dem  Vermerk  versehen  hat:  „Muß  auf  irgend- 
eine Weise  veröffentlicht  werden." 


1  Siehe  Bd.  I  S.  642. 


—       IX       — 

Endlich:  cino  ausführliche  Abhandlung  aus  dem  Jahre  1911 
über  den  Betrug  des  Simon  Marius  aus  Gunzenhausen,  deren  Inhalt 
der  Verfasser  schon  kurz  im  Hamburger  Naturwissenschaftlichen 
Verein  vorgetragen  hatte. 

Es  war  von  vornherein  klar,  daß  aus  dem  Vorhandenen  sich  ein 
abgerundeter,  in  seiner  Gestaltung  dem  ersten  an  die  Seite  zu  stellen- 
der zweiter  Band  nicht  würde  herstellen  lassen.  Andererseits  schien 
es  uns  doch  geboten  —  und  in  dieser  Ansicht  wurden  wir  durch  die 
von  uns  befragten  Sachverständigen  bestärkt  — ,  die  voi  liegenden 
Fragmente  der  Öffentlichkeit  zugängUch  zu  machen,  auch  insoweit 
sie  vom  Verfasser  als  ,, nicht  fertig"  bezeichnet  worden  sind.  Wir 
mußten  dabei  allerdings  in  den  Kauf  nehmen,  daß  auf  diese  Weise 
vielleicht  manche  Ansichten  des  Verfassers  veröffentlich  weiden,  die 
er  spätei  aufgegeben  oder  modifiziert  hat.  Daß  ein  anderer  —  noch 
so  sachverständiger  —  Forscher  hier  aushelfend  hätte  eingreifen 
können,  war  bei  einem  derartigen,  auf  persönlichen,  durch  ein  ganzes 
Leben  fortgesetzten  Untersuchungen  aufgebauten  Werk  ausgeschlossen. 
Dagegen  wäre  es  wohl  unser  dringender  Wunsch  gewesen,  etwa  durch 
später  bekannt  gewordene  Tatsachen  als  überholt  oder  umichtig 
erkannte  Angaben  ausgemerzt  zu  sehen.  Als  Quelle  einer  solchen 
Korrektur  hätte  im  wesentlichen  wohl  nur  die  Edizione  Nazionale 
mit  ihrem  reichen  Inhalt  in  Betracht  kommen  können  für  diejenigen 
Abschnitte,  in  denen  sie  vom  Verfasser  noch  nicht  benutzt  worden  ist. 

So  verhältnismäßig  unkompliziert  diese  Aufgabe  erscheinen  mag, 
so  erwies  es  sich  zu  unserem  Leidwesen  doch,  daß  sie  zu  groß  ist,  um 
von  einem  selbst  wissenschaftHch  tätigen  Forscher  neben  seiner 
eigenen  Arbeit  erledigt  zu  werden.  Herr  Prof.  Klug- Nürnberg, 
an  den  wir  uns  zuerst  wandten,  mußte  sich  nach  einem  Jahr  davon 
überzeugen,  daß  er  nicht  die  Zeit  finden  werde,  diese  Aufgabe  zu 
erledigen.  Herr  Prof.  Würschmidt-Erlangen,  der  sich  ihr  sodann 
auf  unsere  Bitte  widmete,  hat  sich  der  äußerst  dankenswerten  Arbeit 
unterzogen,  für  das  Inhaltsverzeichnis  den  Inhalt  der  einzelnen 
Kapitel  kurz  zu  exzerpieren  und  überdies  eine  Reihe  von  Punkten 


—       X       — 

zu  notieren,  bei  denen  Zweifel  zu  beheben,  Übersetzungen  nachzusehen 
oder  zu  berichtigen,  Literaturbelege  zu  ergänzen,  kleinere  Lücken 
auszufüllen  waren  und  dergl.  mehr.  Der  weiteren  Ausführung  wurde 
er  zu  unserem  großen  Bedauern  durch  den  Kriegsdienst  entzogen. 
Herr  Prof.  Bopp- Heidelberg,  der  darauf  die  Bearbeitung  der  Manu- 
skripte übernahm,  hat  die  wichtige  Arbeit  auf  sich  genommen,  die 
Litcraturzitate,  da  wo  das  nicht  der  Fall  war,  auf  die  Edizione 
Nazionale  zu  beziehen  und  zahheichc  neue  hinzuzufügen.  Im  übrigen 
gab  er  sein  Gutachten  dahin  ab,  daß  die  vorliegenden  Manuskripte, 
so  wie  sie  seien,  publikationsreif  seien. 

Es  blieb  jedoch  noch  übrig,  die  von  Prof.  Würschmidt  an- 
gemerkten Fragen  zu  klären.  Soweit  wir  hierzu  nicht  selbst  imstande 
waren,  hat  dies  auf  Veranlassung  von  Herrn  Prof.  A.  Warburg- 
Hamburg  in  dessen  kulturwissenschaftlicher  Bibliothek  Herr  cand. 
phil.  Hans  Meier  übernommen  und  in  kurzer  Zeit  zu  Ende  geführt. 
Er  hat  überdies  durch  Hinzufügung  zahlreicher  neuer  Literaturzitate 
den  wissenschaftlichen  Wert  des  Buches  erhöht.  Allen  den  genannten 
Herren  sei  für  ihre  Mühewaltung  an  dieser  Stelle  unser  allerherz- 
lichster  Dank  ausgesprochen,  ebenso  denjenigen,  die  uns  bei  den 
Vorbereitungen  mit  Rat  und  Tat  zur  Seite  gestanden  haben,  unter 
denen  ich  besonders  Herrn  Prof.  Münzel-Hamburg  f,  Geh.  Rat 
S.  Günther-München ■}•,  Geh,  Rat  Sudhoff-Leipzig,  Prof.  Poske- 
Berhn-Dahlem,  Prof.  Scholz-Berlin  und  Prof.  A.  Warburg-Ham- 
burg nennen  möchte. 

Nachdem  so  13  Jahre  in  der  geschilderten  Weise  mit  der  redak- 
tionellen Bearbeitung  der  Handschriften  vergangen  waren,  an  der 
übrigens  auch  die  Frau  des  Verfassers,  die  das  Erscheinen  dieses 
Bandes  nicht  mehr  erleben  sollte,  in  sehr  wesentlicher  Weise  beteiligt 
gewesen  ist,  mußten  wir  uns  davon  überzeugen,  daß  unsere  oben 
gekennzeichneten  weitergehenden  Wünsche  in  sachlicher  Beziehung 
wohl  kaum  zu  verwirklichen  sein  würden,  zum  mindesten  nicht  ohne 
nochmaliges  Hinausschieben  der  Veröffentlichung  auf  unabsehbare 
Zeit.    Da  andererseits,  wie  erwähnt,  nach  Herrn  Prof.  Bopps  Gut- 


—       XI       — 

achten  auch  in  der  vorliegenden  Form  eine  Publikation  gerechtfertigt 
erschien,  so  haben  wir  uns  entschlossen,  nunmehr  mit  dem  Erreichten 
vorlieb  zu  nehmen  und  denjenigen,  die,  wie  wir  aus  zahlreichen  An- 
fragen wissen,  auf  das  Erscheinen  des  zweiten  Bandes  warteten,  ihn 
nicht  länger  vorzuenthalten. 

Eine  gewisse  Ausfüllung  der  gebliebenen  Lücken,  allerdings  mehr, 
soweit  sie  sich  auf  die  Lebensgeschichte  als  auf  die  wissenschaftliche 
Entwicklung  Galileis  beziehen,  konnten  wir  noch  dadurch  erreichen, 
daß  \m  unter  den  nachgelassenen  Handschriften  Emil  Wohlwills 
die  Ausarbeitungen  zu  4  Vorträgen  über  Galilei  fanden,  die  er  im 
Jahre  1870  in  Hamburg  gehalten  hat.  Diesen  Vorträgen  sind  die 
Abschnitte  Kapitel  4a:  „Allgemeine  Charakteristik  der  Dialoge", 
sowie  Kapitel  7  und  8,  die  den  Prozeß  Galileis  und  seine  Gefangen- 
schaft in  Aix-etri  behandeln,  entnommen.  Obwohl  nach  Stil  und  Art 
der  Ausführung  solche  Vorträge  natürlich  ganz  anders  gehalten  sind 
als  die  für  die  ausführliche  Biographie  bestimmten  Niederschriften, 
so  haben  wir  doch  diesen  Schönheitsfehler  der  Uneinheitlichkeit  mit 
in  den  Kauf  nehmen  zu  sollen  geglaubt,  um  den  dramatischen  Höhe- 
punkt in  Galileis  Leben  nicht  in  dieser  Lebensbeschreibung  ganz 
fehlen  oder  nur  durch  die  historisch-kritische  Studie  über  die 
Prozeßakten  vertreten  sein  zu  lassen,  die  ohne  einen  solchen 
zusammenhängenden  Bericht  für  den  mit  dem  ganzen  Fragen- 
komplex nicht  vertrauten  Leser  nicht  in  vollem  Umfang  verständ- 
lich sein  kann. 

Diese  Studien  über  die  Prozeßakten  waren  übrigens,  ebenso  wie 
die  Abhandlung  über  Simon  Marius,  in  dieser  Form  natürhch  nicht 
für  den  zweiten  Band  des  Galilei  bestinmit;  sie  sind  dementsprechend 
ebenfalls  nicht  im  Stil  der  Biographie,  sondern  in  dem  einer  geschicht- 
lichen Untersuchung  abgefaßt.  Wir  haben  es  aber  trotzdem  vor- 
gezogen, diese  in  engstem  Zusammenhang  mit  Galileis  Lebens- 
geschichte stehenden  Schriftstücke  dem  zweiten  Teil  der  Biographie 
als  Anhang  anzufügen,  anstatt  durch  Abdruck  an  anderer  Stelle  das 
Vorhandene  zu  zersplittern. 


—       XII       — 

Möge,  trotz  der  so  gekennzeichneten  Unebenheiten  und  Lücken, 
das,  was  w  hier  aus  dem  Nachlaß  Emil  Wohlwills  zur  Galilei- 
biographie zu  bieten  vermögen,  der  Geschichte  der  Naturwissen- 
schaften im  Sinne  des  Verfassers  neue  Freunde  gewinnen,  möge  es 
für  den  denkwürdigen  Kampf  um  das  copernicanische  System  und 
den  heute  noch  durchaus  aktuellen  Konflikt  zwischen  Wissenschaft 
und  Obrigkeit  neues  Interesse  wecken,  möge  es  dem  selbst  auf  diesem 
Gebiet  wissenschaftlich  arbeitenden  Forscher  Anregung  und  Material 
gewähren,  und  sollte  es  selbst  zum  Widerspruch  sein,  dann  wird  die 
Arbeit  Emil  Wohlwills  für  diesen  zweiten  Band  doch  nicht  ver- 
gebens gewesen  sein. 

Die  Drucklegung  dieses  Bandes  wurde  uns  ermöglicht  durch 
einen  sehr  namhaften  von  der  Notgemeinschaft  der  Deutschen 
Wissenschaft  geleisteten  Zuschuß  zu  den  Kosten,  nachdem  eine 
schon  im  Jahre  1921  auf  Fürsprache  von  Herrn  Geh.  Rat  Sudhoff 
gewährte  Beihilfe  von  1000  Mark  durch  die  Gesellschaft  Deutscher 
Naturforscher  und  Ärzte  leider  infolge  der-immer  aufs  neue  auf- 
tauchenden Schwierigkeiten  in  der  Bearbeitung  der  Handschriften 
ein  Opfer  der  Inflation  geworden  war.  Beiden  Korporationen  sei 
hiermit  unser  aUerherzMchster  Dank  ausgesprochen. 

Hamburg,  im  Oktober  1925. 

Prof.  Dr.  med.  Friedr.  Wohlwill. 


Inlialtstibersicht. 


Seite 

Vorwort v 

Erstes  Kapitel.     Unter  der  Herrschaft  des  Dekrets  von 
1616 1 

Wirkung  äußerer  Verhältnisse  auf  den  Gang  der  wissenschaft- 
lichen Erkenntnis.  —  Im  speziellen:  Wirkung  des  Dekrets  von  1616. 
—  In  katholischen  Ländern  Unterdrückung  der  neuen  Lehre,  in 
protestantischen  gleichgültiges  Geschehenlassen  infolge  der  poli- 
tischen Lage.  —  Maestlins  Kritik  als  Beispiel  der  Aufnahme 
des  Dekrets  in  einem  protestantischen  Lande.  —  Wirkung  in 
Österreich.  —  Suspension  von  Keplers  1618  erschienenem  ersten 
Teil  der  copernicanischen  Astronomie.  —  Besorgnisse  Keplers  und 
beruhigende  Antwort.  —  Vorsichtsmaßregeln  Keplers  bei  Ver- 
öffentlichxmg  der  „Harmonie  der  Welt"  (1619).  —  Wirkung  des 
Dekrets  in  rein  kathoUschen  Ländern,  besonders  in  Italien.  — 
Verhaftung  des  L.  Scorrigio.  —  Willenloser  Gehorsam  gegen  das 
Dekret  bei  Aristotelikern  und  Copernicanern.  —  AusschHeßung  des 
Luca  Valerie  aus  der  Akademie  der  Lyncei  unter  Galileis  schweigen- 
der Zustimmung. 

Zweites  Kapitel.    Der  Streit  mit  Horatio  Grassi 9 

Die  3  Kometen  des  Herbstes  1618.  —  Ansicht  des  Aristoteles 
über  die  Natur  der  Kometen,  im  Gegensatz  zur  Lehre  der  Pytha- 
goräer.  —  Beobachtungen  Tycho  Brahes  am  Kometen  von  1577; 
seine  Lehre:  die  Kometen  keine  feurigen  Lufterscheinungen,  sondern 
Himmelserscheinungen.  —  Keplers  Beobachtung  der  geradlinigen 
Bahn  am  Kometen  von  1607.  —  Beobachtungen  des  Kometen  von 
1618.    —    Kometentheorien    der    Paduaner    Gelehrten,    der    Peri- 


—       XIV       — 

patetiker  Bovio  und  Liceti,  des  Mathematikers  Gloriosi,  des  Nach- 
folgers von  Galilei.  —  Vermittelnde  Stellungnahme  der  Gelehrten 
des  Collegium  romanum;  Umgehung  der  Schwierigkeiten  durch 
Grassi.  —  Aufforderungen  an  Galilei,  sich  zu  äußern.  —  Vortrag 
seines  Schülers  Guiducci,  der  seine  Ansichten  wiedergibt:  Dis- 
kussion über  Bahn  und  Natur  der  Kometen;  Einfluß  der  Sonne 
und  Erklärung  der  Schweif bildung.  Widerlegung  Grassis;  im  Gegen- 
satz zu  dessen  Sophistereien  hier  kritische  Untersuchung.  — 
Keplers  Auffassung.  —  Unzuverlässigkeit  aller  Ergebnisse  bis  1618.- 

—  Erst  durch  Ne\\i:ons  und  Halleys  Entdeckung  vollständige  Ab- 
lehnung der  Galüei sehen  Kometenlehren.  —  Urteil  des  Baliani; 
berechtigte  Einwände.  —  Aufnahme  von  Galileis  Kometenlehre, 
wie  sie  in  Guiduccis  bald  gedruckter  Rede  dargestellt  ist.  —  Gegen- 
schrift des  Sarsi.  —  Oberflächlichkeit  seiner  Angriffe;  rein  pole- 
mischer Zweck  der  Schrift.  —  Angriffe  auf  Galileis  bzw.  Guiduccis 
Anschauungen  vom  Femrohr;  ein  Kampf  der  Scheinwissenschaft  der 
Schule  gegen  GaUlei  und  seine  Wissenschaft.  Provokatorische 
Absicht  der  Schrift.  —  Feindschaft  des  ganzen  Collegium  romanum. 

—  Hinweis  auf  das  Dekret  der  Indexkongregation  und  die  Ab- 
lehnung des  Copemicus,  die  daraus  folgen  müsse.  —  Eindruck  der 
Schrift  auf  Galilei  und  seine  römischen  und  florentinischen  Ge- 
sinnungsgenossen. Ungenügende  Erwiderung  Guiduccis  unter 
Hinweis  auf  eine  von  Galilei  selbst  zu  erwartende.  —  Wenig  ein- 
drucksvolles Eintreten  Stellutis  für  Guiducci.  —  Verzögerung  der 
Antwort  Galileis  durch  äußere  Umstände.  Erscheinen  derselben 
im  Jahre  1622  in  der  Form  eines  Briefes  an  V.  Cesarini  unter  dem 
Titel  „II  Saggiatore".  Absicht,  das  Manuskript  in  Rom  drucken  zu 
lassen.  —  Bemühungen  Cesarinis,  unterstützt  durch  N.  Riccardi, 
den  Zensor  der  Indexkongregation,  den  Druck  zu  beschleunigen.  — 
Erteilung  der  Druckgenehmigung.  —  Persönliche  Beziehungen 
zwischen  Galilei  und  Riccardi.  —  Inhalt  des  „Saggiatore".  Ein- 
leitung: Veranlassung,  gegen  seine  ursprüngliche  Absicht  wieder  zu 
schreiben,  sei  der  Angriff  Sarsis;  Auftreten  als  Guiduccis  Ver- 
teidiger. —  Er  erkennt,  daß  Sarsi  nur  der  fingierte,  nicht  der  wahre 
Autor  ist,  wendet  sich  aber  doch  nur  an  ersteren.  —  Wesentlich 
polemische  Absicht  der  Schrift,  Widerlegung  der  Disputierkünste 
Grassis,  und  zwar  nach  rein  logischer  Methode,  indem  er  Satz  für 
Satz  des  Gegners  zergliedert.  —  Scharfe  Zurückweisungen  des 
Gegners.  —  Trotz  aller  Eintönigkeit  der  Polemik  lebendige  Dar- 
stellung des  eigentlichen  Themas.  —  Bedeutung  des  Buches  für 
die  Entwicklungsgeschichte  der  Wissenschaft  und  für  die  Zeit- 
genossen. —  Aufgabe  der  Naturerforschung;  Beispiel:  das  Märchen 
von  der  Entstehung  des  Schalles.  —  Anwendung  dieser  Betrach- 
tungen auf  die  Frage  nach  der  Kometennatur.  —  Verwendung 
anderer  physikalischer,  besonders  optischer  Tatsachen  zur  Ver- 
deutlichung seiner  Kometentheorie.  —  Erörterungen  über  das  Wesen 


—       XV       — 

Seite 
der  Wärme.  —  Sätze  der  neuen  Mechanik  im  Gegensatz  zu  den 
verworrenen  Meinungen  der  alten  Philosophie.  —  Anbequemung 
an  die  kirchliche  Auffassung  des  Dekrets  von  1616.  —  Doppel- 
stellung Galileis:  die  copernicanische  Lehre  ist  (kirchlich)  falsch, 
erklärt  aber  gut,  wie  so  viele  andere  Erscheinungen,  so  die  an  den 
Kometen  beobachteten.  —  Ablehnung  der  Lehre  Tychos. 


Drittes  Kapitel.    Vor  den  Dialogen,    Gegen  Ingoli 58 

Kardinal  Barberini  —  Papst  Urban  VIII.  —  Seine  früheren 
Beziehungen  zu  den  LjTicei.  —  Wahl  dreier  Lyncei  in  die  nächste 
Umgebung  des  Papstes.  —  Widmung  des  Saggiatore.  —  Frühere 
Beziehungen  Galileis  zu  dem  Kardinal  Barberini.  —  Unverändertes 
Wohlwollen  des  Kardinals.  —  Hoffnungen  Galileis  bei  der  Papst- 
wahl Barberinis.  —  Interesse  des  Papstes  für  Galilei  und  den 
Saggiatore.  —  Eindruck  des  Saggiatore  auf  Kepler.  —  Keplers 
Verteidigung  der  Lehre  Tycho  Brahes,  auch  gegen  Galilei.  —  Urteil 
Keplers  über  den  Gehorsam  Sarsis  (und  damit  Galileis,  den  er  aber 
nicht  nennt)  gegen  das  Dekret.  —  Geringschätziges  UrteU  Galileis 
über  Keplers  Bedenken,  sowie  über  eine  Gegenschrift  Chiaramontis 
gegen  den  Saggiatore.  —  Beabsichtigte  ausführliche  Er-R-iderung 
an  Kepler.  —  Eindruck  des  Saggiatore  im  Collegium  romanum; 
anfängliche  freimdliche  Aufnahme;  dann  aber  feindselige  Stellung- 
nahme des  Ordens.  —  Maske  freundlichen  Entgegenkommens 
Grassis  gegen  Guiducci;  Unterredungen  beider  über  das  coperni- 
canische System.  —  Äußerungen  Caccinis. 

Galilei  in  Rom  im  April  1624.  —  Tod  Cesarinis,  —  Erster 
Empfang  beim  Papste;  aber  keine  Gelegenheit  zur  Erörterung 
der  wissenschaftlichen  Frage.  —  Trotz  sechsmaliger  Unterredung 
mit  dem  Papste  keine  Aussicht  auf  Aufhebung  des  Dekrets.  — 
Rückkehr  nach  Florenz  mit  besonderen  Beweisen  des  persönlichen 
Wohlwollens  des  Papstes.  —  Päpstliches  Breve  an  den  Großherzog 
Ferdinand  mit  warmer  Anerkennung  Galileis. 

Absicht  Galileis,  seine  längst  angefangenen  Werke  zu  voll- 
enden, zunächst  seine  Betrachtungen  über  Ebbe  und  Flut;  zuvor 
jedoch  Widerlegung  des  Ingoli,  der  ihn  unter  dem  Schutze  des 
Dekrets  schon  1616  angegriffen  hatte,  dessen  Schrift  unterdessen 
auch  in  Rom  als  bedeutend  erachtet  wurde.  Klare  und  geduldige 
Widerlegung  der  sinnlosen  Einwände  Ingolis  und  der  aristotelischen 
Lehren  über  die  Bewegung.  Seine  Ansichten  über  das  Leichte  und 
Schwere.  Kritik  der  Ansichten  Tycho  Brahes  über  die  jährliche 
Bewegung  der  Erde.  —  Ausführungen  über  die  UnermeßUchkeit 
der  Welt.  —  Einleitende  Erörterung  zu  der  Schrift,  in  der  Galilei 
sich  in  allem  der  Autorität  der  Kirche  unterwirft.  —  Widerspruch 
derselben  zu  dem  sonstigen  rein  copernicanischen  Inhalt  der 
Schrift. 


—       XVJ       — 

Seite 

Viertes  Kapitel.    Die  Dialoge 85 

A.  Allgemeine  Charakteristik  der  Dialoge 85 

Ursprünglicher  Name  der  Dialoge:  „Dialoge  über  Ebbe  und 
Flut."  Vorteil  der  Dialogform.  Die  3  Dialogf ükrer :  Salviati,  der 
überzeugte  aber  abgeklärte  Copernicaner,  Sagredo,  der  heiter- 
geniale, der  lernbegierige  und  schon  für  den  Copernicus  gewonnene 
Hörer  und  Simplicius,  der  in  den  Lehren  der  Schulweisheit  be- 
fangene, aber  doch  gut  begabte  und  edelgesinnte  Aristoteliker.  — 
Im  wesentlichen  historischer  Wert  der  Dialoge. 

B.  Tägliche  Bewegung 87 

Vergleich  der  Dialoge  mit  Keplers  „Abriß  der  copernicanischen 
Astronomie."  — Im  Gegensatz  zu  Kepler  bei  GaUlei  noch  die  kreis- 
förmigen Planetenbahnen.  —  Für  den  Zweck  Galileis  jedoch  nicht 
wesentlich.  —  Hauptverdienst  der  Dialoge:  Veranschaulichung 
der  neuen  Lehre.  —  Vernichtung  der  aristotelischen  Physik.  — 
Galileis  Beweise  für  die  Erdbewegung  gelten  auch  heute  noch.  — 
Widerlegung  des  Aristoteles  durch  logische  Zergliederung.  —  Not- 
wendigkeit dieser  Methode. 

Inhalt  des  ersten  ,, Tages":  Unvergleichbarkeit  irdischer  und 
himmlischer  Dinge  bei  Aristoteles,  d.  h.  Gegensatz  der  geradlinigen 
und  kreisförmigen  Bewegung.  —  Nachweis  von  Veränderungen  auch 
an  Himmelskörpern,  nämlich  am  Mond.  —  Relativität  der  Be- 
wegung. —  Einwände  gegen  die  Erdbewegung:  Nachweis  der  Un- 
richtigkeit der  Einwände  aus  dem  freien  Fall  oder  schiefen  Wurf, 
die  auch  Kepler  noch  nicht  widerlegen  konnte:  Begründung  einer 
neuen  Bewegungslehre  durch  Galüei:  Unzerstörbarkeit  der  über- 
tragenen Bewegung.  —  Beweis  durch  Beispiele.  —  Wurfbahn.  — 
Widerlegung  des  Einwands  aus  dem  Flug  der  Vögel.  —  Vergleich 
mit  der  Bewegung  auf  einem  fahrenden  Schiff.  —  Östliches  Voraus- 
eilen nördlich  bewegter  und  freifallender  Körper,  theoretisch  er- 
schlossen. —  Einwand  der  großen  Zentrifugalkraft  und  ihrer 
Wirkungen.  —  Widerlegung  dieses  Einwand  es.  Fehler  Galileis 
hierbei.  —  Widerlegung  der  logischen  Deduktionen  zugunsten  der 
ruhenden  Erde. 

C.  Jährliche  Bewegung 106 

Gegenstand  des  dritten  Dialogs:  Die  Beweise  für  die  jähr- 
liche Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  und  die  Widerlegung  der 
Gegengründe,  nicht  die  Ausführung  des  (z.  Tl.  noch  inkonsequenten) 
copernicanischen  Systemes.  —  Nachweis  der  Bewegimg  der  fünf 
Planeten  Merkur,  Venus,  Mars,  Jupiter  und  Saturn  um  die  Sonne 
und  nicht  um  die  Erde.  —  Stellung  des  Mondes  und  der  Jupiter- 
monde. —  Wahrscheinlichkeitsbeweis  für  die  Erdbewegung.  —  Die 


—       XVII       — 

Seite 
Erdbewegung  erklärt  alle  scheinbaren  Ungleichheiten  der  Planeten- 
bewegungen. —  Klare  Darstellung  dieses  Kerns  der  copernicanischen 
Lehre.  —  Neigung  der  Sonnenachse  gegen  die  Ekliptik,  erschlossen 
aus  der  krummlinigen  Bahn  der  Sonnenflecken;  gleichzeitig  ein 
Beweis  für  die  Erdbewegung.  —  Widerlegung  eines  Einwandes  von 
Scheiner,  nach  dem  man  eine  vierfache  Bewegung  der  Sonne  an- 
nehmen müßte.  —  Ungeheuer  große  Entfernung  der  Fixsterne  im 
Vergleich  zum  Durchmesser  der  Erdbahn  als  Konsequenz  des 
copernicanischen  Systemes.  —  Übertriebene  Zahlen  Tycho  Brahes 
für  die  Größe  der  Fixsterne.  —  Relativität  der  Größenbegriffe  nach 
Galilei.  —  Die  alte  Arxsicht  zum  Zweck  der  Planeten  und  Fixsterne, 
Bescheidenheit  der  neuen  Weltanschauung.  —  Mögüchkeit  des 
Nachweises  einer  Parallaxe  der  Fixsterne;  Schwierigkeit  der  Messung. 
Darstellung  der  copernicanischen  Lehre  von  den  Jahreszeiten. 

—  Erhaltung  der  Richtung  der  Erdachse.  —  Hinweis  auf  Gilberts 
Ansicht  von  der  magnetischen  Natur  der  Erde. 

D.  Ebbe  und  Flut      119 

Ebbe  und  Flut  als  Beweis  für  die  Erdbewegung.  —  Deutung 
Gilberts  und  Keplers  und  de  Dominis.  — •  Galileis  Ablehnung  der 
Annahme  einer  Wirkung  des  Mondes.  —  Nach  Galilei  ist  die  Ur- 
sache der  monatlichen  Flutperiode  eine  Ungleichförmigkeit  der 
Erdbewegung,  hervorgerufen  durch  eine  Veränderung  der  Jähr- 
lichen Bewegung  durch  die  tägliche.  —  Vergleich  der  Dauer  der 
Planetenumläufe  mit  der  Schwingungsdauer  von  Pendeln.  —  An- 
wendung auf  den  Mond.  —  Zweite  Ursache  einer  Geschwindigkeits- 
änderung ist  die  parallel  zu  sich  selbst  bleibende  Erdachse.  — 
Widersprüche  der  Galilei  sehen  Theorie  mit  der  Beobachtung.  — 
Würdigung  der  Leistung  Galileis;  Armut  an  Erfahrungstatsachen. 

—  Ein  Verhalten  wie  das  Galileis  häufig  in  der  Entwicklungs- 
geschichte der  Naturwissenschaft.  —  Erörterung  Galileis  über  die 
Passatwinde.  —  Erklärung  der  Passatwinde  durch  die  Peripatetiker. 

—  Die  Tatsache  der  Kalmen  im  Widerspruch  mit  beiden  Lehren, 
von  Galilei  ignoriert.  —  Kürzere  Dauer  einer  westwärts  gerichteten 
Seefahrt.  —  Zusammenfassung  der  Beweise  für  die  Erdbewegung. 

Fünftes  Kapitel.    Zum  vierten  Mal  in  Rom 133 

Zweck  der  Reise.  Ankunft  in  Rom  und  angenehmer  Aufent- 
halt im  Palast  des  Gesandten  Niccolini.  —  Verdächtigungen  Gaüleis 
wegen  angeblicher  Beziehungen  zu  Astrologen.  —  Michelangelo  und 
Kardinal  Barberini  als  Galileis  Freunde.  —  Notwendigkeit  der 
günstigen  Stimmung  des  Papstes  für  die  Handhabung  der  Zensur. 

—  Befriedigung  Galüeis  über  die  erste  Audienz.  —  Wünsche  des 
Papstes  bezüglich  der  Vorrede  und  der  Schlußbemerkungen,  vor 
allem  die  Führung  des  Nachweises,  daß  man  in  Rom  alle  Gründe  für 

Wohl  will,  Galilei.    II.  ij 


—      XVIII      — 

Seite 
die  copemicanische  Lehre  kenne,  und  Hinweis  auf  die  hypothetische 
Natur  der  copemicanischen  Lehre.  —  Aufgabe  des  Zensors.  —  Die 
Revision  von  Riccardi  seinem  Ordensgenossen  Visconti  übertragen. 
—  Bedingtes  Imprimatur  (bis  auf  Titel,  Vorrede  und  Schluß).  — 
Rückkehr  GaUleis  nach  Florenz. —  Tod  des  Fürsten  Cesi;  Größe  dieses 
Verlustes  für  Galilei.  —  Castellis  Vorschlag,  das  Werk  in  Florenz 
drucken  zu  lassen.  —  Neue  Bedenken  in  Rom.  Gründe  für  diese. 
Gereizte  Stimmung  der  Jesuiten,  besonders  Scheiners.  —  Im- 
primatur der  Florentiner  Zensoren.  —  Widerstreben  Galileis  gegen 
eine  nochmahge  Vorlage  vor  Riccardi.  Stefani  Revisor  in  Florenz. 
Milde  Korrektur.  —  Riccardis  Zögern,  Vorrede  und  Schlußwort  zu 
revidieren  und  zurückzusenden.  —  Intervention  des  Großherzogs 
durch  den  Gesandten  Niccolini.  —  Trotzdem  noch  Schwierigkeiten 
Riccardis.  —  Vorschlag  Galileis  einer  Zusammenkunft  in  Florenz 
zur  Prüfung  des  Werkes.  —  Neue  Bemühungen  Niccolinis;  Nachgeben 
Riccardis.  —  Erteilung  des  Imprimatur.  —  Riccardi  übersendet 
nach  abermaligem  Zögern  endlich  auch  die  Einleitung.  —  Was  das 
„Imprimatur"  für  Galilei  bedeutete. 


Sechstes  Kapitel.    Aufnahme  der  Dialoge 158 

Begeisterte    Aufnahme    der    Dialoge    bei    den    Gelehrten.    — 
Urteü  des  Castelii  und  des  Campanella  über  das  Werk  im  ganzen. 

—  Aufnahme  der  Galilei  sehen  Flutlehre  durch  Gassendi.  —  Be- 
denken Balianis  wegen  der  beobachteten  täglichen  Flutverzögerung. 

—  Die  alten  Einwände  der  Gegner.  —  SteUimgnahme  des  Collegium 
romanum.  Überreichung  von  Exemplaren  des  Werkes  an  die 
römischen  Theologen.  —  Verdächtigungen. 


Siebentes  Kapitel.    Der  Prozeß  vom  Jahre  1633     165 

Verbot  des  Verkaufs  weiterer  Exemplare  der  Dialoge.  Im 
Wesentlichen  ergebnisloser  Einspruch  der  Florentiner  Regierung.  — 
Eröffnung  des  Inquisitionsverfahrens.  Galilei  wendet  sich  um  Hilfe 
an  den  Kardinal  Barberini,  erreicht  aber  nur  einen  kurzen  Auf- 
schub. Er  wird  ermahnt,  sich  zu  unterwerfen.  ■ —  Die  Intriguen,  die 
dem  Verfahren  gegen  Gahlei  zugrunde  liegen:  Die  gelo'änkten  Ur- 
bilder des  Simplicius  machen  den  Papst  glauben,  daß  er  selbst  in  der 
Person  des  Simplicius  verhöhnt  sei.  Der  Papst  macht  daraufhin 
aus  der  Verfolgung  Galileis  seine  eigene  Sache.  Der  Form  nach 
jedoch  erschien  Galilei  durch  das  ,,Imprimatxir"  des  Zensors 
gedeckt.  Nach  der  gewöhnlichen  Darstellung  ergibt  sich  seine 
Schuld  aus  der  Verletzung  eines  speziellen  ihm  im  Februar  1616 
erteilten  Befehls,  die  Meinung  des  Copemicus  fernerhin  in  keiner 
Weise  in  Worten  und  Schriften  zu  lehren.    Diese  Darstellung  ent- 


—       XIX       — 

Seite 
springt  unvollständigen,  willkürlich  zusammengestellten  Aus- 
zügen aus  den  Akten.  —  Die  Geschichte  der  Akten  des  Inquisi- 
tionsprozesses von  1633.  Die  Veröffentlichungen  Marinis  und 
del'Epinois'.  Das  Protokoll  vom  25.  Februar  1616.  Das  Akten- 
stück vom  26.  Februar  1616.  Die  Widersprüche  zwischen  beiden. 
Das  letzgenannte  gefälscht.  Dies  gefälschte  Aktenstück  Grund- 
lage der  Anklage  und  des  UrteUs  gegen  Galilei.  —  Das  erste  Ver- 
hör. Galilei  erinnert  sich  des  besonderen  Befehls  nicht,  traut  aber 
der  Sicherheit  des  Inquirenten  gegenüber  seinem  Gedächtnis  nicht. 
Er  weiß  nur  von  einem  Befehl,  den  ihm  der  Kardinal  Bellarmin 
gegeben  hat,  nichts  von  einem  solchen  des  Pater  Commissarius. 
Die  schriftliche  Erklärung  des  Kardinal  Bellarmin  als  gewichtiges 
Zeugnis  dafür,  daß  Galilei  von  einem  über  die  allgemeine  Ver- 
urteilung copernikanischer  Schriften  hinausgehenden,  persön- 
lichen, nur  ihn  betreffenden  Befehl  nichts  bissen  kann.  Galileis 
hierauf  gegründete  schriftliche  Verteidigung  findet  keinerlei  Berück- 
sichtigung. —  Galilei  zeigt  sich  nach  3  wöchiger  Gefangenschaft 
im  Inquisitionspalast  bei  einem  zweiten  Verhör  vollkommen  gebro- 
chenen Muts.  Er  erklärt  sich  bereit,  die  Ansicht  des  Copernicus 
zu  widerlegen.  Die  sittliche  Schuld  auf  beiden  Seiten.  —  Kleine 
Vergünstigungen  für  Galüei.  —  Letztes  Verhör.  Drohung  mit 
der  Tortur.  Ist  GaHlei  gefoltert  worden  ?  —  Galüei  schwört  ab. 
Er  wird  zum  Gefängnis  in  den  Kerkern  der  Inquisition  ver- 
urteilt. Sein  Ausspruch:  ,,Und  sie  bewegt  sich  doch"  sagenhaft 
und  der  Situation  nach  unmöglich;  der  Inhalt  entspricht  aber 
seiner  Gesinnung.  —  Bedexitung  und  Würdigung  des  Urteils  gegen 
Galilei. 

Achtes  Kapitel.    Galilei  der  Gefangene  der  Inquisition  .    184 

Milderung  des  Urteils.  Galilei  darf  in  seine  Villa  in  Arcetri 
zurückkehren.  Die  ihm  auferlegten  Freiheitsbeschränkungen.  Bei 
Besuchen  darf  nicht  die  Rede  von  der  Bewegung  der  Erde  sein. 
Galileis  treue  Freunde:  Pater  Castelli  und  Pater  Fulganzio  Mican- 
zio.  Die  Dialoge  ins  Ausland  gerettet  und  in  Holland  durch  Ver- 
mittlung Berneggers  lateinisch  gedruckt.  Die  ,, Unterredungen 
über  zwei  neue  Wissenschaften.'"  Ihre  grundlegende  Bedeutung.  Das 
Verbot  der  Inquisition  gegen  alles,  was  von  Galilei  bereits  gedruckt 
war  oder  noch  gedruckt  werden  sollte.  Daher  müssen  auch  diese  Dis- 
corsi  in  Holland  erscheinen.  Galileis  ungeschwächte  Gedanken- 
fülle. Abnehmende  Körperkräfte.  Erblindung.  Wiederholte  Bitten, 
nach  Florenz  zurückkehren  zu  dürfen,  werden  endlich  1638  nach 
ärztlicher  Begutachtung  bewilligt,  aber  nur  für  kurze  Zeit  und 
unter  der  Bedingung,  mit  niemandem  über  die  verurteilte  Lehre  von 
der  Erdbewegung  zu  reden.  Das  darin  liegende  Ohnmachtsbekennt- 
nis der  GrewaJt.     Galileis  Rückkehr  nach  Arcetri.     Sein  Tod. 

b* 


—       XX       — 

Seite 

»iiiites  Kapitel.    Nach  Galileis  Tode 190 

Verhinderung  der  definitiven  Beisetzung  des  „Häretikers"  in 
Sa.  Croce.  —  Sammlung  für  ein  Grabdenkmal.  —  Widerstand  des 
Papstes.  —  Audienz  des  großherzoglichen  Gesandten  NiccoUni.  — 
"\>reitelung  der  Denkmalserrichtung.  —  Vernachlässigung  von 
Galüeis  Andenken  bei  den  folgenden  Generationen  als  Folge  des 
kirchlichen  Machtspruchs.  —  Erscheinen  des  Almagestum  novum 
von  Riccioli  1651.  Kritik  der  copernicanischen  Lehre.  —  ]\Iethode 
RiccioUs.  —  Prüfvmg  der  Beweisgründe  auf  ihre  formallogische 
Berechtigung.  —  Kritik  der  Flutlehre  der  „Dialoge".  —  Seine  Be- 
weise gegen  die  Erdbewegung,  beruhend  auf  falschen  Auffassungen 
über  die  Zusammensetzung  von  Bewegungen.  —  Sophistische  De- 
duktionen. —  Persönliche  Angriffe  gegen  Galilei.  —  Theologischer 
Teil  des  Werkes,  der  die  Dekrete,  den  Text  des  Urteils  und  der 
Abschwörungsformel  enthält.  — 

Wirkimg  auf  Großherzog  Ferdinand,  sowie  auf  Galileis  Schüler 
Viviani  und  auf  Montanari.  — 

Ricciolis  ,,Astronomia  reformata",  eine  kürzere  Besprechung 
der  copemicardschen  Lelire.  —  Einspruch  von  BoreUi  und  Stefano. 

—  BoreUis  Schrift  ,,Über  die  Kraft  des  Stoßes".  —  Stefanos  Schrift 
gegen  Riccioli.  —  Beide  sind  überzeugte,  aber  doch  zur  Unter- 
werfung entschlossene  Copernicaner.  —  Gegenschrift  Manfredis, 
weitere  Schriften.  —  Streit  Boreliis  und  Stefanos  über  die  Form 
der  krummlinigen  Bahn  eines  mit  der  Erde  rotierenden  und  zu- 
gleich freifallenden  Körpers.  —  Brief  BoreUis  an  Ricci;  eine  weitere 
Schrift  BoreUis.  — 

Gründe,  warum  sich  die  Academia  dei  Cimenti  nicht  mit 
der  Entscheidung  für  oder  wider  die  Erdbewegung  befaßt.  —  Verbot 
der  Inquisition  jeder  ehrenden  Erwähnung  des  ,, Häretikers"  Galilei. 

Gesamtausgabe  von  Galileis  Werken  durch  Manolessi  1655 — 56 
mit  Erlaubnis  der  Inquisition.  —  Abdruck  des  „Nuntius  sidereus", 
sowie  der  sonstigen  Schriften  nach  manchen  Schwierigkeiten  der 
Inquisitoren. 

Der  Briefwechsel  Vivianis  als  Quelle  für  die  SteUungnahme 
des  17.  Jahrhunderts  gegenüber  Galilei.  —  Tätigkeit  Vivianis  für 
Galileis  Familie,  für  die  Erhaltung  seiner  Schriften,  für  eine  Lebens- 
beschreibung. —  Unterstützung  durch  Leopold  von  Medici.  — 
Vivianis  Darstellung  des  Lebens  Galileis,  besonders  seines  Ver- 
haltens gegen  die  Kirche.  —  Grund,  warum  das  Werk  Vivianis 
nicht  gedruckt  wurde.  —  Plan  einer  neuen  Gesamtausgabe  von 
GaUleis  Schriften.  —  Verzögerung  trotz  Diodatis  Aufforderungen. 

—  Gründe  dafür,  das  Verbot  der  Indexkongregation.  —  Vergebliche 
Bemühungen  des  Kardinals  Leopold.  —  Beziehungen  Vivianis  zu 
Ludwig  XIV.  —  Beabsichtigte,  aber  nicht  gedruckte  Lebens- 
beschreibung   Gaüleis    für    Ludwig  XIV.    —    Cosimo  III.,    Groß- 


—       XXI       — 

Seite 
herzog  von  Toskana.  —  Übergewicht  der  kirchlichen  Bestrebungen. 

—  Plan  des  Druckes  der  nachgelassenen  Briefe  und  Schriften.  — 
Versuch,  durch  Baldigiani  eine  Aufhebung  des  Verbots  der  Dialoge 
erwirken  zu  lassen.  —  Ablehnende  Haltung  Baldigianis  und  Roms. 

—  Viviani  ehrt  Galilei  durch  eine  an  seinem  Hause  angebrachte 
Bronzebüste  und  Inschrift,  später  durch  Druck  dieser  Inschrift, 
deren  Druck  die  Florentiner  Inquisition  gestattet.  - —  Verleugnung 
des  Glaubens  an  die  Erdbewegung  in  dieser  Lobrede.  —  Wider- 
spruch zur  wahren  Denkweise  Vivianis.  —  Tod  Vivianis  1703.  — 
Testamentsbestinimungen  über  sein  und  Galileis  Grab.  —  Druck  von 
Galileis  Lebensbeschreibung  diirch  Salvini.  —  Anfang  einer  Periode 
der  Wiederbelebung  für  GaHleis  Andenken,  —  Vervollständigte  Aus- 
gabe seiner  Werke  in  Florenz.  —  Vergebliche  Bemühungen  von 
Leibniz   in   Rom  um  die  Aufhebung  des  Verbotes  der  „Dialoge". 

—  Mildere  Stimmung  gegen  Galileis  Person  in  Rom.  —  Übertragung 
der  Überreste  GaUleis  nach  dem  neuen  Mausoleum  in  Sa.  Croce  am 
12.  III.  1737.  —  Insclurift  am  Grabe.  —  Plan  einer  neuen  Gesamt- 
ausgabe der  Werke  in  Padua.  —  Bedingtes  Imprimatur  durch  die 
römischen  Konsultoren  unter  Benedikt  XIV.  —  ]VIitdruck  des  Urteils 
sowie  der  Schrift  des  P.  Calmet  über  die  Naturlehre  der  Bibel.  — 
Veränderung  gegenüber  der  früheren  Ausgabe.  —  Beschluß  der 
Indexkongregation  vom  Jahre  1757:  Aufhebung  des  Verbotes  aller 
das  copemicanische  System  lehrenden  Bücher  bLs  auf  einige  aus- 
drücklich genannte,  darunter  immer  noch  die  „Dialoge".  Lalandes 
Bemühungen  um  Aufhebung  des  Verbotes  auch  für  diese.  —  Mai- 
länder Ausgabe  vom  Jahre  1808. 

Vereinzelte  Äußerungen  italienischer  Gelehrter  für  die  neue 
Lehre.  —  Die  Dialoge  auch  1819  noch  verboten,  ebenso  ein  Lehi- 
buch  der  Optik  von  Settele,  in  dem  die  neue  Lehre  als  wissen- 
schaftliche Wahrheit  auftritt.  —  Promemoria  Setteles.  —  Endlicher 
Erfolg:  Druckgenehmigung  für  alle  das  copemicanische  System 
vertretenden  Schriften.  —  Nachträgliche  Rechtfertigungsversuche 
der  früheren  Verbote. 

Anhang  I.  SagenhafteErgänzungender  Jugendgeschichte  260 

Anhang  II.  Untersuchungen  über  das  Vatikanmanuskript 

der  beiden  Inquisitionsprozesse  Galileis 298 

A.  Ergebnisse   meiner  Untersuchungen  über  das  Protokoll 
vom  28.  Februar  1616 298 

B.  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  über  moderne   Fäl- 

schungen,   speziell    die    des    Examen    de    intentione    im 
Vatikanmanuskript  des  Galileisehen  Prozesses   ....   321 

C.  Die   Inhaltsübersicht   an    der  Spitz©   des  Vatikanmanu- 
akripts 337 


XXII        — 

Seite 

Aiiliaug  III.    Der  Betrug  des  Simon  Marius  von  Gunzen- 
hausen     343 

A.  Simon  Marius  und  die  Entdeckung  der  Jupiteratrabanten  343 

B.  Johannes  Kepler  über  den  Anspruch  des  Simon  Marius 
auf  die  Entdeckung  der  Jupiterstrabanten 377 

C.  Johannes  Kepler  über  Marius' Erforschung  der  Perioden 
der  Jupiterstrabanten 407 

D.  Simon  Marius'  Anteil  an  dem  Plagiat  des  Balthasar  Capra 
von  1607 416 

Register  zum  I.  und  II.  Band 427 


I 


Erstes  Kapitel. 

Unter  der  Herrschaft  des  Dekrets  von  1616. 


Man  hat  oftmals  ausgesprochen,  daß  die  Eingriffe  der  kirch- 
lichen Gewalt  in  die  Kechte  wissenschaftlicher  Forschung  für  den 
Entwicklungsgang  der  Wissenschaft  bedeutungslos  geblieben  sind. 
Diese  Behauptung  ist  in  dem  Sinne,  in  dem  ihr  unbestreitbare  Wahr- 
heit zukommt,  wenig  mehr  als  eine  Trivialität;  in  dem  Werden  der 
Wissenschaft  bricht  jeder  frühere  Gedanke  jedem  folgenden  die  Bahn, 
und  diese  Folge  der  Gedanken  ist  unwiderstehlich  wie  das  Gesetz 
der  Natur;  aber  für  ihren  Ablauf  zählen  die  Jahrhunderte  nicht, 
die  Grenzen  von  Staaten  und  Nationen  sind  ihr  nicht  vorhanden, 
die  einzelnen  Menschen  nicht  mehr  als  zufällige  Werkzeuge;  es  be- 
darf kaum  der  Erwähnung,  daß  der  willkürliche  Machtspruch  des 
gewaltigsten  Herrschers  wirkungslos  verhallen  muß,  wo  jede  Wirkimg 
^lenschücher  Verhältnisse  ausgeschlossen  bleibt. 

Sieht  man  aber  in  der  Geschichte  der  Erkenntnis  zugleich  einen 
wesentlichen  Teil  der  Lebensgeschichte  der  Menschheit  im  großen 
ganzen  wie  in  ihren  mannigfaltigen  Gliederungen,  so  wird  man  sich 
schwer  der  Betrachtung  entziehen  können,  daß  gerade  jene  äußeren 
Verhältnisse,  die  dem  Wesen  der  wissenschaftlichen  Tätigkeit  fremd 
sind,  dennoch  tausendfältig  hemmend  und  fördernd  ihren  Gang  be- 
stimmen; und  in  diesem  Sinne  ist  das  Machtwort  der  Kirche  wider 
die  copernicanische  Lehre  ein  zweifellos  bedeutungsvolles  gewesen. 
Allerdings  waren,  als  die  Kirche  ihr  Verdikt  gegen  Copernicus  erhob, 
die  Verhältnisse  einem  ernsten  Versuch,  die  neue  Lehre  zu  unter- 
drücken, w^nig  günstig. 

Mit  der  raschen  Fortentwicklung  einer  neuen  Naturwissenschaft 
hatte  in  gleichem  Maße  die  Gemeinsamkeit  der  Arbeit  und  des  An- 

W oh  1  will,  Galilei.    II.  1 


teils  zugenommen,  in  dem  für  die  Gelehrten  des  zivilisierten  Europas 
nationale  und  politische  Sonderungen  zu  verschwinden  schienen. 
Die  kirchliche  Spaltung  änderte  nichts  an  diesem  Verhältnis;  viel- 
mehr gewann  durch  sie  die  Erhaltung  und  Ausbildung  einer  unzerstör- 
baren Gemeinschaft  im  Bereich  der  Wissenschaft  erhöhte  Bedeutung; 
sie  bewährte  sich,  als  mit  dem  Dekret  von  1616  der  Versuch  unter- 
nommen -«-urde,  den  Anhängern  der  Kirche  ein  großes  Gebiet  der 
wissenschaftlichen  Forschung  zu  verschließen;  die  wissenschaftliche 
Astronomie  mußte  in  die  Länder  flüchten,  die  der  kirchlichen  Gewalt 
den  Gehorsam  versagten,  aber  aus  der  Forschung  der  Ketzer  ging 
darum  nicht  weniger  eine  Wissenschaft  für  alle  hervor.  Und  doch 
kann  der  Geschichte  der  Wissenschaft  ein  Beschluß  nicht  bedeutungs- 
los heißen,  der  das  Ungeheuere  vollbracht  hat,  die  Forscher  der 
katholischen  Länder  auf  ein  Jahrhundert  hinaus  von  der  gemein- 
samen Arbeit  an  den  großen  Problemen  der  Wissenschaft  auszu- 
schließen, der  vor  allem  in  seinen  Nach\virkungen  mit  dabei  beteiligt 
ist,  nach  raschem,  hoffnungsvollen  Aufschwung  die  italienische 
Wissenschaft  niederzuhalten. 

In  den  eigentlich  protestantischen  Ländern  hätte  damals  die 
römische  Herkunft  des  Dekrets  genügt,  um  jede  Anerkennung  seines 
Inhalts  auszuschließen.  Gab  doch  diese  römische  Herkunft  noch 
immer  den  ausreichenden  Grund,  um  der  Einführung  des  neuen 
Kalenders  zu  widerstreben.  Im  übrigen  wird  sich  schwer  behaupten 
lassen,  daß  es  bei  den  protestantischen  Fürsten  und  GeistHchen  be- 
wußte Duldsamkeit  war,  die  Verfolgungen  der  neuen  Lehre  unmöglich  ^ 
gemacht  hat.  WahrscheinKcher  ist,  daß  gleichgültiges  Geschehen- 
lassen der  Grund  war;  die  politischen  Verhältnisse,  die  dem  Ausbruch 
des  großen  Krieges  vorhergingen,  waren  der  Beachtung  solcher  Dinge 
wenig  förderlich.  Wie  aber  aufgeklärte  Denker  in  protestantischen 
Ländern  über  die  Entscheidung  der  römischen  Kirche  urteilten,  geht 
aus  der  Kritik  hervor,  die  der  hochbetagte  Tübinger  Mästlin  an  dem 
Dekret  übt.^ 

„Sollte  man  nicht  erwarten",  ruft  er  aus,  ,,daß  diese  Kardinäle, 
die  vom  heiligen  Stuhl  für  den  Index  der  Bücher  und  deren  Erlaubnis, 
Verbot,  Keinigung  und  Druck  in  der  gesamten  Christenheit  specialiter 
eingesetzt  sind,  die  nicht  nur  in  allen  Teilen  der  Theologie,  Juris- 


^  Jo.  Kepler!  Opera  ed.  Frisch,  Vol.  I  p.  56 f. 


prudenz  usw.,  sondern  auch  in  allem  Wissen  höchst  unterrichtete 
und  geehrte  Männer  sind,  denen  nichts  verborgen  ist,  ^Yas  irgendwie 
Bedeutsames  gelehrt,  geschrieben  und  öffentlich  verbreitet  \A'ird,  daß 
wenigstens  einige  unter  ihnen  in  der  Mathematik  und  Astronomie 
wohlbewandert  seien  ? ' ' 

Statt  dessen  gibt  das  Dekret  zum  ernstesten  Zweifel  Anlaß,  ob 
die  Kardinäle  der  Kongregation  die  Bücher  des  Copernicus  je  mit 
Augen  gesehen,  ja,  nur  wissen,  daß  und  wann  dieser  Copernicus  gelebt 
hat.  In  dem  Brief  eines  braven  Karmelitermönchs  entdecken  sie, 
daß  die  Meinung  des  Copernicus  sich  zu  verbreiten  beginnt,  und  dann 
verdammen  sie  ein  Werk  von  wahrhaft  übermenschlicher  Arbeit, 
das  zwar  in  der  Stille  von  manchen  verhöhnt  und  angebellt  ist  und 
mit  Argumenten,  die  der  Sache  fern  liegen,  —  kaum  kann  man  sagen 
—  angegriffen,  aber  von  niemand  mit  zutreffenden,  aus  der  Astro- 
nomie und  Mathematik  entnommenen,  das  Wesen  berührenden 
Gründen  bekämpft  ist. 

Mästlin  will  von  Foscarini  und  Didacus  a  Stunica  nicht  reden  — 
er  kennt  sie  nicht  —  aber  den  Copernicus  verbessern! 

Wer  soll  es  tun?  Etwa  Copernicus  selbst,  der  seit  mehr  als 
70  Jahren  nicht  mehr  unter  den  Lebenden  weilt?  Oder  ein  anderer 
in  seinem  ]N'amen?  Wer's  immer  sei,  der  ihm  sich  zu  widersetzen 
unternähme,  seine  Mühe  wird  vergeblich  sein,  so  stark  sind  die 
Grundlagen,  auf  denen  seine  Astronomie  beruht,  ja,  fester  und  stärker 
geschützt,  als  Copernicus  selbst  gewußt  hat,  sind  alle  Schutzwehren 
dieser  Feste  —  das  beweist  uns  Keplers  Werk.  So  kann  man  nicht 
mit  Unrecht  sagen,  daß  die  Verdammung  jener  Zensoren  und  das 
Urteil  Blinder  über  die  Farben  von  gleicher  Bedeutung  sind. 

In  ähnhcher  Weise  dachten  und  äußerten  sich  vermuthch  die 
protestantischen  Copernicaner  allerorten,  aber  es  ist  doch  schwerlich 
als  Zufall  zu  betrachten,  daß  wir  scharfe  Worte,  wie  diese,  eher  in 
Handschi'iften  als  in  gedruckten  Werken  finden.  Auch  die  Vorrede 
zum  Copernicus,  in  der  Mästlin  seinem  Ingi'imm  Luft  macht,  ist 
in  einem  Stuttgarter  Manuskript  gefunden.  Wer  so  schrieb,  mußte 
berechnen,  daß  er  der  Verbreitung  seines  Werkes  außerhalb  der  rein 
protestantischen  Länder  schwere  Hindernisse  bereitete;  in  einer  Zeit, 
die  den  Erfolgen  gelehrter  Arbeit  so  wenig  günstig  war,  wie  die 
Epoche  des  großen  deutschen  Krieges,  konnte  diese  Überlegung  auch 
Männer  von  entschiedenster  Gesinnung  beeinflussen. 


_     4     — 

In  höherem  Maße  beunruhigend  mußte  die  Kunde  von  dem 
römischen  Dekret  in  Gegenden  \drken,  wo  in  unsicherem,  durch 
Verfolgungen  unterbrochenem  Waffenstillstand  die  Konfessionen 
nebeneinander  lebten,  wie  dies  in  Österreich  der  Fall  war.  Wie 
weit  hier  die  Regierenden  in  der  Erklärung  der  Kongregation  ein 
bindendes  Gesetz  erkennen  würden,  hing  von  unberechenbaren 
Verhältnissen  ab.  Diese  Entscheidung  aber  war  für  einen  Kepler 
gleichbedeutend  mit  einer  Entscheidung  über  seine  bürgerliche 
Existenz. 

Kepler  hatte  ohne  Kenntnis  von  den  römischen  Vorgängen  im 
Jahre  1618  den  ersten  Teil  eines  Abrisses  der  copernicanischen 
Astronomie  veröffentlicht.  Das  Werk  wurde  in  Rom  unmittelbar 
nach  dem  Erscheinen  suspendiert;  Kepler  erfuhr  davon  erst,  als 
Galilei  durch  Vermittlung  seines  Gönners,  des  Erzherzogs  Leopold 
von  Österreich,  von  ihm  ein  Exemplar  der  suspendierten  Schrift 
erbat. ^  Ängstlich  schrieb  er  an  Johann  Remus^,  den  Leibarzt  und 
Mathematiker  des  Erzherzogs:  „Aufs  diingendste  bitte  ich  Dich, 
mir  eine  Abschrift  vom  Wortlaut  jener  Verurteilung  zukommen  zu 
lassen  und  mich  wissen  zu  lassen,  ob  diese  Verurteilung  dem  Ver- 
fasser, wenn  er  in  Itahen  angetroffen  würde,  zur  Gefahr  gereichen, 
und  ob  man  in  solchem  Fall  von  ihm  einen  Widerruf  verlangen  würde. 
Auch  liegt  mir  am  Herzen,  zu  erfahren,  ob  diese  Verurteilung  in 
Österreich  Geltung  haben  wird.  Denn  wäre  das  der  Fall,  so  würde 
ich  nicht  allein  in  Österreich  keinen  Drucker  mehr  finden,  sondern 
auch  die  Exemplare,  die  der  Verleger  auf  meinen  Wunsch  in  Österreich 
gelassen  hat,  würden  gefährdet  sein  und  endlich  der  Verlust  auf  mich 
selbst  fallen.  Ja,  man  wird  mir  zu  verstehen  geben,  daß  ich  auf  den 
Unterricht  in  der  Astronomie  verzichten  muß,  jetzt,  nachdem  ich  in 
dem  Vortrag  dieser  Lehre  beinahe  alt  geworden  bin,  ohne  irgend- 
welchen Widerspruch  zu  finden;  ich  werde  endKch  dem  Aufenthalt 
in  Österreich  entsagen  müssen,  wenn  auch  hier  kein  Raum  für  die 
Freiheit  der  Wissenschaft  übrig  ist." 

Die  Antwort^  lautete  beruhigend:  das  Werk  sei  nur  insofern 
verboten,  als  es  gegen  das  Dekret  vom  Jahre  1616  verstoße,  es  könne 


^  Jo.  Kepler!  Opera  ed.  Frisch,  Vol.  I  p.  195. 

2  a.  a.  O.  p.  195. 

3  Ed.  Naz.  XII  p.  481. 


—     5     — 

jedoch  vermutlich  wie  die  Bücher  des  Copernicus  mit  besonderer 
Erlaubnis  von  Gelehrten  und  Sachverständigen  in  Rom  und  ganz 
Italien  gelesen  werden.  Es  sei  daher  kein  Grund  zur  Besorgnis  weder 
in  Italien  noch  in  Österreich,  wenn  nur  Kepler  sich  in  seinen  Grenzen 
halte  und  seinen  Leidenschaften  gebiete. 

Die  Erlaubnis,  Werke  dieser  Art  zu  lesen,  wurde,  wie  Kepler 
später  erfuhr,  nur  in  Rom  erteilt,  und  man  knüpfte  sie  auch  für  seinen 
Abriß  der  copernicanischen  Astronomie  an  die  Bedingung  einer  vor- 
gängigen Korrektur,  durch  die  der  Annahme  der  Erdbewegung  der 
hypothetische  Charakter  gewahrt  wurde. 

Kepler  hielt  es  für  geraten,  durch  besondere  Vorsichtsmaßregeln 
ernsteren  Gefahren  vorzubeugen.  Diese  Vorsichtsmaßregeln  verraten 
allerdings  die  mangelnde  Übung,  Als  Kepler  im  Jahre  1619  seine 
„Harmonie  der  Welt"  veröffentlichte,  schickte  er  eine  Warnung  an 
die  auswärtigen,  namentlich  italienischen  Buchhändler  voraus.^  Er 
geht  darin  so  weit,  sich,  den  eifrigen  Protestanten,  für  einen  Sohn 
der  Kirche  auszugeben,  aber  er  fügte  hinzu,  was  ausreichte,  um  der 
Inquisition  diesen  Sohn  verdächtig  zu  machen:  der  katholischen 
Lehre,  soviel  ich  bis  jetzt  von  ihr  habe  begreifen  können,  bin  ich 
nicht  nur  durch  Gesinnung  ergeben,  ich  billige  sie  auch  mit  dem  Ver- 
stände, und  ich  habe  dies  an  mehr  als  einer  Stelle  dieses  Werkes 
bewiesen. 

Dann  spricht  er  von  dem  Dekret,  das,  wie  man  ihm  gesagt  hat, 
durch  das  Ungestüm  von  solchen  hervorgerufen  ist,  die  ihre  astro- 
nomische Lehre  am  ungeeigneten  Platze  und  in  unangemessener 
Weise  vorgetragen  haben.  Hochangesehene  Männer  sagen  freilich, 
daß  das  Urteil  der  Kirche  die  Freiheit  der  Erörterung,  soweit  sie  sich 
auf  natürliche  Dinge  beschränkt,  nicht  hindern  wolle.  Aber  wie  dem 
sei  —  Kepler  bekennt  sich  schuldig,  daß  er  durch  allzulange  Ver- 
zögerung seiner  Werke  die  Wissenschaft  ohne  Verteidigung  gelassen 
habe.  „Denn  w^ahrlich,  täuscht  mich  nicht  alles,  so  müssen,  wenn  sie 
dies  Werk  der  Weltharmonie  lesen,  die  gelehrtesten  Italiener  und 
Philosophen  und  die  frömmsten  Theologen  anerkennen,  daß  die 
Majestät  und  Erhabenheit  dieser  harmonischen  Anordnung  der  gött- 
lichen Werke  so  groß  sei,  daß  Copernicus  vor  der  Veröffentlichung 
dieses  Buches  nicht  hinreichend  gehört  werden  konnte.    Es  erbittet 


Jo.  Kepler!  Opera  ed.  Frisch,  Vol.  V  p.  8. 


—     6     — 

daher  die  Philosophie,  es  erbittet  Copernicus  die  Wohltat  einer 
restitutio  in  integrum  von  dem  Fürsten,  unbeschadet  der  Ehre  der 
Richter;  denn  sie  werden  ein  neues  Urteil  auf  Grund  neuer  Zeugnisse 
zu  fällen  haben,  die  bis  zum  heutigen  Tage  durch  die  Nachlässigkeit 
seiner  Sachwalter  unbekannt  geblieben  waren." 

An  die  Buchhändler  richtet  Kepler  die  Aufforderung,  dem  Urteil 
gehorchend,  sein  Buch  nicht  für  jedermann  feil  zu  halten,  sondern 
die  Exemplare  nur  den  höchsten  Theologen,  den  angesehensten  Philo- 
sophen, den  geübtesten  Mathematikern,  den  tiefsten  Metaphysiken! 
zu  verkaufen,  zu  denen  ihm  als  dem  Sachwalter  des  Copernicus  auf 
keinem  anderen  Wege  der  Zugang  freistehe,  um  ihnen  die  Mttel 
der  Entscheidung  zur  Verfügung  zu  stellen. 

Die  eigentliche  Bedeutung  hatte  das  Dekret  für  die  Katholiken 
und  in  den  rein  katholischen  Ländern.  Bis  dahin  hatte  die  copemi- 
canische  Lehre  Verteidiger  wie  Gegner  gleichermaßen  unter  den 
Angehörigen  der  Kirche,  \\ie  unter  den  Bekennern  des  neuen  Glaubens 
gefunden.  Dies  Verhältnis  änderte  sich  rasch,  nachdem  die  Kirche 
gesprochen  hatte.  Von  einem  Widerspruch  im  Kamen  der  Wissen- 
schaft hat  die  Geschichte  nicht  berichtet.  Die  Copernicaner  ver- 
stummten, die  Gegner  traten  um  so  lärmender  auf;  unter  ihren 
Gründen  hatte  immer  der  Widerspruch  der  heiligen  Schrift  in  be- 
sonderem Ansehen  gestanden;  durch  die  Erklärung  der  Kii-che 
wurde  diesem  religiösen  Argument  ausdi'ücklich  der  Rang  über 
aller  Wissenschaft  zuerkannt;  den  ferneren  Gegnern  des  Copernicus 
blieb  nur  die  Aufgabe,  mit  mathematischen  und  philosophischen 
Beweisen  darzutun,  daß  die  niedere  Weise  des  menschlichen  Er- 
kennens  zu  keinem  anderen  Ergebnis  führe  als  die  heilige  Einsicht 
der  römischen  Theologen.  So  erschienen  Schriften  gegen  Copernicus, 
die  iliren  Inhalt  schon  auf  dem  Titel  als  Verteidigungen  des  römischen 
Dekrets  verkündeten. 

Aber  auch  die  rein  peripatetischen  Kämpfer  traten  unter  dem 
Schutze  des  Dekrets  zahlreicher  und  zuversichtlicher  auf;  in  Frank- 
reich und  Belgien,  wie  in  Italien  mehrte  sich  von  Jahr  zu  Jahr 
diese  eintönig,  geistlos  disputierende  Literatur,  unter  deren  er- 
müdend breiten  Erörterungen  hier  und  dort  ein  kräftiges  Schmäh- 
wort, wie  der  Wunsch,  die  Peitsche  statt  der  Argumente  gegen 
die  Copernicaner  handhaben  zu  dürfen,  den  Leser  eine  Erholung 
dünkt. 


Von  dem  protestantischen  Holland  aus  empfingen  die  Froidmont 
und  Morin^  die  Antwort  und  Abfertigung,  die  ihnen  ihre  coperai- 
canisch  gesinnten  Landsleute  nicht  zu  erteilen  wagten. 

Daß  es  nach  wie  vor  aufrichtig  copernicanisch  Gesinnte  auch 
unter  den  katholischen  Denkern  gab,  wird  des  Beweises  nicht  bedürfen, 
weniger  leicht  als  die  laute  Äußerung  war  die  ernst  begründete  Über- 
zeugung zu  unterdrücken.  Der  gelehrte  Briefwechsel  jenes  Zeitalters 
läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  man  im  vertraulichen  Verkehr  die 
Grenzen,  die  das  Dekret  gezogen,  nicht  allzu  ängstlich  achtete.  Aber 
nach  außen  war  Vorsicht  geboten.  Es  war  dabei  im  Ergebnis  gleich, 
ob  der  ernste  Wunsch,  der  Kirche  zu  gehorchen,  ob  nur  die  Abneigung 
gegen  den  Konflikt  zur  Unterwerfung  führte  —  wer  nicht  in  offener 
Auflehnung  gegen  die  Kirche  streiten  wollte,  mußte  der  Verteidigung 
des  Copernicus  entsagen. 

Es  blieb  dann  nicht  aus,  daß  manche  im  Gehorsam  weiter  gingen, 
als  die  Not  erforderte;  da  man  sich  gewöhnen  mußte,  zu  scheinen, 
so  kam  es  bald  nicht  mehr  darauf  an,  wie  weit  der  Schein  sich  von  der 
Wirklichkeit  entfernte ;  man  begann  damit,  von  Copernicus  zu  schweigen 
und  fand  es  nach  einiger  Zeit  nicht  unangemessen,  die  Lehre,  zu  der 
man  sich  im  Herzen  nach  wie  vor  bekannte,  ausdrücklich  zu  ver- 
leugnen. 

Derartige  Folgen  des  gewalttätigen  Eingreifens  in  ein  Gebiet, 
das  sich  der  Gewalt  entzieht,  mußten  in  gesteigertem  Maße,  in  reichster 
Mannigfaltigkeit  sich  in  Italien  ver^\irklichen,  besonders  in  den 
Staaten,  die  unmittelbar  der  Kirche  gehorchten  oder  doch,  wie  Toskana 
und  Neapel,  fast  ohne  Widerstreben  eine  geistliche  Nebenregierung 
duldeten.  Hier  war  es  nicht  eine  mögliche,  fernher  drohende  Gefahr, 
die  den  unabhängigen  Denker  in  Schranken  hielt:  überall  gegen- 
wärtig, überall  tätig  und  zum  Handeln  bereit,  umlauerte  ihn  die 
Liquisition.  Unter  den  Eindrücken  ihres  geheinmisvoUen  und  doch 
allerorten  fühlbaren  Wirkens  gestaltete  sich  die  Weise  seiner  Empfin- 
dungen, seiner  Vorstellungen,  und  es  war  dafür  gesorgt,  daß  immer 
von  neuem  die  Erfahrungen  der  jüngsten  Tage  die  verblassenden 


^  Vergl.  Ed.  Naz.  unter  Morin  XX  p.  262  und  XVII  p.  341.  Seine 
Schrift  Famosi  et  antiqui  problematis  de  telluris  motu  vel  quiete  hactenus 
optata  solutio,  Ed.  Xaz.  VII  p.  547—561.  Die  Gegenschrift  Landsbergs 
s.  Bibl.  Galüeiana  119  u.  289.  Über  Liberto  Froidmont  Nr.  77,  124, 
140,  247. 


Erinnerungen  belebten,  um  dieser  Herrschaft  über  die  Gemüter 
Dauer  zu  verleihen. 

Kaum  war  im  März  1616  das  Dekret  gegen  den  Copernicus  ver- 
öffentHcht,  als  in  Neapel  Lazzaro  Scorrigio,  der  Drucker  der  ver- 
botenen Schrift  des  Foscarini,  ins  Gefängnis  geworfen  wurde,  weil 
er  dem  Kardinal  Caraffa  auf  seine  Forderung  die  Erlaubnis  zum 
Druck  nicht  aufzuweisen  vermochte.  „Es  wird  ihm  der  Prozeß  ge- 
macht", berichtete  der  Kardinal  dem  Kardinalinquisitor  in  Kom. 
„Das  heißt  wohlgetan",  lautete  die  Antwort  aus  dem  Palast  des 
heiligen  Offiziums.^ 

Vorgänge  wie  diese,  Erinnerungen  an  zahlreiche  ähnliche  Akte 
einer  uneingeschränkten  Gewalt  gaben  dem  Dekret  der  Index- 
kongregation in  ihrem  Machtbereich  eine  ergänzende  Deutung.  Was 
sein  Wortlaut  unbestimmt  und  zweifelhaft  gelassen  hatte,  war  einfach 
genug  durch  die  Erkenntnis  erläutert,  daß  eine  unberechenbare 
Gewalt  die  Ausführung  überwachte. 

So  begegnete  das  Dekret  in  Italien  bei  Laien  wie  Priestern, 
bei  den  frohlockenden  Jüngern  des  Aristoteles  \\ie  bei  den  tief  ge- 
demütigten Anhängern  der  neuen  Lehre  dem  gleichen,  willenlosen 
Gehorsam. 


1  Ed.  Naz.  XIX  p.  279. 


Zweites  Kapitel. 

Der  Streit  mit  Horatio  Grassi. 


Im  Herbst  des  Jahres  1618  erschienen  in  kurzen  Zwischenräumen 
nacheinander  drei  Kometen,  die  beiden  ersten  von  geringer  Licht- 
stärke und  kurzer  Dauer,  von  wenigen  und  nur  von  Sternenkundigen 
beobachtet,  der  dritte  eines  jener  großartigen  Phänomene,  die  für 
eine  Zeit  lang  aller  Augen  zum  nächthchen  Himmel  emporziehen,  die 
Gemüter  der  Menge  mit  bangen  Ahnungen  und  Sorgen  erfüllend,  die 
Denkenden  zur  Betrachtung  anregend,  allen  ein  unwiderstehlich 
fesselnder  Anblick. 

Es  war  derselbe  Komet,  der  in  Deutschland  wenige  Monate  nach 
dem  Ausbruch  des  Krieges  in  Böhmen  namenlose  Verwirrung  dem 
ganzen  Reiche  vorzudeuten  schien,  der  zugleich  mehr  als  je  zuvor 
die  Astronomen  allerorten  zu  messender  Beobachtung,  zu  besserer 
Ergründung  der  Bahn  und  der  verborgenen  Natur  der  fremdartigen 
Himmelswandercr  aufrief;  es  war  derselbe  Komet,  dessen  gewaltige 
Erscheinung  auch  für  GaUlei  zum  Ausgangspunkt  für  neuen  Kampf 
und  damit  für  neue  verhängnisvolle  Feindschaft  wurde. 

Wer  in  jenen  Tagen  als  Phüosoph  im  allgemeinen  oder  als  Himmels- 
kimdiger  im  besonderen  im  Ruf  stand,  dem  Grund  und  Wesen  der 
rätselhaften  Erscheinung  näher  zu  stehen,  konnte  sicherlich  dem 
Andringen  der  Wißbegierigen  nicht  entgehen,  er  mußte  schreiben 
oder  reden,  um  der  Schar  der  Fragenden  zu  genügen.  Eine  überaus 
reichliche  Literatur  über  den  Kometen  von  1618  gibt  von  der  leb- 
haften Teilnahme  in  den  Kreisen  der  Laien  nicht  minder,  als  von  der 
erhöhten  Tätigkeit  unter  den  Fachgelehrten  Kunde.  Daß  bei  diesen 
gelehrten  Erörterungen  der  Gegensatz  der  neuen  Wissenschaft  und 
der  herrschenden  Gelehrsamkeit  der  Schule  sich  in  vollem  Maße 
geltend  machte,  lag  in  der  Natur  der  Sache. 


—     10     — 

Nach  der  Ansicht  des  Ai-istoteles  gehörte  jder  Komet  als  Meteor 
der  irdischen  Atmosphäre  an.  Dichtere  Dünste  der  Erde  sollten  zu- 
weilen bis  zu  jener  Sphäre  des  Feuers  aufsteigen,  die  nach  Aristoteles 
den  Kreis  der  Luft  umschließt,  und  sollten  dort,  wo  die  ruhende  ele- 
mentare Region  von  dem  Umlauf  der  himmlischen  berührt  wird, 
von  dieser  Bewegung  ,,der  Welt  um  die  Erde"  ergriffen  —  und  so, 
nach  der  alten  Vorstellung  über  die  Entstehung  der  Wärme,  zur  Ent- 
zündung gebracht  werden.  Die  Erklärung  entsprach  der  strengen 
Scheidung,  durch  die  der  griechische  Philosoph  das  Reich  des  Hinmiels 
dem  Wechsel  und  der  Veränderlichkeit  entzog;  was,  wie  der  Komet, 
urplötzlich  erschien,  in  der  Kürze  zu  erstaunlicher  Helle  und  Größe 
anwuchs,  um  dann,  wie  es  gekommen,  zu  versch-s^inden,  gehörte 
seinem  Wesen  nach  dem  Kreis  der  Elemente,  d.  h.  dem  L'dischen  an. 

Mit  der  Lehre  von  der  Unwandelbarkeit  der  himmlischen  Region 
war  Aristoteles'  Kometenlehre  für  den  Gedankenkreis  seiner  Anhänger 
eine  unantastbare  Wahrheit  geblieben,  nach  seinem  Vorgang  und 
mit  seinen  Worten  widerlegte  man  leicht  genug  die  tieferblickenden 
Pythagoräer,  denen  die  Kometen  den  Planeten  vergleichbar  schienen. 

Der  Erste,  der  in  neuerer  Zeit  mit  Sicherheit  die  Kometen  über 
den  Kreis  des  Mondes  hinaus  in  den  Himmel  erhob,  war  Ty  cho  Brahe. 
Durch  die  Vergleichung  seiner  Beobachtungen  mit  denen  der  be- 
deutendsten deutschen  Forscher  hatte  er  zunächst  für  den  Kometen 
von  1577  die  Unmöglichkeit  erkannt,  ihm  einen  Ort  unter  dem 
Monde  anzuweisen.  Die  gleichzeitig  an  getrennten  Orten  verzeichneten 
Angaben  über  die  scheinbare  Stellung  des  Kometen  unter  den  Fix- 
sternen zeigten  ihm  geringere  Unterschiede  und  demnach  einen 
geringeren  Einfluß  der  irdischen  Abstände,  astronomisch  geredet: 
eine  kleinere  Parallaxe,  als  sie  dem  Monde  zukam;  da  aber  der 
Einfluß  des  Beobachtungsstandpunktes  für  den  entfernteren  Körper 
in  geringerem  Maße  merklich  wird,  so  war  erwiesen,  daß  der  Komet 
die  obere  Grenze  der  elementaren  Region  beträchtlich  überschritten 
hatte.  Hatte  man  es  dabei,  wie  wenige  bezweifelten,  mit  einem  jüngst 
entstandenen  und  bald  wieder  in  Dunst  zerflossenen  Lichtkörper  zu 
tun,  so  war  zugleich  gezeigt,  daß  auch  der  Himmel  über  dem  Mond 
der  Wandelbarkeit  der  Erdenwelt  unterworfen  sei,  und  ebensowenig 
ließen  sich  fortan  die  kristallenen  Sphären  als  Träger  der  Himmels- 
körper verteidigen;  denn  der  Komet  hatte  ihi'e  Regionen  dem  An- 
scheine nach  ohne  Widerstand  durchbrochen.    Tycho  Brahes  Ent- 


—    11    — 

deckung  ^^al•  somit  bt'deutungsvoll  für  die  Erschütterung  wichtiger 
aristotelischer  Sätze,  sie  war  zugleich  epochemachend  als  ein  erster 
Schritt  zur  wissenschaftlichen  Kometenlehre:  aus  feurigen  Luft- 
erscheinungen waren  die  Kometen  zu  Himmelserscheinungen  ge- 
worden; auch  jetzt  noch  nicht  zu  Himmelskörpern  im  eigentlichen 
Sinne,  Allerdings  hatte  Tycho  Brahe  im  Sinne  der  Alten  folgerichtig 
den  Kometen  auch  die  Bahn  der  Himmelskörper,  eine  Ki-eislinie, 
zugeteilt,  aber  die  Astronomen  fanden  es  schwer,  ihm  auch  darin 
zu  folgen.  So  hatte  im  Jahre  1607  Kepler  einen  Versuch  unter- 
nommen, der  Beobachtung  des  damaligen  Kometen  weitere  Auf- 
schlüsse abzugewinnen.  Abweichend  von  Tycho  schloß  er  aus  seinen 
Beobachtungen,  daß  die  Bahn  eine  gerade  Linie  sei.  Kepler  ver- 
leugnete darum  die  hinmilische  Abkunft  des  Kometen  nicht,  aber 
die  gerade  Linie,  in  der  er  ihn  kommen  und  verschwinden  sah,  be- 
zeichnete ihm  zugleich  seine  vergängliche  IN'atur.  Kepler  dachte  sich 
die  Kometen  durch  zeitweilige  Verdichtungen  des  himmlischen  Äthers 
entstanden,  und  er  meinte,  daß  der  weite  Himmelsraum  so  voll  von 
diesen  Bildungen  sei,  wie  der  Ozean  von  Fischen. 

So  lag  ein  reiches  Material  an  alten  und  neuen  Vorstellungen  der 
Erörterung  der  Gelehrten  vor,  als  der  Komet  vom  Jahre  1618  erschien. 
Vor  allem  galt  es,  für  oder  ^^ider  Tycho  Brahe  Partei  zu  ergreifen, 
die  Lehre  von  dem  himmlischen  Ort  der  Kometen  durch  neue  Beob- 
achtungen oder  neue  logische  Deduktionen  zu  widerlegen  oder  zu 
bestätigen.  Als  ein  neues  Hilfsmittel  im  Streit  bot  sich  das  Fernrohr 
dar.  Der  Komet  von  1618  war  der  erste,  der  seit  der  Erfindung  des 
Fernrohrs  erschien.  Zu  lebhafteren  Diskussionen  kam  es  namentlich 
in  Italien.  Öffentlich  traten  sich  die  feindlichen  Parteien  in  Padua 
gegenüber.  Der  Komet  stand  noch  am  Himmel,  als  der  Dominikaner 
Pater  Bovio^  als  Professor  der  Metaphysik  vor  einem  großen  Zu- 
hörerla-eis  eine  Reihe  von  Vorlesungen  hielt,  in  denen  die  Ansichten 
des  Aristoteles  nach  alter  Weise  vertreten  wurden.  Gleich  darauf 
versammelte  sich  die  gesamte  Universität  im  Kollegiensaal  der  Philo- 
sophen und  Mediziner  um  Camillo  Gloriosi^,  dem  ]S'achf olger  Galileis 
in  der  mathematischen  Professur.  Gloriosi  vertrat  die  Ansichten  der 
neueren  Astronomen,  er  las,  wie  man  Galilei  berichtete,  zur  allgemeinen 


1  Vergl.  Ed.  Naz.  XIII  p.  16. 

2  Yergl.  Ed.  Naz.  III  p.  16  u.  170/71. 


—     12     — 

Zufriedenheit  aller  Kundigen,  wenngleich  zu  einigem  Abscheu  jener 
Gelehrten  und  Studierenden,  die  nicht  die  Beobachtungen  der  neueren 
Astronomen  als  Wahrheit  anerkannten.  Als  Dritter  ließ  sich  For- 
tunio  Liceti  vernehmen.  Auch  Liceti  war  dem  Aristoteles  ergeben, 
aber  abweichend  von  seinem  Kollegen  fand  er  in  den  Schriften  des 
Meisters  die  Entdeckungen  der  jüngeren  Forscher  wieder,  so  hatte 
nach  seiner  gelehrten  Auslegung  schon  Aristoteles  die  sublunaren 
von  den  himmlischen  Kometen  geschieden  und  die  letzteren  für  die 
zahlreicheren  erklärt.  Diese  Ansicht  setzte  er  in  einer  umfangreichen 
Schrift  auseinander.  Zur  Erwiderung  veröffentlichte  Gloriosi^  seine 
Vorlesungen.  Es  lag  nicht  in  der  Art  der  Peripatetiker,  eine  Antwort 
schuldig  zu  bleiben,  und  es  pflegte  in  solchen  Fällen  die  Unhöflichkeit 
mit  der  Zahl  der  Erwiderungen  zu  wachsen.  So  erfahren  wir  nach- 
träglich in  Licetis  Antwort  schon  auf  dem  Titelblatt'^  daß  der 
Mathematiker  von  Padua  bei  Gelegenheit  jener  Vorträge  von  seinen 
Zuhörern  ausgezischt  sei  und  daß  dabei  die  studierende  Jugend  die 
Steine  nicht  gespart  hätte. 

Auch  die  Gelehrten  des  Collegium  Romanum  hielten  es  für  der 
Mühe  wert,  ihre  Ansicht  über  den  Kometen  öffentlich  zur  Sprache 
zu  bringen.  Die  gelehrten  Jesuiten  nahmen  in  dem  Streit  eine  ver- 
mittelnde Stellung  ein;  es  war  zwar  von  dem  Ordensgeneral  seit 
längerer  Zeit  die  Weisung  erteilt,  den  Aristoteles  zu  vertreten,  wo  es 
irgend  tunlich  sei;  aber  wenn  irgendwo,  lag  hier  für  den  mathematisch 
Gebildeten  der  Fall  vor,  der  Verteidigung  unhaltbarer  Sätze  zu  ent- 
sagen. In  der  Tat  machte  der  Redner  des  Collegium  Romanum -keinen 
Versuch,  sich  Tycho  Brahes  Folgerungen  zu  entziehen.  Es  war  der 
P.  Horatio  Grassi^,  der  vor  den  versammelten  Vätern  im  wesent- 
lichen nach  Tychos  Lehre  über  den  Ort,  die  Bahn  und  das  Wesen 
des  Kometen  disputierte. 

Grassi  sprach  gegen  die  irdische  Abkunft  der  Kometen,  aber 
dieser  Verstoß  gegen  die  Überlieferung  der  Schule  wurde  reichlich 
durch  die  scholastische  Form  und  Methode,  durch  die  schulgerechte 
Denkweise  in  allen  Einzelheiten  seiner  Beweisführung  ausgeglichen. 
Schon  die  Frage  nach  dem  Ort,  wie  er  sie  faßt,  setzt  den  aristotelischen 
Gegensatz  von  Himmel  und  Erde  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  als 

^  Vergl.  Bibliogr.  Galileiana  Nr.  117. 
-  Bibl.   Galileiana  Nr.  179. 
=5  Ed.  Naz.  VI  p.  21-35. 


—     13     — 

festgestellt  voraus;  wer  in  dem  Sinne  dieser  Sonderling  den  Kometen 
als  Himmelsangehörigen  betrachtete,  hatte  auch  seine  hinmilische 
Natur  in  der  Weise  seiner  Erscheinung,  in  seiner  Bewegung,  als  völlig 
verschieden  von  allem  Irdischen  nachzuweisen.  Dieser  Aufgabe  war 
Grassi  sich  durchaus  bewußt;  Schwierigkeiten,  wie  sie  einen  Kepler 
zur  Annahm.e  einer  geradlinigen  Kometenbewegung  geführt  hatten, 
waren  für  ihn  nicht  vorhanden.  Es  genügte  ihm,  daß  der  Komet 
sich  in  einem  größten  Kreise  zu  bewegen  schien,  um  seine  Bahn 
als  Kreisbahn  anzusehen. 

Daß  auch  der  Komet  von  1618  „über  den  Mond"  zu  setzen  sei, 
wurde  wiederum  aus  der  Kleinheit  seiner  Parallaxe,  der  geringen  Ab- 
weichung der  Stellung,  in  der  ihn  Beobachter  verschiedener  Orte 
unter  den  Fixsternen  sahen,  geschlossen.  An  den  verschiedensten 
Orten  hatten  Jesuiten  beobachtet;  in  der  Verbreitung  der  Ordens- 
brüder war  ein  wesentliches  Hilfsmittel  für  derartige  vergleichende 
Beobachtungen  gegeben;  aber  freilich  konnte  die  Organisation  nicht 
gegen  die  Unzuverlässigkeit  der  Instrumente  schützen.  In  der  Tat 
ergab  die  Vergleichung  der  Ortsbestimmungen  in  Rom  und  Antwerpen 
mit  voUer  Sicherheit,  daß  der  Komet  nicht  der  Luft  angehören  könne, 
„und  wenn  man  ihre  Höhe  selbst  auf  hundert  Meilen  annähme"^; 
aber  der  Ort  über  dem  Mond  war  durch  diese  Bestimmungen  nicht 
zu  erweisen;  waren  sie  richtig,  so  hätte  der  Komet  bald  über,  bald 
unter  dem  Mond  gestanden.  Grassi  übersah  die  Schwierigkeit  nicht, 
aber  in  solchen  Fällen  half  die  gewohnte  Kunst  des  Argumentierens. 
Hätte  der  Komet  unter  dem  Mond  gestanden,  so  müßte  man  jedenfalls 
um  der  Kleinheit  der  Parallaxe  ^^^llen  annehmen,  daß  er  von  der 
Sphäre  des  Mondes  nur  wenig  entfernt  gewesen  wäre.  Geht  man 
von  dieser  Voraussetzung  aus,  so  läßt  sich  aus  der  scheinbaren  Größe 
des  Kometen  die  wirkliche  berechnen ;  man  fände  nach  der  damaligen 
Berechnung  des  Abstandes  zwischen  Mond  und  Erde  und  einer  will- 
kürlichen Annahme  über  die  Gestalt  des  Kometen  den  ungeheuren 
Kubikinhalt  von  über  490  i^Iillionen  ital.  Kubikmeilen,  „Stand  aber 
der  Komet  unter  dem  Monde,  so  mußte  er  durch  Verbrennung  irdischer 
Dünste  entstehen.  Aber  woher  hätte  die  Erde  für  diesen  unermeß- 
lichen Feuerbrand  die  nötige  Nahrung  nehmen  sollen?  Es  wird  also 
der  Komet  nicht  unter  den  Mond  zu  stellen  sein,"^ 

1  Ed.  Naz.  VI  p.  29. 

2  Ed.  Naz.  VI  p.  32. 


—     14     — 

Das  Beispiel  charakterisiert  das  Ganze,  Es  war  die  übliche 
Methode,  zum  vorausbestimmteii  Schlüsse  zu  gelangen,  die  Horatio 
Grassi  —  zufälligerweise  —  zur  Begründung  einer  richtigen  Behauptung 
verwandte. 

In  Rom  hielt  man  es  für  angemessen,  den  Ansichten  und  Be- 
weisen des  Paters  weitere  Verbreitung  zu  geben  —  die  Rede  wurde 
gedruckt.  Der  Name  des  Collegium  Romanum  auf  dem  Titelblatt 
genügte,  ihr  eine  Bedeutung  zu  verleihen,  die  man  dem  Inhalt  nicht 
beimessen  konnte.  Eine  Schrift,  die  mit  der  Autorität  einer  der  an- 
gesehensten gelehrten  Körperschaften  ausgestattet,  in  die  Schranken 
trat,  durfte  auch  da  nicht  unbeachtet  bleiben,  wo  ein  Blick  genügte, 
über  den  geringen  Wert  ihrer  Deduktionen  Aufschluß  zu  geben;  um 
dieser  Autorität  willen  erschien  sie  auch  Galilei  einer  eingehenden 
Widerlegung  wert.^  Vielleicht  lag  eine  besondere  Veranlassung  für 
ihn  in  der  eigentümlichen  Stellung,  die  unter  Grassis  Beweisen  die 
verständnislose  Anwendung  des  Fernrohrs  einnahm.  Übereinstimmend 
hatten  die  Ordensbrüder  berichtet,  daß  das  Fernrohr  den  Kometen 
imr  schwach  vergrößert  erscheinen  lasse.  Grassi  erkennt  mit  Nach- 
druck den  Unkundigen  gegenüber,  die  noch  jetzt  von  täuschenden 
Gläsern  reden  möchten,  den  Wert  der  großen  Erfindung  an,  aber 
er  verwertet  sie  nach  seinem  Sinn:  die  geringe  Vergrößerung  beweist 
ihm  den  himmlischen  Ort  des  Kometen,  denn  der  Mond  wird  stark, 
die  Fixsterne  werden  kaum_  vergrößert;  kühn  spricht  er  es  aus:  je 
ferner  der  Himmelskörper,  um  so  geringer  die  Vergrößerung.  Eii:e 
solche  Verwirrung  war  ganz  geeignet,  Galilei  in  die  Schranken  zu 
rufen. 

Es  fehlte  ihm  auch  sonst  nicht  an  diingenden  Aufforderungen, 
sich  an  dem  Streit  über  die  Kometen  zu  beteiligen.  Von  allen  Seiten, 
Freunden  und  Fremden,  waren  ihm  die  Zuschriften  gekommen,  die 
sein  Urteil  über  die  außerordentliche  Erscheinung  erbaten.  Auch 
außerhalb  Italiens  rechnete  man  auf  ihn.  So  verlautete  aus  Frankreich, 
es  sei  die  Meinung  der  französischen  Mathematiker,  kein  anderer  als 
Galilei  könne  über  die  Kometen  schreiben.  Galilei  sah  sich  zu  jener 
Zeit  außerstande,  den  Fragenden  zu  antworten^,  ein  ungewöhnlich 
heftiger  AnfaU  seines  alten  Leidens  hielt  ihn  ans  Lager  gefesselt;  er 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  37  „Discorso  delle  comete". 

-  Vergl.  Ed.  Naz.  XII  p.  421,  422,  435,  438,  439,  443,  461,  471. 


—     15     — 

mußte  selbst  darauf  verzichteu,  zu  sehen  und  beobachtend  zu  ver- 
folgen, was  die  langen  Winternächte  hindurch  alle  AVelt  in  Bewegung 
hielt;  aber  im  kleineren  Kreis  der  Florentiner  Freunde  teilte  er  seine 
Anschauungen  mit;  um  sie  auch  weiterhin  zur  Geltung  zu  bringen, 
veranlaßte  er  seinen  Schüler,  Mario  Guidu  cci ,  als  Konsul  der  Floren- 
tiner Akademie,  den  Inhalt  ihrer  Unterredungen  in  einem  akademischen 
Vortrag  wiederzugeben.  Galilei  erhebt  nicht  den  Anspruch,  das  Wesen 
und  den  Ursprung  der  Kometen  ergründet  zu  haben ;  er  will  Gedanken 
und  Betrachtungsweisen  zur  Sprache  bringen,  die  ihm  nicht  Wahrheit, 
aber  der  Prüfung  wert  erscheinen,  die  man  widerlegt  haben  muß,  wenn 
irgendeine  andere  Ansicht  als  erwiesen  gelten  soll.  Der  Beweis  Tycho 
Brahes,  der  aus  der  Kleinheit  der  Parallaxe  auf  die  Entfernung 
schheßt,  scheint  ihm  an  einer  Voraussetzung  zu  leiden,  die  man  mit 
Unrecht  als  selbstverständlich  betrachtet.  Der  Beweis  besteht  in 
voller  Kraft,  wenn  der  Komet,  so  wie  er  scheint,  reale  Existenz  hat; 
er  ist  entscheidend  gegen  den,  der  ihn  als  brennenden  Körper  betrachtet, 
also  gegen  die  Ansicht  des  Aristoteles;  aber  der  Schluß  auf  die  Ent- 
fernung ist  unberechtigt  und  unanwendbar,  wenn  der  Komet  nur  eine 
Erscheinung  wäre,  die,  wie  der  Regenbogen  und  die  Höfe  um  Sonne 
und  Mond  für  jeden  Beobachter  andere  sind  und  doch  von  allen  in 
gleichen  oder  annähernd  gleichen  Abständen  von  Sonne  und  Mond 
gesehen  werden,  also  keine  oder  nur  eine  geringe  Parallaxe  haben. 
Daß  der  Komet  zur  Klasse  dieser  Erscheinungen  zähle,  soll  nicht  als 
gewiß  behauptet  werden,  aber  die  Annahme  würde  nicht  weniger 
glaublich  sein  als  alles,  was  man  von  anderer  Seite  vorgebracht. 
Eine  geschlossene  Bahn  der  Kometen  anzunehmen,  scheint  ihm  absurd, 
aus  der  scheinbaren  Bewegung  im  größten  Kreis  ist  nichts  der  Art 
zu  entnehmen,  auch  der  geradlinig  aufsteigende  Körper  würde  solchen 
Schein  gewähren,  der  Versuch,  eine  solche  geschlossene  Bahn  zu 
konstruieren,  würde  zu  Ungeheuerlichkeiten  der  Exzentrizität  und 
der  Größe  der  Bahnlinie,  wie  der  wechselnden  Geschwindigkeit  führen, 
die  außerhalb  aller  Wahrscheinlichkeit  liegen.  Gegen  die  Zusammen- 
stellung mit  den  Planeten  hat  schon  Aristoteles  auf  die  außerordent- 
lichen Abweichungen  der  Kometen  vom  Tierkreisgürtel  hingewiesen, 
wichtiger  scheint  für  Galilei  und  Guiducci  die  seit  den  ältesten  Zeiten 
beobachtete  Tatsache,  daß  von  den  Kometen  die  einen  wie  die  Planeten 
von  Westen  nach  Osten,  die  anderen  in  der  Richtung  der  täghchen 
Bewegung   von   Osten   nach   Westen   vorschreiten;    diesen   Wechsel 


—     16     — 

der  Rcchtläufigkeit  und  Riickläufigkeit  auf  tatsächlich  verschieden 
gerichtete  Be^Yegungen  zurückzuführen,  scheint  ihnen  überaus  gewagt. 
Galilei  findet  "weniger  Schwierigkeit  in  einer  Vorstellung,  nach  der 
eine  dunstartige  Materie  (die  wässerigen  Dünste  sind  ihm  nur  eine 
Art  unter  zahlreichen  anderen)  von  der  Erde  aufsteige,  über  den 
Schattenkegel  der  Erde  hinausgelange,  das  SonnenHcht  reflektiere  — 
und  so  die  Erscheinung  des  Kometen  hervorrufe.  Selbstverständlich 
wäre  dann  die  erleuchtete  Stelle  nur  ein  kleiner  Teil  der  ausgedehnten 
reflektierenden  Dunstmasse,  und  den  Beobachtern  getrennter  Orte 
würde  nur  scheinbar  von  gleicher,  in  Wirklichkeit  von  stets  ver- 
schiedenen Stellen  das  Licht  zurückgestrahlt.  Daß  reflektierende 
Materie  sich  zu  beträchtlichen  Höhen  über  der  Erde  erhebt,  beweist 
ihm  die  Erscheinung  der  Dämmerung  und  mehr  noch  das  Nordlicht 
(aurora  borealis),  das  zur  Nachtzeit  ei scheint  und  an  Helle  zeitweise 
dem  Kometen  nicht  nachsteht.  Daß  übrigens  die  Erscheinung  des 
Kometen,  wenn  sie  dieser  Gattung  zuzurechnen  ist,  doch  innerhalb 
der  Gattung  von  allen  übrigen  verschieden  sein  muß,  gilt  als  selbst- 
verständlich. Das  Bild  der  Sonne,  wie  es  zum  Lichtstreifen  gezogen 
vom  Meeresspiegel  zahllosen  getrennten  Beobachtern  gleichzeitig  zu- 
gestrahlt wd,  die  Lichtstrahlen,  die,  wo  Sonnenlicht  durch  Wolken- 
lücken scheint,  aller  Orten  vom  gleichen  Zentrum  herabzuschießen 
scheinen,  können  verdeutlichen,  wie  bei  solchen  Erscheinungen  die 
Beobachtung  der  Parallaxe  ihre  Bedeutung  verliert  —  aber  Galilei 
denkt  nicht  daran,  durch  solche  Vergleichung  seiner  Anschauung  eine 
bestimmte  Gestalt  geben  zu  wollen. 

Die  wirkliche  Bahn  des  Kometen  muß  nach  dieser  Ansicht  mit 
der  jener  Dunstmaterie  gleichgerichtet,  also  eine  senkrecht  gegen 
die  Erdoberfläche  aufsteigende  gerade  Linie  sein;  in  einfacher  Weise 
löste  sich  unter  dieser  Voraussetzung  das  Rätsel  der  Rückläufigkeit, 
der  Komet  scheint  ^^^e  die  Planeten  von  Westen  nach  Osten  zu 
gehen,  wenn  er  westhch  vom  Beobachter  aufsteigt;  seine  Bewegung 
scheint  dagegen  rückläufig  nach  Westen  gerichtet,  wenn  sein  Ur- 
sprung im  Osten  war. 

jMit  größerer  Sicherheit  ist  der  Schweif  des  Kometen  als  ein 
Schein  zu  betrachten.  Daß  seine  Ausdehnung,  wie  immer  der  Komet 
sich  bewege,  in  die  Verlängerung  der  Linie  von  der  Sonne  zum  Kopfe 
fällt,  deutet  unabweishch  auf  den  Anteil  des  Sonnenhchtes  an  seiner 
Bildung;  nach  Kepler  ist  es  ein  zerstörender,  zerstäubender  Einfluß, 


—     17     — 

den  die  Sonne  übt:  „der  Schweif  ist  der  Untergang  des  Kometen"; 
nach  Galilei  sind  es  Sonnenstrahlen,  die  den  kometarischen  Dunst 
teilweise  durchcüingend  und  in  ihm  gebrochen  den  schwächeren 
Lichtschein  des  langen  Schweifs  erzeugen.  Was  endlich  die  Krüm- 
mung des  Schweifs  betrifft,  so  ist  sie  ein  Schein  des  Scheinenden, 
der  nach  den  Regeln  der  Perspektive  sich  ändert,  wie  der  "Winkel, 
den  der  Schweif  mit  dem  Horizont  bildet. 

So  gibt  es  keine  Seite  des  Kometenwunders,  die  nicht  in  Galileis 
Hypothese  ihre  Deutung  findet,  an  innerer  Folgerichtigkeit  zum 
wenigsten  fehlt  es  der  neuen  Lehre  nicht,  dennoch  war  auch  in 
Galileis  Sinne  die  wiederholte  Bemerkung,  daß  es  sich  nur  um  Ver- 
mutungen handle,  mehr  als  Redeweise;  er  mußte  sich  be^s^ßt  sein, 
daß  bei  der  unbestimmten  Fassung  seiner  Annahme  ein  Versuch, 
aus  ihr  die  Erscheinungen  des  Kometen  von  1618  im  einzelnen  her- 
zuleiten, sich  nicht  ausführen  Heß,  Um  so  zuversichtlicher  spricht 
er  den  Beweisen  für  die  gegenüberstehende  Meinung  die  Entscheidungs- 
kraft ab;  diese  kritische  Untersuchung,  die  Polemik  gegen  die  Ver- 
treter einer  himmlischen  Natur  der  Kometen  füllt  den  größeren  Teil 
von  Guiduccis  Rede,  sie  richtet  sich  insbesondere  gegen  die  Schrift 
des  Pater  Grassi.  Mit  unerbitthcher  Schärfe  zergliedert  sie  von  Seite 
zu  Seite  die  geometrischen  Ungenauigkeiten,  die  Trugschlüsse  und 
Sophistereien.  Die  überlegene  Methode  des  Meisters  ist  in  diesen 
polemischen  Teilen  ebensowenig  zu  verkennen  wie  in  den  belehrenden 
Ausführungen,  die  er  stets  hinzufügt,  wo  er  ^^^derlegt.  Unter  letzteren 
finden  wir  als  Erwiderung  auf  Grassis  neue  Lehre  von  der  Fernrohr- 
vergrößerung bei  Guiducci  Galileis  Theorie  der  teleskopischen  Wahr- 
nehmung vollständiger  erläutert  als  in  irgendeiner  seiner  früheren 
Schriften.  Grassi  gegenüber  bedurfte  es  nur  der  Verweisung  auf 
die  „Sternenbotschaft".  Schon  dort  war  gezeigt,  daß  die  Vergrößerung 
der  Kometen  wie  der  Fixsterne  nur  darum  geringer  scheine,  weil 
das  unbewaffnete  Auge  die  stark  leuchtenden  Körper  vermöge  einer 
eigentümlichen  Wirkung  des  Auges  von  einem  „Strahlenhaar"  um- 
geben und  darum  vergrößert  sehe.  Das  Fernrohr  beseitigt  die  Zutat 
des  Auges  und  vergrößert  nur,  was  ohne  sie  erscheint. 

Man  braucht  nicht  diese  lichtvolle  Darlegung  des  wahren  Sach- 
verhalts der  verfehlten  Deduktion  des  Pater  Grassi  gegenüberzuhalten, 
um  zu  erkennen,  auf  welcher  von  beiden  Seiten  die  ernste  Wissen- 
schaft, auf  welcher  die  leeren  Worte  stehen,  derselbe  Wesensgegensatz 

Wohlwill,  Galilei.    II.  2 


—     18     — 

findet  sich  wieder,  wo  immer  man  zu  vergleichen  versuchen  würde; 
man  erkennt  ihn  nicht  minder,  wo  Galilei  für  eine  unhaltbare  Theorie 
in  die  Schranken  tritt,  um  wider  die  bessere  Einsicht  der  Schul- 
gelehrten zu  streiten.  Selbst  im  Irrtum  denkt  Galilei  wissenschaft- 
licher als  seine  Gegner.  Ein  Wort  über  diesen  Irrtum  ist  in  der  Haupt- 
sache nur  darum  hinzuzufügen,  weil  es  üblich  ist,  ihn  in  gering- 
schätziger Weise  zu  erwähnen.  Der  Irrtum  des  großen  Mannes  ver- 
gegenwärtigt mehr  noch  als  seine  epochemachenden  Entdeckungen 
den  Standpunkt  der  Zeit, 

Wenn  Galilei  der  bessern  Einsicht  eines  Tycho  gegenübertrat, 
so  ist  dadurch  unzweifelhaft  dargetan,  daß  Tychos  Lehre  in  jenen 
Tagen  noch  keineswegs  als  die  bessere  erwiesen,  daß  ein  Widerspruch 
gegen  ihre  Folgerungen  innerhalb  der  Wissenschaft  noch  möglich  w^ar; 
es  ist  dadurch  zur  Gewißheit  erhoben,  daß  jener  Entdeckung,  die 
man  heute  als  wichtigsten  Fortschritt  anerkennen  muß,  eine  solche 
Bedeutung  für  den  Anfang  des  17.  Jahrhunderts  keineswegs  zukam. 

Was  die  Tatsache  dieses  Widerspruchs  bezeugt,  muß  die  Geschichte 
erläutern,  es  heißt  auf  ein  Verständnis  des  geschichtlichen  Zusammen- 
hangs verzichten,  wenn  man  die  Tatsache  in  Ausdrücken  des  Be- 
dauerns oder  im  vorwurfsvollen  Sinne  deutet. 

Wie  w^enig  Tycho  Brahes  Entdeckung  des  „himmlischen  Orts" 
zu  jener  Zeit  zu  befriedigenden  Vorstellungen  führte,  erhellt  aus 
Keplers  Ansichten,  die  ganz  auf  Tychonischer  Grundlage  ruhen.  Der 
Begründer  der  neuen  Planetenlehre  findet  es  mit  dieser  Erhebung 
der  Kometen  in  den  Himmel  völlig  vereinbar,  in  ihnen  vergängliche, 
wolkenartige  Bildungen  zu  sehen;  er  verwirft  mit  der  geschlossenen 
Bahn  jede  Beziehung  ihrer  Bewegung  auf  die  Sonne,  jede  Zusammen- 
stellung mit  planetarischen  Körpern.  Ihm,  der  zuerst  gewagt,  die 
Ungleichmäßigkeiten  in  der  Geschwindigkeit  der  Planeten  nicht  nur 
durch  den  Schein  zu  erklären,  den  die  ungleichen  Entfernungen  her- 
vorrufen, sondern  wirUiche  Ungleichheit  in  verschiedenen  Sonnen- 
abständen anzunehmen,  ihm  lag  es  doch  fern,  nach  ähnhcher  An- 
nahme die  ungeheuerliche  Bahn  zu  konstruieren,  auf  der  Kometen 
^^  iederkehren  konnten. 

Wohl  hatte  T3'cho  Brahe  für  zweifellos  erklärt,  daß  der  himmlische 
Körper  nur  eine  Kreisbahn  haben  kann.  Auch  scheint  ihm  die  Planeten- 
ähnlichkeit keinem  Zweifel  zu  unterliegen,  aber  Kepler  unternimmt  nicht  den 
Versuch,  den  Gedanken  auszuführen,  die  Kreisbahn  für  den  Kometen  von  1618 
zu  bestimmen. 


—     19     — 

In  der  Tat  war  Keplers  Vorstellung  von  zufällig  verdichteten, 
zufällig  zergangenen,  bald  westlieh,  bald  östlich  in  gerader  Linie 
dahinschießenden  Wolkenbildungen  die  einzige,  in  der  man  die  Be- 
obachtungen mit  Tychos  Parallaxenlehre  in  Einklang  zu  bringen 
wußte  —  kühn  genug  dehnte  sie  das  Reich  des  Wandelbaren  weit 
über  seine  alten  Grenzen  aus;  aber  um  so  sicherer  ließ  sie  dem  Be- 
denken, dem  Zweifel  Raum,  sie  hat  nur  wenige  Anhänger  gefunden. 
Daß  Kepler  sie  aufstellen  konnte,  beweist,  wie  fern  selbst  ihm  noch 
der  Gedanke  einer  allgemeinen  Massenanziehung  lag,  aber  auch  ohne 
den  Besitz  dieser  großen  Erkenntnis,  vor  dem  die  geradlinige  Bewegung 
durch  die  Himmelsräume  keinen  Bestand  hat,  konnte  man  etwas 
Unglaubliches  in  seiner  Vorstellung  empfinden.  Es  war  wohl  nicht 
nur  der  Schüler  des  Aristoteles,  dem  ,,es  hart  fiel,  diese  Meinung  zu 
verstehen",  der  den  himmlischen  Körpern  „keine  solche  unvoll- 
kommene Bewegung  in  einer  geraden  Linie  zueignen  konnte  und 
mochte". 

So  hatte  Tycho  Brahes  Entdeckung  nicht  dazu  beigetragen,  die 
seltsame  Erscheinung  begreiflicher  zu  machen,  sie  mit  irgendwelcher 
bekannten  Erfahrung  in  Einklang  zu  bringen;  was  heute  aller  wissen- 
schaftlichen Kometenforschung  zugrunde  liegt,  bildete  damals  kaum 
mehr  als  die  Grundlage  einer  unwahrscheinlichen  Theorie  und  un- 
möglicher Versuche  zu  andern  Deutungen.  Diese  Sachlage  veranlaßte 
Galilei  zur  erneuten  Prüfung  der  Beweise  Tychos.  Sie  gab  seinem 
Einwurf  eine  Bedeutung,  die  den  späteren  Erfolgen  der  Tychonischen 
Lehre  gegenüber  kaum  noch  Anerkennung  finden  kann;  die  Berech- 
tigung seines  Widerspruchs  liegt  in  der  völhgen  t^nzuverlässigkeit 
aller  bis  dahin  gewonnenen  Ergebnisse;  man  wird  ihm  zugestehen 
müssen,  daß  im  Jahre  1618  keine  Kometentheorie  vorhanden  war, 
die  zugleich  den  Erscheinungen  genügt  und  den  Verstand  befriedigt 
hätte.  Tsoch  konnten  Kepler  und  Galilei,  so  sehr  sie  anderweitig 
in  ihren  Ansichten  voneinander  abwichen,  darin  übereinstimmen,  daß 
sie  die  Vorstellung  von  wiederkehrenden  Kometen  als  Absurdität 
zurückwiesen,  noch  lag  der  Gedanke  an  eine  Parabelform  der  Bahn 
außerhalb  der  denkbaren  Möglichkeiten;  erst  mit  Newtons  Lehre 
sind  die  Voraussetzungen  gegeben,  unter  denen  Tycho  Brahes  wichtige 
Entdeckung  fruchtbar  werden  konnte;  es  war  der  Freund  Isaac 
Newtons,  der  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts  zum  erstenmal  einen 
Kometen  wiederkehren  sah,  und  dieser  Komet  war  derselbe,  dessen 


—     20     — 

sorgfältige  Beobachtung  Kepler  zur  Annahme  der  geradlinigen  Be- 
wegung geführt  hatte.  Erst  mit  IS'ewtons  und  Halleys  Entdeckimgen 
wird  die  Ansicht  Galileis  so  vollständig  ausgeschlossen,  daß  die 
spätere  Generation  sie  unbegreiflich  findet. 

Damit  ist  in  der  Tat  nicht  unvereinbar,  daß  sie  auch  bei  den 
Zeitgenossen  nur  wenig  xVnklang  fand;  sie  befriedigte  so  wenig  wie 
die  andern  Theorien,  aber  man  A\ird  nicht  finden,  daß  die  Ergebnisse, 
bei  denen  Galileis  Kiitiker  sich  beruhigt,  den  Vorzug  durch  größere 
Zuverlässigkeit  der  Beweise  verdienen.  Eine  Beurteilung,  die  uns 
dies  Verhältnis  veranschaulicht,  ist  uns  in  einem  Brief  des  Genuesen 
Baliani^  erhalten,  Gian  Batista  Baliani  gehörte  zu  den  entschiedenen 
Gegnern  der  aristotelischen  Schule,  aber  seine  Briefe  bekunden,  daß 
er  sich  auch  den  Führern  der  neuen  Wissenschaft  gegenüber  völlige 
Unabhängigkeit  des  Urteils  bewahrt;  so  spricht  er  auch  in  diesem 
Falle  offen  seine  ernsten  Bedenken  gegen  Galileis  Lehre  aus;  er  findet 
die  Erörterung  über  die  Bedeutung  der  Parallaxe  vortrefflich,  aber 
er  hebt  mit  isachdruck  hervor,  daß  demnach  der  Hauptpunkt  sei, 
zu  erkennen,  ob  der  Komet  eins  jener  bewegten  Bilder  sei,  bei  denen 
keine  Parallaxe  gefunden  wird.  Was  zugunsten  dieser  Auffassung 
angeführt  wird,  scheint  ihm  ebensowenig  zu  genügen  wie  die  Zurück- 
führung  der  wahrgenommenen  Bewegung  auf  das  senki-echte  Auf- 
steigen des  kometarischen  Dunstes.  Seine  Einwendungen  sind  größten- 
teils berechtigt,  aber  die  unzweifelhaft  bessere  Ansicht,  die  er  Galileis 
Vermutungen  gegenüberstellt,  ist  jedenfalls  durch  seine  Argumente 
nicht  besser  begründet. 

,,Ich  kann  nicht  sehen",  schreibt  Baliani^,  ,, welche  Schmerig- 
keit  darin  liegt,  zu  sagen,  daß  der  Komet  ein  Körper  ist,  aus  der- 
selben Materie  erzeugt  wie  die  Planeten,  nur  nicht  so  gut  zusammen- 
geleimt und  deshalb  leicht  zu  zerteilen;  ich  kann  nicht  sehen,  daß 
nicht  Er,  der  jene  beim  Anfang  der  Welt  geschaffen,  weil  es  ihm  so 
gefiel,  auch  weiter  andere  erzeugen  könne,  bald  von  größerer  Dauer, 
wie  den  Stern  im  Schwan,  bald  von  kürzerer,  wie  die  Kometen,  die 
sich  wieder  zerteilen,  weil  ihre  Materie  der  geringeren  Festigkeit 
wegen  von  dem  Medium  größeren  Widerstand  erfährt.  Und  ebenso- 
wenig kann  ich  sehen,  worin  die  Schwierigkeit  besteht,  zu  sagen. 


1  Ed.  Naz.  XII  p.  474—478. 
-  Ed.  Naz.  XII  p.  477 f. 


—     21     — 

daß,  der  den  Planeten  die  regelmäßige  Bewegung  gab,  sie  auch  dem 
Kometen  gegeben,  und  daß  die  Verzögerung  in  seiner  Bewegung 
davon  herrühren  könne,  daß  entweder  sein  Kreis  für  uns  exzentrisch 
ist  oder  daß  der  Widerstand,  den  ihm  das  Medium  entgegensetzt, 
um  so  größer  wird,  je  mehr  er  sich  auflöst  und  verdünnt." 

Diese  Äußerungen  bekunden  in  ihrer  wenig  wissenschafthchen 
Form  die  instinktive  Neigung,  die  sich  trotz  unzulänglicher  Beweise 
der  Vorstellung  von  planetarisch  geschlossenen  Bahnen  zuwendet; 
im  übrigen  wird  man  der  Erwiderung  Galileis  wenig  hinzuzufügen 
haben. 

„Für  alle  diese  Behauptungen",  schrieb  Galilei  an  den  Rand 
des  Briefs^,  „ist  keinerlei  Schwierigkeit  vorhanden,  ja,  wenn,  was 
ich  gesagt  habe,  dem  widerspräche,  müßte  man  es  nicht  nur  als 
falsch,  sondern  als  ketzerisch  betrachten.  Ich  behaupte  jedoch  nicht 
allein,  daß  alle  diese  Dinge  gesagt  werden  können,  sondern  auch, 
daß  dies  die  leichteste,  einfachste  und  bequemste  Weise  ist,  diese 
und  alle  anderen  schwierigeren  Probleme  zu  lösen."  — 

Wie  alles,  was  von  Galilei  ausging,  erregte  auch  seine  Kometen- 
lehre in  weiten  Kreisen  Aufsehen  und  Teilnahme.  Guiduccis  Rede 
wurde  gedruckt  und  rasch  verbreitet;  sie  wurde  dem  Erzherzog 
Leopold  gewidmet,  der  unter  vielen  andern  Galileis  Ansicht  erfragt 
hatte.2  Auch  in  der  weiteren  Öffentlichkeit  schien  es  Galilei  an- 
gemessen, den  Freund  statt  seiner  reden  zu  lassen.  AVenn  ihn  dabei 
die  Abneigung  bestimmt  hat,  von  neuem  persönlich  in  Streitigkeiten 
mit  den  peripatetischen  Gelehrten  verwickelt  zu  werden,  so  war 
dafür  das  Mittel  schlecht  gewählt.  Bei  Freund  und  Feind  galt  bald 
genug  nur  Galilei  als  Verfasser  des  Discorso  delle  comete.  Mario 
Guiducci  selbst  erhebt,  soweit  er  die  neue  Lehre  vorträgt,  keinen 
andern  Anspruch  als  den,  für  des  Meisters  Ansichten  ein  guter  Kopist 
zu  sein.  Er  sucht  seine  Ehre  darin  im  Gegensatz  zu  jenen  Leuten, 
die  sich  für  den  Apelles  ausgeben,  wo  sie  sich  Galileis  Lehren  an- 
eignen.3  Die  Sprache,  die  Art  der  Darstellung  und  der  Deduktion 
ist  unverkennbar  die  Galileis;  aber  mehr  noch:  in  dem  noch  vor- 
handenen Manuskript  des  Discorso  ist  der  ganze  Abschnitt,  der  von 

1  Ed.  Naz.  XII  p.  478. 

2  Ed.  Naz.  XII  p.  435,  468. 

^  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,    daß   Guiducci  nicht  einmal  so   viel 
seieistet  hat. 


—     22     — 

Galileis  Kometenlehre  handelt,  von  dessen  eigener  Hand  geschrieben. 
Genug  des  Beweises,  daß  für  diesen  Teil  zum  mindesten  Galilei  allein 
als  Verfasser  zu  betrachten  ist.  Schon  aus  Rücksicht  auf  den  Freund 
hat  Galilei  dies  Verhältnis  niemals  offen  zugestanden,  aber  ebenso- 
wenig verwandte  er  besondere  Vorsicht  darauf,  es  zu  verheimlichen; 
er  übersandte  die  Schrift  seinem  Fürsten,  Gönnern  und  Freunden, 
wie  ein  eigenes  Werk  und  nahm  ihre  anerkennenden  Äußerungen 
in  gleicher  Weise  entgegen. 

So  konnte  es  kaum  überraschen,  daß  man  in  Rom  und  ins- 
besondere im  Collegium  Romanum  auch  die  strenge  Beurteilung  des 
Ordensgenossen  ausschließhch  Gahlei  zuschrieb,  war  doch  in  den 
gelehrten  Kreisen  kaum  irgendjemand  im  Zweifel  darüber,  daß  in 
der  Tat  Gahlei  „gegen  die  Jesuiten"  geschrieben  hatte;  zwar  hatte 
Guiducci  vorsichtig  vor  der  Veröffentlichung  den  Rat  von  Männern 
erbeten,  die  dem  Jesuitenorden  nahestanden,  um  alle  verletzenden 
Äußerungen  zu  tilgen  —  aber  verletzend  war  an  dieser  Stelle  schon 
die  Tatsache,  daß  dem  Mathematiker  des  Collegium  Romanum  öffent- 
lich widersprochen,  daß  ihm  logische  und  mathematische  Schnitzer 
nachgewiesen  waren;  sollte  aber  Fehde  sein,  so  hatten's  auch  die 
Jesuiten  lieber  mit  einem  Galilei  als  mit  einem  Guiducci  zu  tun. 
Gleich  nach  dem  Erscheinen  der  Schrift  sprach  Ciampoli^  sein  leb- 
haftes Bedauern  über  diese  Polemik  aus;  dem  wachsamen  Freund 
mißfiel  es,  daß  Galilei  zum  Streit  herausforderte,  wo  man  ihm  bis 
dahin  besonderes  Wohlwollen  und  in  öffenthchen  Äußerungen  ehrende 
Anerkennung  be\Niesen  hatte;  er  wußte,  was  der  Verlust  dieser  Ge- 
sinnungen zu  bedeuten  hatte.  Mit  besorgtem  Sinn  schrieb  er  nach 
Florenz:  ,,die  Jesuiten  sehen  sich  als  schwer  beleidigt  an,  sie  rüsten 
sich  zur  Antwort.  "^ 

Noch  im  selben  Jahr,  1619,  erschien  die  Antwort  unter  dem 
Titel:  Astronomische  und  philosophische  Wage,  durch  welche 
die  Meinungen  des  GalUeo  Galilei  über  die  Kometen,  wie  sie  von 
Mario  Guiducci  in  der  Florentiner  Akademie  vorgetragen  und  kürzlich 
veröffentlicht  sind,  geprüft  werden  von  Lothario  Sarsi,  dem 
Sigensaner.3  In  der  Schrift  gibt  sich  Sarsi  für  den  Schüler  des 
P.  Grassi  aus;  in  Wirklichkeit  war  hinter  dem  Pseudonymen  Ver- 

1  Ed.  Naz.  XII  p.  466. 

2  Ed.  Naz.  XII  p.  466. 
'  Ed.  Naz.  VI  p.  9. 


—     23     — 

fasser  niemand  anders  als  der  Pater  selbst  verborgen;  daß  er  nicht 
allzu  ängstlich  seine  Mitwirkung  zu  verheimlichen  wünschte,  bew^eist 
die  Wahl  des  Xamens,  der  aus  den  Buchstaben  seines  eigenen  (Horatio 
Grassi  aus  Salona)  zusammengestellt  ist. 

Die  „Wage"  geht  über  Guiducci  mit  wenigen  Worten  hinweg; 
aus  Galileis  Briefen  an  seine  römischen  Freunde  will  Sarsi  erfahren 
haben,  daß  die  Rede  das  Werk  des  Lehrers,  nicht  des  Schülers  sei; 
in  geschmacklosem  Wortspiel  glaubt  er  sich  überdies  durch  Guiduccis 
eigene  Worte  gerechtfertigt,  wenn  er  sich  ,, gegen  den  Diktator,  nicht 
gegen  den  Consul"  wendet.  Daß  Guiducci  doch  nur  insofern  Kopist 
sein  wollte,  als  er  über  Galileis  Lehre  berichtete,  keineswegs  auch 
in  dem  historischen  und  kritischen  Teil  seiner  Schrift,  schien  keiner 
weiteren  Beachtung  wert.  So  schreibt  er  ohne  weiteres  Galilei  nicht 
nur  die  Ideen,  sondern  auch  die  Äußerungen  des  Discorso  delle  comete 
zu  und  richtet  gegen  ihn  ausschließlich  seine  Streitschrift. 

Die  Wage  verteidigt  die  Rede  Grassis,  die  überall  Beifall,  nur 
bei  Galilei  Tadel  gefunden  habe;  sie  bekämpft  in  weitläufigen  Aus- 
führungen Galileis  neue  Tlieorie  und  beleuchtet  in  ihrem  letzten 
Teil  die  übriggebliebenen  Einzelheiten,  in  denen  Guiduccis  Vortrag 
althergebrachten  Ansichten  widerspricht.  Auch  diese  Schrift  würde 
nur  sehr  ungenügend  gekennzeichnet  sein,  wenn  man  hervorhebt, 
daß  sie  die  bessere  Lehre  Tychos  vertritt.  Es  fehlt  allerdings  in  der 
Polemik  gegen  Galileis  Kometentheorie  nicht  an  treffenden  Be- 
merkungen. Es  ist  ein  Einwurf,  der  sich  hören  läßt,  wenn  Sarsi  die 
Zusammenstellung  der  Kometen  mit  den  Erscheinungen  atmo- 
sphärischen Ursprungs  durch  einen  Vergleich  mit  den  Wolken  verwirft. 
„Alle  Wolken",  sagt  er,  —  ,,wenn  sie  irgendwelche  Verwandtschaft 
mit  dem  Stoff  der  Kometen  haben  —  lassen,  wenn  sie  so  dicht  und 
dunkel  sind,  daß  sie  die  Sonnenstrahlen  nicht  frei  durchlassen,  wenig- 
stens an  der  Seite,  wo  sie  auf  die  Sonne  zurückblicken,  diese  mit 
gegenseitiger  Freigebigkeit  zu  uns  reflektieren.  Wenn  sie  aber  zart 
sind  und  das  Licht  ungehindert  an  jeder  Stelle  sie  durchdringen  kann, 
so  zeigen  sie  sich  an  keiner  Stelle  dem  Blick  des  Betrachters  dunkel, 
sondern  überall  von  hellem  Licht  Übergossen.  Wenn  also  der  Komet 
aus  keinem  anderen  Stoff  besteht  als  aus  derartigen  rauchenden 
Dünsten,  die  nicht  zu  einem  Haufen  zusammengedrängt  sind,  sondern, 
wie  er  selbst  sagt,  einen  sehr  weiten  Himmelsraum  einnehmen  und 
an  jeder  Seite  vom  Sonnenhcht  erglänzen,  ^^'ie  ist  es  möglich,  daß  er 


—     24     — 

den  Betrachtern  immer  mir  in  einem  engen  und  kleinen  Ki'eise  er- 
scheint und  die  übrigen  Teile  desselben  Dunstes,  die  ja  vom  gleichen 
Sonnenlichte  bestrahlt  werden,  niemals  sich  zeigen.  "^ 

So  trifft  Sarsi  auch  ohne  Zweifel  das  Richtige,  wenn  er  von 
Galilei  verlangt,  daß  er  die  Abhängigkeit  der  vermeintlichen  Er- 
scheinung von  dem  Stand  der  Sonne  an  den  Beobachtungen  nach- 
weise; was  den  Kometen  von  1618  betreffe,  so  habe  seine  Bewegung 
mit  der  Sonne  nicht  mehr  und  nicht  weniger  zu  tun  als  Leute,  die 
im  Sonnenschein  Spazierengehen. 

"Wo  dagegen  die  Kritik  über  das  Allgememste  hinausgeht,  wo 
sie  im  einzelnen  tadelt,  widerlegt  und  verbessert  —  da  tritt  fast  ohne 
Ausnahme  eine  beschränkte  oder  mißverständliche  Auffassung,  Un- 
wissenheit und  vor  allem  ein  völliger  Mangel  an  Achtung  vor  dem 
überlegenen  Gegner  zutage.  So  verdirbt  er  die  eben  hervorgehobene 
richtige  Betrachtung  durch  den  falschen  Beweis:  triumphierend 
zeigt  er,  daß  der  Komet  sich  nach  ^N'orden  wandte,  als  die  Sonne 
südwärts  ging  —  und  gibt  damit  Galilei  allzu  leichtes  Spiel  auch 
in  der  Hauptsache;  denn  genau  dies  mußte  geschehen,  wenn  der 
Komet  nur  ein  Reflex  war:  stets  geht  das  Bild  in  entgegengesetzter 
Richtung  wie  der  Spiegel.  !Xirgends  denkt  sich  Sarsi  seine  Gegner 
auch  nur  gegen  den  oberflächlichsten  Einwurf  gesichert,  nirgends 
scheut  er  sich,  was  Galilei  in  allgemeinen  Umrissen  entworfen,  nach 
Willkür  in  bestimmte  Form  zu  bringen,  und  dann  durch  die  elemen- 
tarste mathematische  Betrachtung  als  unmöglich  zu  ei-weisen,  was 
niemand,  und  am  allerwenigsten  GaHlei,  für  möglich  halten  konnte. 
So  glaubt  er  beweisen  zu  können,  daß  der  Komet,  wenn  er  nach 
Galileis  Ansicht  senki-echt  aufstiege,  nicht  allein  niemals  das  Zenith 
des  Beobachters  erreichen,  sondern  nicht  einmal  um  mehr  als  172° 
über  den  Horizont  sich  erheben  könnte;  allerdings  mußte  er  dafür 
den  Fall  so  wählen,  daß  der  Komet  60°  vom  Ort  des  Beobachters 
entfernt  aufstiege  und  erst  in  einem  Abstand  der  Mondfeme  sichtbar 
würde,  und  so  besteht  in  Wirklichkeit  kein  Beweis  darin,  Bedingungen 
auszuwählen,  unter  denen  der  Komet  unmöglich  eine  größere  Höhe 
über  dem  Horizont  erreichen  konnte,  also  Bedingungen,  die  für 
Galilei  im  voraus  ausgeschlossen  waren.  So  suchte  er  Galileis  Ansicht 
durch  die  Behauptung  zu  widerlegen,  daß  alle  optischen  Phänomene 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  137-138. 


—     25     — 

ähnlicher  Art  in  Kreisform  erschienen  und  erscheinen  müßten,  so 
der  Regenbogen,  so  die  Höfe  um  Sonne  und  Mond,  aber  es  kam  ihm 
nicht  in  den  Sinn,  daß  diese  Betrachtung  nur  gewisse  Bildungsweisen 
unter  vielen  möglichen  beseitigte,  und  daß  wohl  auch  Galilei  seine 
Vorstellung  nicht  gerade  auf  Umstände  beschränken  würde,  die 
nach  einfacher  geometrischer  Überlegung  für  seine  Zwecke  nicht 
genügten. 

Zeigt  sich  bei  solchen  Gelegenheiten  nur,  wie  wenig  Horatio 
Grassi  nach  dem  Umfang  seiner  Kenntnisse  der  Mann  war,  einem 
Galilei,  selbst  WTun  er  irrte,  gegenüberzutreten,  so  läßt  der  größere 
Teil  der  Schrift  auch  darüber  keinen  Zweifel,  daß  ein  Verlangen 
nach  wahrer  Erkenntnis,  ein  ernstes  wissenschaftliches  Forschen  auf 
dieser  Seite  überhaupt  nicht  vorhanden  war.  Grassi  gibt  zwar  vor, 
Galilei  seiner  Talente  wegen  hoch  zu  achten,  aber  nirgends  findet 
sich  in  seiner  ,,Wage"  eine  Andeutung,  daß  er  Galileis  Lehren  im 
einzelnen  oder  ganzen  prüfe,  um  sich  anzueignen,  was  wertvoll,  zu 
verwerfen,  was  unhaltbar  scheint  —  seine  Absicht  ist  offenbar  darauf 
beschränkt,  zu  bekämpfen  und  zu  verwerfen,  mit  einem  Wort:  gegen 
Galilei  zu  schreiben. 

Für  diese  polemischen  Zwecke  eignete  sich  vortrefflich  die 
Methode  der  Schule,  Behauptungen  an  den  Regeln  der  formalen 
Logik  zu  messen,  aber  diese  Form  der  Beweisführung  ruft  nur  um 
so  mehr  den  Eindruck  hervor,  daß  den  Beweisen  der  Hintergrund 
einer  ernsten  Überzeugung  fehlt.  Auch  der  redlichste  Wille  konnte 
nicht  verhindern,  daß  auf  diesem  Wege  der  Streit  um  wissenschaft- 
liche Wahrheit  sich  in  einen  Streit  um  Sätze  und  Ausdilicke  ver- 
wandelte; trat  dann  noch,  me  bei  Grassi,  die  streitsüchtige  Absicht 
hinzu,  so  war  es  zwar  leicht,  ein  Buch  mit  Widerlegungen  zu  füllen, 
aber  dieses  Buch  mußte  um  so  deutlicher  den  Gegensatz  zur  ernsten 
Wissenschaft  an  der  Stirn  tragen.  Man  kann  sich  eine  Vorstellung 
von  der  Breite  dieser  unfruchtbaren  Disputationen  machen,  wenn 
man  hört,  wie  Grassi  einzelne,  für  den  Zusammenhang  bedeutungslose 
Äußerungen  Galileis  aufs  gründlichste  abtut. 

Der  Behauptung  Grassis  gegenüber,  daß  durch  das  Fernrohr 
die  Fixsterne  unmerklich  oder  gar  nicht  vergrößert  werden,  hatte 
Guiducci  darauf  verwiesen,  daß  durchs  Fernrohr  Sterne  sichtbar 
werden,  die  für  das  unbewaffnete  Auge  nicht  vorhanden  sind  und 
—  selbstverständlich,  ohne  mathematisch  reden  zu  wollen  —  hatte 


—     26     — 

er  hinzugefügt:  der  Übergang  vom  Nichtsichtbarsein  zum  Sichtbar- 
sein entspricht  doch  eher  einer  unendlichen  Vergrößerung  als  keiner. 
In  dieser  Äußerung  findet  nun  Sarsi  die  willkommene  Gelegenheit, 
den  Vorwurf  ungenügender  Logik  zurückzugeben,  den  Guiducci 
gegen  seinen  Lehrer  Grassi  gerichtet  hat.  Sarsi  findet  Guiduccis 
Äußerung  \ierfach  unlogisch.^ 

1.  Guiducci  selbst  hat  behauptet,  daß  alles  durchs  Fernrohr 
in  gleichem  Verhältnis  vergrößert  wird,  wenn  das  Fernrohr  also  die 
Sterne,  die  mit  bloßem  Auge  sichtbar  sind,  im  bestimmten  Ver- 
hältnis, vielleicht  hundertfach  vergrößert,  so  muß  es  auch  das  Un- 
sichtbare im  selben  Verhältnis  vergrößern  —  die  Zunahme  kann 
also  keine  unendliche  sein. 

2.  Wenn  jemand  so  argumentiert:  Was  aus  dem  Unsichtbarsein 
in  das  Sichtbarsein  übergeht,  nimmt  unendlich  zu,  aber  die  Sterne 
gehen  von  der  Unsichtbarkeit  in  die  Sichtbarkeit  über:  also  nehmen 
sie  unendlich  zu  —  so  wird  der  Vordersatz  näher  zu  bestimmen  sein. 
Sie  werden  unendlich  vergrößert  in  bezug  auf  Sichtbarkeit  —  zu- 
gegeben; sie  werden  unendlich  vergrößert  in  bezug  auf  Quantität  — 
das  leugne  ich,  und  so  wird  auch  den  Schluß  dieselbe  Unterschei- 
dung bestimmen:  sie  nehmen  zu  an  Sichtbarkeit,  aber  nicht  an 
Quantität.  So  ist  klar,  daß  die  Zunahme  im  Vordersatz  und  im 
Schluß  auf  verschiedenes  bezogen  wird,  dort  auf  Sichtbarkeit,  hier 
auf  Quantität. 

3.  ist  ein  Gesetz  der  Logik,  daß,  so  oft  eine  Wirkung  von  meh- 
reren Ursachen  herrühren  kann,  mit  Unrecht  aus  der  Wirkung  nur 
auf  eine  geschlossen  werde ;  so  kann  es  von  vielen  Ursachen  abhängen, 
daß  sichtbar  wird,  was  nicht  gesehen  wurde;  es  kann,  wenn  das 
Objekt  unverändert  bleibt,  entweder  die  Sehkraft  für  sich  zunehmen 
oder  ein  Hindernis  beseitigt  werden  oder  durch  ein  Instrument  die 
Sehkraft  stärker  werden;  oder  bei  unveränderter  Sehkraft  kann  das 
Objekt  heller  beleuchtet  werden  oder  näherrücken  oder  seine  Masse 
kann  zunehmen  —  eins  davon  genügt,  die  Wirkung  hervorzubringen, 
so  widerspricht  es  den  Eegeln  der  Logik,  daraus,  daß  früher  unsicht- 
bare Sterne  sichtbar  werden,  zu  schließen,  daß  sie  eine  unendliche 
Vergrößerung  erfahren  haben;  und  diese  Zunahme  ist  dem  Fernrohr 
nicht  zuzuschreiben,  denn  wenn  Galilei  seine  Augen  schließt  und 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  122-124. 


—     27     — 

wieder  öffnet,  so  kann  er  mit  demselben  Recht  sagen,  daß  nun  alles 
unendlich  vergrößert  sei  usw. 

Es  folgt  noch  ein  vierter  Beleg,  die  drei  werden  genügen,  eine 
Vorstellung  von  den  Gegnern  zu  geben. 

Ein  Mann,  dem  solche  Künste  zugebote  standen,  brauchte 
auch  den  klar  zutage  liegenden  Fehlgriff  nicht  einzugestehen.  Grassis 
Erfindung,  aus  dem  Grad  der  Vergrößerung  durch  das  Fernrohr 
auf  die  Entfernung  des  Himmelskörpers  zu  schließen,  war  von 
Guiducci  als  völlig  absurd  bezeichnet.  Grassi  selbst  konnte  nicht 
daran  denken,  sie  zu  verteidigen,  aber  er  wußte  seinen  Rückzug  zu 
decken.  Guiducci  hätte  geäußert:  eine  Täuschung  über  die  Un- 
abhängigkeit der  Vergiößerung  von  der  Entfernung  könne  davon 
herrühren,  daß  man  bei  der  Betrachtung  näherliegender  Gegenstände 
das  Fernrohr  durch  Ausziehen  mehr  verlängere  und  auf  diese  Weise 
stärker  vergrößerte  Bilder  erhalte,  aber  das  verlängerte  Instrument 
sei  nicht  mehr  dasselbe.  Diese  Belehrung  griff  nun  Grassi  mit  Eifer 
auf;  er  hatte  von  der  veränderten  Länge  des  Fernrohrs  auch  nicht 
andeutungsweise  geredet,  jetzt  argumentiert  er,  als  hätte  gerade 
diese  Betrachtung  ihn  bei  seiner  Untersuchung  über  die  Entfernung 
der  Kometen  geleitet  und  als  sei  es  Galilei,  der  hier  der  Unterweisung 
bedürftig  sei:  ^ 

„Denn  ich  frage  ihn,  wenn  er  sein  bestes  Ferm'ohr  in  die  Hand 
nimmt,  um  einen  Gegenstand  innerhalb  des  Zimmers  oder  Hofes 
zu  betrachten,  ob  es  dann  nicht  weit  ausgezogen  werden  muß.  Ganz 
recht,  wird  er  antworten.  Wenn  er  aber  mit  demselben  Instrument 
einen  Gegenstand  betrachten  will,  der  vom  Fenster  weit  entfernt  ist, 
dann  muß  es  —  das  wird  er  zugeben  —  zusammengezogen  und  wegen 
der  weiten  Entfernung  des  Betrachtungsobjektes  verkürzt  werden. 
Wenn  ich  aber  nach  dem  Grund  des  Ausziehens  und  Zusammen- 
ziehens frage,  so  wird  man  auf  jeden  Fall  zur  Erklärung  auf  die  Art 
des  Instrumentes  zurückgreifen  müssen.  Denn  das  Fernrohr  muß 
nach  den  Gesetzen  der  Optik  zur  Betrachtung  in  der  Nähe  befind- 
licher Gegenstände  ausgezogen,  zur  Betrachtung  entfernter  Objekte 
jedoch  zusammengezogen  werden.  Da  also  durch  das  Ausziehen 
und  Zusammenziehen  des  Fernrohrs,  vde  er  ja  selbst  sagt,  eine  Ver- 
größerung   bzw.    Verkleinerung    der   Betrachtungsobjekte    entsteht. 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  128/129. 


—     28     — 

\vird  er  mir  schon  gestatten  müssen,  auf  Grund  dessen  folgenden 
Satz  aufzustellen : 

Alles,  was  nur  mit  einem  ausgezogenen  Ferm'ohr  betrachtet 
werden  kann,  wd  notwendigerweise  vergrößert;  alles,  was  nur  mit 
einem  zusammengezogenen  Fernrohr  betrachtet  werden  kann,  wii*d 
verkleinert.  Alle  in  der  Nähe  befindlichen  Gegenstände  können  nur 
mit  einem  ausgezogenen,  alle  weiter  entfernten  nur  mit  einem  zu- 
sammengezogenen Fernrohr  betrachtet  werden;  also  alle  in  der  Nähe 
befindlichen  Gegenstände  werden  vergrößert,  alle  weiter  entfernten 
verkleinert.  Wenn  in  dieser  Beweiskette  der  Hauptsatz  als  richtig 
erwiesen  ist,  so  werden,  wie  ich  annehme,  die  nötigen  Folgerungen 
nicht  geleugnet  werden." 

Den  ersten  Satz,  meint  Grassi,  werde  Galilei  ohne  weiteres  zu- 
geben, den  zweiten  wenigstens  für  Gegenstände,  die  weniger  als  eine 
halbe  Meüe  entfernt  seien;  aber  von  solchen  ist  nicht  die  Rede,  es 
handelt  sich  um  die  verschiedene  Vergrößerung  des  Mondes  und 
der  Sterne,  und  in  der  Tat,  was  weiter  als  eine  halbe  Meile  entfernt 
ist,  pflegt  man  mit  einem  Rohr  von  gleicher  Länge  zu  betrachten  — 
also  —  sollte  man  glauben,  ist  die  ganze  Deduktion  in  nichts  zerfallen; 
aber  Grassi  fährt  fort:  daß  man  so  verfährt,  hegt  nicht  etwa  daran, 
daß  man  nicht  strenggenommen  auch  jetzt  noch  für  größere  Ent- 
fernungen eine  weitere  Verlängerung  anwenden  müßte,  sondern 
daran,  daß  diese  Verlängerung  eine  so  geringe  wird,  daß  kein  großer 
Unterschied  ist,  wenn  man  sie  ganz  vernachlässigt  —  streng  mathe- 
matisch geredet,  müsse  jedoch  die  Verlängerung  immer  weiter  ge- 
trieben werden  und  so  auch  die  Fixsterne  mit  einem  kürzeren  Fern- 
rohr betrachtet  werden  als  der  Mond. 

Daß  mit  diesem  „strenggenommen"  die  Nichtigkeit  der  ganzen 
Beweisführung  eingeräumt  ist,  weiß  Grassi  geschickt  zu  verdecken. 
Nach  all  den  leeren  Worten  hat  er  den  Mut,  den  Schein  einer  klein- 
lichen Spitzfindigkeit  auf  Gahlei  zu  werfen.  Er  läßt  ihn  —  wie  über- 
rascht durch  die  scharfe  Logik  des  Gegners  —  einwenden:  daß  die 
verschieden  verlängerten  Instrumente  verschiedene  Instrumente  seien. 
Die  klein hche  Bemerkung  gibt  Grassi  Gelegenheit,  zu  zeigen,  daß 
er  nicht  streitsüchtig  sei;  großmütig  geht  er  auf  die  Betrachtung 
ein:  nichts  ist  am  Sinn  seiner  Schlußfolgerung  geändert,  wenn  er, 
nachgiebig  in  Worten,  sie  so  gestaltet:  was  mit  verschiedenen  In- 
strumenten betrachtet  werden  muß,   wird   verschieden  vergrößert; 


1 


—     29     — 

aber  Nahes  und  Fernes  muß  mit  verschiedenen  Instrumenten  be- 
trachtet werden:  also  \Yird  Nahes  und  Fernes  durch  das  Instrument 
verschieden  vergrößert. 

Jetzt,  wo  ein  neuer  Wortschwall  den  Leser  betäubt  hat,  läßt 
er  in  der  Tat  den  Gegner  auf  den  Kern  der  Sache  kommen,  ,, streng 
mathematisch  genommen",  sagt  Galilei,  ist  das  völlig  wahr,  aber 
das  kommt  hier  nicht  in  Betracht,  denn  da  für  Mond  und  Sterne 
ein  Rohr  von  gleicher  Länge  verwandt  vdrd,  so  kann  die  ungleiche 
Entfernung  nicht  die  Ursache  der  ungleichen  Vergrößerung  sein, 
und  nun,  nach  allem  seitenlangen  Gerede,  gibt  Grassi  zu:  es  möge 
so  sein,  es  möge  vielleicht  in  Wirklichkeit  die  Vergrößerung  von 
Mond  und  Sternen  die  gleiche  sein,  aber  sie  scheine  verschieden, 
und  wenn  Galilei  das  durch  die  Eigentümlichkeit  des  Fernrohrs 
deute,  daß  es  die  leuchtenden  Himmelskörper  ihres  Strahlenhaars 
beraube  —  so  sei  gerade  dadurch  als  völlig  w^ahr  erwiesen,  daß,  sofern 
nur  alles  erwogen  wird,  was  sich  aus  der  Optik  ergibt,  die  Sterne 
durch  das  Fernrohr,  wenigstens  in  der  Erscheinung,  weniger  ver- 
größert w^erden  als  der  Mond.  Zeige  doch  Galilei  selbst,  daß  die 
Planeten,  je  näher  der  Sonne,  um  so  mehr  an  dem  fremdartigen  Licht- 
schein der  selbstleuchtenden  Körper  teilnehmen,  und  darum  um  so 
weniger  vergrößert  erscheinen. 

So  wird  denn  schließlich  als  unbestreitbar  erkannt,  daß  der 
Komet  von  1618,  da  er  nur  sehr  wenig  vergrößert  erschien,  um  vieles 
weiter  als  der  Mond  von  uns  entfernt  zu  nennen  war.  Galilei  selbst, 
so  schließt  der  Gegner  triumphierend,  sieht  nun  ein,  wie  er  mit  Un- 
recht unsere  Ansicht  über  das  Fernrohr  bekämpft  hat,  denn  er  er- 
kennt, daß  sie  der  Wahrheit,  wie  seinen  eigenen  Ansichten  nirgends 
widerspricht,  er  hätte  es  früher  einsehen  können,  wenn  er  mit  ruhigerem 
Sinn  geprüft  hätte." 

So  wird  die  Fiktion,  der  Verfasser  sei  im  Eecht,  in  Worten  bis 
zum  Schlüsse  durchgeführt,  während  dem  Inhalte  nach  alles  zurück- 
genommen ist,  was  Guiducci  bestritten  hatte. 

Es  bedarf  keines  weiteren  Beispiels,  um  Sarsis  „Wage"  zu  kenn- 
zeichnen. Trotz  Galileis  Irrtum  bedeutete  im  Grunde  auch  Sarsis 
Schrift  nur  einen  weiteren  Waffengang  in  dem  Kampf  auf  Tod  und 
Leben,  den  gegen  ihn  und  seine  Wissenschaft  die  Scheinwissenschaft 
der  Schule  zu  führen  hatte. 

Aber  für  Galileis  persönliches  Schicksal  wird  eine  neue,  ernste 


—     30     — 

Wendung  dieses  Streits  dadurch  bezeichnet,  daß  die  mächtigsten 
unter  den  Gegnern,  die  Jesuiten,  sieh  mit  offenen  Worten  die  Be- 
leidigten nennen  und  keinen  Zweifel  darüber  lassen,  daß  sie  ent- 
schlossen sind,  als  Feinde  zu  erwidern,  wo  sie  persönlicher  Anfeindung 
zu  begegnen  glaubten.  Als  Feindseligkeit  gegen  das  Collegium  Roma- 
num  wird  die  Bekämpfung  seines  Vertreters  betrachtet,  man  zeiht 
Galilei  des  Undanks,  da  ihm  die  gelehrten  Väter  stets  mit  Achtung 
begegnet  seien,  ja,  ihn  ihrer  Freundschaft  gewürdigt  hätten.  Man 
hält  ihm  vor,  daß  in  demselben  Collegium  Romanum,  in  seiner  Gegen- 
wart und  in  ehrenvollster  Weise  für  ihn,  öffentlich  über  die  Medicei- 
schen  Gestirne  und  das  Fernrohr  disputiert  sei,  und  ebenso  sei  an 
derselben  Stelle  mit  vollem  Beifall  seine  Lehre  von  den  schwimmenden 
Körpern  zur  Sprache  gebracht,  ja,  als  später  Grassi  erfahren  habe, 
daß  Galilei  durch  eine  Stelle  seiner  Rede  sich  gekränkt  gefühlt, 
habe  er  sich  beeilt,  die  bestimmteste  Versicherung  zu  erteilen, 
daß  ihm  nichts  ferner  gelegen  habe,  als  Galilei  zu  verletzen. 
Galilei  habe  sich  für  befriedigt  erklärt,  nun  aber  zeige  er,  daß 
er  lieber,  soviel  an  ihm  sei,  auf  den  Freund  verzichten  wolle,  als 
auf  ein  Wort. 

So  geht  ein  bitterer,  feindseliger  Ton  durch  die  Polemik  der 
„Wage";  es  war  nur  ein  leichter  Ausbruch  des  Übelwollens,  wenn 
Sarsi  wie  im  Vorübergehn  das  Fernrohr  ,,zwar  nicht  sein  Kind,  doch 
seinen  Zögling"  nennt.  ^  Sarsi  wußte,  daß  er  mit  diesem  Wort  Galileis 
verwundbare  Stelle  traf.  Ernsterer  Art  waren  seine  wiederholten 
Hindeutungen  auf  das  Dekret  der  Index-Kongregation  gegen  die 
copernicanische  Lehre;  die  Absicht,  zu  provozieren,  tritt  hier  zweifellos 
zutage.  Diese  Äußerungen  gewähren  uns  zugleich  eigentümlichen 
Aufschluß  über  die  Bedeutung,  die  dem  Dekret  von  den  treuen  An- 
hängern der  Kirche  beigemessen  wurde.  Man  betrachtete  nicht  etwa 
die  Erörterungen  über  alle  Gegenstände,  die  mit  der  Bewegung  der 
Erde  zusammenhängen,  als  ein  unzugängliches  Gebiet,  die  kirchhche 
Entscheidung  wird  vielmehr  als  ein  Bew^eis  wie  jeder  andere  in  die 
Erörterung  eingeführt;  was  ohne  die  Bewegung  der  Erde  nicht  zu 
erklären  ist,  gilt  bei  Sarsi  schon  dadurch  für  widerlegt,  für  unmöghch 
in  demselben  Sinne,  wie  eine  Behauptung,  die  mit  Grundlehren  der 
Logik  und  der  Mathematik  im  Widerspruch  steht. 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  127. 


—  al- 
so rechtfertigt  er  seinen  Lehrer  gegen  Giiiduccis  Vorwurf,  daß 
er  die  Möglichkeit  einer  geradlinigen  Bewegung  der  Kometen  gar 
nicht  in  Betracht  gezogen;  niemand  habe  bisher  eine  solche  Annahme 
zur  Sprache  gebracht  außer  Kepler.  Der  aber  müsse,  um  durch  seine 
Theorie  alle  Erscheinungen  zu  erklären,  die  Bewegung  der  Erde  zu  Hilfe 
nehmen.  Dies  sei  den  Katholiken  in  keiner  Weise  gestattet,  und  deshalb 
habe  er  geglaubt,  eine  Meinung  als  unrichtig  betrachten  zu  müssen, 
die  man  mit  frommem  und  heiligem  Sinne  nicht  vertreten  könne, ^ 
Daß  Sarsi  die  Gelegenheit  sucht,  die  Rede  auf  Copernicus  zu 
bringen,  sieht  man  gleich  anfangs.  Guiducci  hat  bemerkt,  der  Redner 
des  CoUegium  Romanum  sei  in  allen  Dingen  mit  Tycho  einverstanden. 
Er  denkt  dabei  an  nichts  weniger  als  an  Tycho  Brahes  Weltsystem, 
aber  Sarsi  paßt  es,  die  Worte  so  zu  wenden.  Er  leugnet  zwar,  daß 
irgendetwas  außer  der  Ortsbestimmung  der  Kometen  in  jener  Rede 
tychonisch  sei,  aber  es  sei,  ruft  er,  angenommen,  er  hätte  dem  Tycho 
zugestimmt.  ,,Was  für  ein  Verbrechen  wäre  das?  Wem  sonst  soUte 
er  sich  anschließen?  Dem  Ptolemäus?  Dessen  Anhängern  der  Mars, 
seit  er  uns  so  viel  näher  gerückt  ist,  das  Messer  an  die  Kehle  setzt? 
Dem  Copernicus?  Aber  wer  religiös  ist,  ^vi^d  vielmehr  von  ihm  sich 
abzuwenden  suchen  und  wird  die  kürzlich  verdammte  Hypothese 
gleichermaßen  verdammen  und  verwerfen.  So  bliebe  von  allen  Tycho 
übrig,  den  man  zum  Führer  durch  die  unbekannten  Bahnen  der 
Gestirne  wählen  könnte.  Warum  also  ereifert  sich  Galilei  ^^•ider 
meinen  Lehrer,  daß  er  ihn  nicht  verschmäht?" - 

Fand  Sarsi  es  für  seine  Zwecke  nützlich,  in  so  willkürlicher  IVIiß- 
deutung  Vorv^iirf  und  Zorn  zu  verdichten,  so  konnte  er  sich  um  so 
weniger  die  Verdächtigung  entgehen  lassen,  die  ihm  der  Gegner  in 
einer  Art  von  Selbstanklage  arglos  dargeboten  hatte. 

Bei  der  Erörterung  der  geradlinigen  Bewegung,  die  Galilei  dem 
Kometen  zuschreibt,  hatte  Guiducci  hinzugefügt,  daß  auf  diese  Weise 
eine  stete  Annäherung  an  das  Zenith  erfolgen  müsse;  um  die  tat- 
sächlich beobachtete  Abweichung  des  Kometen  nach  Xorden  zu 
erklären,  sei  entweder  eine  weitere  Ursache  hinzuzunehmen  oder 
eine  ganz  andere  Erklärung  aufzustellen.  ,,Das  letztere  zu  tun,  ver- 
mag er  nicht,  das  erstere  wagt  er  nicht."  ^ 

1  Ed.  Naz.  VI  p.  119f. 
-  Ed.  Naz.  VI  p.  116. 
3  Ed.  Naz.  VI  p.  146. 


—     32     — 

Deutlich  genug  weisen  die  Worte  auf  eine  Mitwirkung  der  Erd- 
bewegung, aber  Guiducci  beseitigt  jeden  Zweifel  über  die  Absicht, 
wenn  er  fortfährt:^  „Schon  Seneca  hat  erkannt,  und  geschrieben, 
wie  wichtig  für  die  sichere  Bestimraung  dieser  Dinge  es  wäre,  eine 
zuverlässige  und  zweifellose  Kenntnis  der  Anordnung  und  Folge 
der  Zustände  und  Bewegungen  der  Weltkörper  zu  besitzen;  eine 
solche  ist  unserem  Zeitalter  vorenthalten,  deshalb  müssen  wir  uns 
mit  dem  wenigen  begnügen,  was  wir  so  im  Dunkeln  mutmaßen 
können,  bis  uns  die  wahre  Konstitution  der  Teile  der  Welt  kund- 
getan wird,  denn  die  uns  Tycho  versprochen,  ist  unausgeführt  ge- 
bheben." 

Ivlar  genug  sagen  die  Worte:  w  könnten  copernicanisch  er- 
klären, wenn  wir  dürften,  aber  wii*  erkennen  an,  daß  war  nicht  dürfen  — 
das  war  die  Sprache,  in  der  die  Copernicaner  ihre  Unterwerfung 
unter  das  Dekret  bekundeten.  Aber  die  Kirche  forderte  den  Verzicht 
nicht  nur  auf  Äußerungen,  sondern  auf  die  Überzeugung  selbst,  die 
sie  verdammt  hatte.  Es  konnte  Sarsi  nicht  schwer  sein,  den  ver- 
botenen Glauben  hinter  den  gehorsamen  Worten  zu  entdecken.  „Es 
ist  doch  zu  ver\\^mdern",  schreibt  er,  „daß  ein  offener  und  durchaus 
nicht  ängstlicher  Mensch  plötzlich  von  solcher  Furcht  befallen  wird, 
daß  er  nicht  wagt,  das  Wort,  das  er  im  Sinne  hat,  vorzubringen. 
Ich  aber  habe  nicht  das  Talent,  zu  raten  —  ich  frage  also,  ob  diese 
weitere  Bewegung  —  Guiducci  hat  freilich  nur  von  weiterer  Ursache 
geredet  —  durch  die  er  trefflich  alles  erklären  könnte  und  die  er 
nicht  vorzubringen  wagt,  seinem  kometarischen  Dunst  zukommen 
soll  oder  einem  andern  Etwas,  dessen  Bewegung  nachher  den  Schein 
einer  Bewegung  des  Kometen  hervorruft."^ 

Sarsi  kann  diesen  andern  Körper  nicht  finden,  „denn  da  es  für 
Galilei  keine  ptolemäischen  Himmelskreise  gibt,  da  nach  seinem 
System  im  Himmel  nichts  Festes  sich  findet,  so  wird  er  nicht  glauben, 
daß  der  Komet  durch  die  Bewegung  jener  Kreise  Bewegungen  an- 
nehme, die  nach  seiner  Meinung  nirgends  zu  finden  sind.  Aber  da 
höre  ich  eine  Stimme  leise  und  schüchtern  mir  ins  Ohr  flüstern  — 
die  Bewegung  der  Erde.  Hebe  dich  von  mir,  du  Wort,  der  Wahrheit 
fremd,  und  frommen  Ohren  hart.    Wahrlich,  Vorsicht  war's,  es  mit 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  98f. 
-  Ed.  Naz.  VI  p.  145. 


—     33     — 

verhaltener  Stimme  zu  flüstern;  aber  stände  die  Sache  so,  so  wäre 
es  um  Galileis  Meinung  geschehen,  die  auf  keinem  andern  Grunde 
ruhte,  als  auf  diesem  falschen.  Denn  wenn  die  Erde  sich  nicht  be- 
wegt, so  stimmt  diese  geradlinige  Bewegung  mit  den  Beobachtungen 
des  Kometen  nicht,  aber  daß  die  Erde  sich  nicht  bewegt,  ist  bei  den 
Katholiken  gewiß;  es  wird  also  ebenso  gewiß  sein,  daß  diese  gerad- 
linige BevN'egung  mit  den  Kometenbeobachtungen  durchaus  nicht  im 
Einklang  und  deshalb  nicht  tauglich  ist,  unsere  Sache  zu  entscheiden; 
auch  glaube  ich,  schließt  er  mit  heuchlerischer  IVIiene,  daß  solches 
nie  Galilei  in  den  Sinn  gekommen,  denn  ich  habe  ihn  immer  als  fromm 
und  religiös  gekannt."^ 

Kaum  vier  Jahre  waren  seit  der  Denunziation  der  Dominikaner 
verflossen,  und  schon  hören  wir  von  neuem  Lorinis  treuherzige  Weise : 
fern  sei  es  von  mir,  daß  ich  sie  nicht  für  gute  Christen  hielte.  An- 
deuten wollte  Grassi  wenigstens,  über  welche  Waffen  man  für  den 
weiteren  Streit  zu  gebieten  hatte.  Vorläufig  genügte  der  literarische 
Triumph;  daß  Galilei  durch  seinen  Gegner  „vernichtet"  sei,  galt 
unter  den  Jesuiten  für  ausgemacht;  sie  verkündeten  es  laut,  niemand 
bemühte  sich,  zu  verheimlichen,  daß  die  ,,Wage"  aus  dem  Collegium 
Romanum  konmie,  daß  Sarsi  und  Grassi  dieselbe  Person  sei.  Un- 
mittelbar nach  dem  Erscheinen  (Oktober  1619)  überbrachte  Grassi 
selbst  seine  Schrift  dem  Giovanni  CiampoH"^,  den  er  als  Galileis  Ver- 
ehrer kannte,  er  sagte  ihm,  er  habe  seine  Gründe  vorgetragen,  so 
gut  er  gekonnt,  habe  jedoch  stets  ehrenvoll  von  Galilei  geredet. 
Von  solcher  persönlichen  Rücksicht  konnten  allerdings  die  Leser 
der  jjWage"  nicht  viel  gewahren,  vielmehr  erregten  der  anmaßende 
Ton,  die  boshaften  Spaße  der  Schrift  den  lebhaftesten  Unwillen  bei 
allen,  die  auf  Galileis  Seite  standen.  Galilei  selbst  war  überrascht, 
die  Unwissenheit  und  Unwahrheit  des  Gegners  befremdete  ihn  in 
gleichem  Maße  wie  die  feindselige  Haltung,  er  konnte  sich  kaum 
entschließen,  Ciampolis  Versicherungen  zu  glauben,  daß  wirklich 
Grassi  der  Verfasser  sei. 

Daß  eine  Erwiderung  auf  die  „Wage"  unerläßlich  war,  begriff 
ein  jeder.  Es  handelte  sich  nicht  nur  um  einen  wissenschaftlichen 
Streit,  um  eine  Abwehr  sophistischer  Angriffe  —  es  war  durch  Grassis 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  145f. 
-  Ed.  Naz.  XII  p.  494f. 

Wohlwill,  Galilei.    II. 


—     34     — 

Schrift  vor  allem  Guiducci  enipfindlich  beleidigt,  mit  ihm  die  Floren- 
tiner Akademie,  in  deren  Namen  er  gesprochen  hatte,  nnd  die  Aka- 
demie der  Lyncei.  der  er  gleichfalls  angehörte,  die  letztere  überdies 
durch  ein  mutwilliges  Spielen  mit  ihrem  Namen,  das  um  der  Ehre 
willen  nicht  ungeahndet  bleiben  durfte.  Diese  Schrift  unbeantwortet 
lassen  wäre  für  Freund  und  Feind  mit  einem  Zugeständnis  der  Nieder- 
lage gleichbedeutend  gewesen,  und  als  unterliegenden  Teil  hätte  man 
nach  allen  vorausgegangenen  Kämpfen  nicht  mehr  Galilei  allein, 
sondern  „die  neue  Wissenschaft",  als  Sieger  im  Streit  nicht  Grassi, 
sondern  die  Schulwissenschaft  und  das  Collegium  Romanum  be- 
trachten müssen.  So  wurde  auch  die  Erwiderung  als  gemeinsame 
Angelegenheit  von  den  Gesinnungsgenossen  in  Rom  und  Florenz 
nach  allen  Richtungen  erwogen  und  erörtert,  mit  lebhaftestem  Eifer 
insbesondere  im  Ki'eis  der  Lyncei  in  Rom;  wieder  waren  es  hier  die 
drei:  Fürst  Cesi,  Ciampoli  und  Virginio  Cesarini,  die  durch 
die  Liebe  zu  Galilei  zusammengeführt,  als  treue  Verbündete  für  ihn 
und  mit  ihm  ratschlagten,  was  im  Namen  der  Wissenschaft  und  der 
persönhchen  Ehre  geschehen  müsse  und  ohne  Gefahr  geschehen 
könne.  Denn  darüber  war  man  einig,  daß  den  Jesuiten  gegenüber 
Vorsicht  angebracht  sei;  „sie  könnten  einer  Welt  zu  schaffen  machen", 
schrieb  Francesco  Stelluti^  in  der  gleichen  Sache  an  Galilei;  es 
galt,  den  ungebührhchen  Angriff  zurückzuweisen,  ohne  den  reiz- 
baren Gegner  zum  unversöhnlichen  Feind  zu  machen. 

Anfangs  schien  es  den  Freunden  am  richtigsten,  wenn  Gahlei 
in  Person  dem  ganzen  Streite  fremd  bhebe,  habe  Grassi,  der  Meister, 
statt  seiner  den  Schüler  reden  lassen,  so  sei  es  nun  seiner  Würde 
gemäß,  wenn  auch  er  dem  Schüler  die  Entgegnung  übertrage.  Wolle 
aber  Gahlei  persönhch  in  die  Schranken  treten,  so  sei  es  richtig, 
nicht  einer  Maske  zu  antworten,  sondern  diese  Antwort  an  einen 
Dritten,  wenn  auch  nur  der  Form  nach,  zu  richten.  Galilei  war  mit 
dem  letzteren  einverstanden,  dagegen  fand  er  es  unerläßlich,  die 
Zurückweisung  des  Jesuiten  selbst  zu  übernehmen.  Als  bald  nach 
dem  Erscheinen  der  Wage  Guiducci  der  Ehre  wegen  eine  kürzere 
Erwiderung  veröffenthchte,  durfte  er  bereits  auf  „einen  von  höherem 
Wert"  verweisen,  der  demnächst  vollständig  sagen  werde,  was  er 
nur  andeute.    Diese  Erwiderung  Guiduccis  zeigt  zur  Genüge,  daß 


1  Ed.  Naz.  XIII  p.  20—21,  30—31. 


—     35     — 

er  nicht  der  Mann  war,  statt  Galilei  einen  Gegner  von  Grassis  Schlappe 
abzutun.  Schon  daß  er  es  angemessen  fand,  seine  Auslassungen  in 
die  Form  eines  Schreibens  an  den  P.  Tarquinio  Galluzzi^  den 
Ordensgenossen  des  P.  Grassi  zu  bringen,  läßt  eine  kräftige  Abwehr 
nicht  erwarten.  Der  Inhalt  entspricht  dieser  Form  im  vollsten  Maße. 
Guiducci  war  selbst  Schüler  des  Jesuitenkollegiunis,  er  bekennt,  daß 
es  ihn  aufs  tiefste  schmerzen  würde,  wenn  er  einsehen  müßte,  daß 
er  durch  allzu  freie  Äußerungen  den  Verdacht  habe  hervorrufen 
können,  daß  ihm  nicht  das  Ansehen  und  die  Würde  des  Collegium 
liomanum  am  Herzen  liege,  in  dem  er  mit  unglaublicher  und  wahr- 
haft väterlicher  Liebe  viele  Jahre  lang  von  Kindheit  an  erzogen  und 
in  den  erhabensten  Wissenschaften  unterrichtet  sei.  Sein  Brief  will 
vor  allem  diesen  Vorwurf  zurückweisen;  er  beruft  sich  zu  seiner  Ver- 
teidigung darauf,  daß  er  die  Kede,  die  er  als  Konsul  der  Florentiner 
Akademie  gehalten,  zuvor  verschiedenen  einsichtigen  Männern  und 
insbesondere  auch  solchen,  die  mit  den  Vätern  der  Gesellschaft  Jesu 
in  naher  Beziehung  stehen,  zur  Prüfung  vorgelegt  und  ihnen  volle 
Freiheit  gegeben  habe,  nach  Belieben  zu  beseitigen,  was  vielleicht 
Verletzendes  darin  enthalten  sei;  doch  habe  man  nichts  der  Art  darin 
gefunden.  Er  finde  noch  jetzt  nichts,  was  die  Vorwürfe  Sarsis  recht- 
fertige, wenn  man  nicht  etwa  schon  das  als  Beleidigung  betrachten 
wolle,  daß  er  wage,  von  den  Ansichten  des  P.  Grassi  abzuweichen. 
Darüber  aber  habe  ihn  schon  vor  längerer  Zeit  der  ehrwürdige  Pater, 
an  den  er  schreibt,  belehrt;  er  habe  ihm  erklärt:  es  stehe  in  bezug 
auf  solche  Gegenstände  einem  jeden  frei,  dieser  oder  jener  Meinung 
zu  sein,  und  kein  vernünftiger  Mensch  könne  es  deshalb  übel  auf- 
nehmen, wenn  er  von  der  Lehre  des  P.  Grassi  abweiche,  sofern  nur 
nicht  die  Grenzen  des  Disputierens  überschritten  würden;  dieser 
letzteren  Warnung  sei  er  eingedenk  gewesen. 

Er  scheint  sie  auch  weiter,  im  zweiten  Teil  seine?  Schreibens, 
der  sich  gegen  Sarsi  wendet,  gewissenhaft  vor  Augen  zu  halten.  In 
ziemlich  breiter  Ausführung  erklärt  er,  vde  wenig  Sarsis  gering- 
schätzige Deutung  der  Absicht  entspreche,  in  der  er  selbst  das  Ver- 
hältnis des  guten  Kopisten  Galilei  gegenüber  in  Anspruch  genommen 
habe,  wie  Sarsi  willkürHch  auf  die  ganze  Schrift  beziehe,  was  nur 
auf  Galileis  eigentümliche  Theorie  Bezug  habe;  daß  Galilei  selbst 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  6,  8,  183—196. 


—  se- 
in seinen  Briefen  sich  als  Autor  der  Rede  über  die  Kometen  bekannt 
habe,  darf  er  in  Abrede  stellen,  denn  Galilei  leugnet,  was  Sarsi  be- 
hauptet. Von  dem  eigentlichen  Inhalt  der  „Wage"  hebt  Guiducci 
nur  wenige  Punkte  hervor,  in  denen  Sarsi  Äußerungen  seiner  Rede 
willkürUch  entstellt,  und  in  dieser  entstellten  Form  mit  Eifer  be- 
kämpft, und  einige  andere,  in  denen  ihm  die  Widerlegung  seiner 
Behauptungen  durch  Versuche  und  Beweise  keineswegs  genügend 
erscheint.  Er  will  nur  in  diesen  Einzelheiten  den  Irrtum  andeuten, 
für  das  Übrige  verweist  er  auf  die  gründlichere  Prüfung,  die  man  von 
Galilei  zu  erwarten  habe. 

Guiduccis  Urteil  ist  in  diesen  letzten  Abschnitten  bei  aller 
Mäßigung  in  der  Form  entschieden  und  scharf  gefaßt,  aber  weder 
diese  Schärfe,  noch  die  zarte  Ironie,  die  über  dem  ganzen  Schreiben 
liegt,  kommen  dem  stärkeren  Eindruck  gegenüber  in  Betracht,  daß 
der  Respekt  vor  den  Jesuiten  den  Vertreter  der  freien  Wissen- 
schaft beherrscht.  Guiducci  selbst  scheint  das  Bedürfnis  empfunden 
zu  haben,  sich  durch  vertrauliche  Bosheit  von  den  öffentlichen  Re- 
verenzen zu  erholen.  In  dem  Brief,  mit  dem  er  seine  Erwiderung 
dem  Fürsten  Cesi  übersendet\  meint  er,  er  habe  dem  Herrn  Grassi 
einen  wahren  Dienst  er^^^esen,  daß  er  mit  Sarsi  angebunden,  statt 
sein  Anagramm  zu  lösen  (aus  Lotario  Sarsi  Sigensano  den  Horatio 
Grassi  Salonensi  zu  enthüllen),  da  sich  aus  dieser  Lösung  klar  genug 
das  Urteil  über  den  Geist  seiner  Schrift  entnehmen  lasse,  wenn  man 
sage:  der  Herr  Grassi  sei  wie  von  Salons  Blut,  so  auch  von  salonen- 
sischer  Gelehrsamkeit  und  Wissenschaft;  von  Salon  erzähle  näTuüch 
Strabo  in  seiner  Geographie:  es  sei  ein  Bezirk  Bithyniens,  wohl- 
geeignet zur  Ochsenzucht. 

Guiduccis  Brief  an  den  P.  Galluzzi  fand,  wie  es  scheint,  nur 
wenig  Beachtung,  nicht  größeren  Eindruck  machte  vermutlich  eine 
andere  Entgegnung,  in  der  G.  B.  Stelluti,  ^ie  berichtet  wird,  in 
breiter  scholastischer  Form  für  Guiducci  einzutreten  versuchte.^ 
Auch  hier  mrd  auf  Galilei  verwiesen.  Der  Herausgeber  spricht  im 
Vorwort  die  Hoffnung  aus:  Die  kurzen  Andeutungen  dieser  Schrift 
werden  für  Galilei  eine  Mahnung  und  ein  Sporn  zur  Vollendung  des 
umfassenden  Werks  über  denselben  Gegenstand  sein,  dem  der  Ver- 

1  Ed.  Naz.  XIII  p.  41. 

2  Gedruckt  1622  unter  dem  Titel  „Scandaglio  sopra  la  Libra  astro- 
nomicae  filosofica  di  Lotario  Sarsi". 


-      37     — 

fasser  mit  dem  lebhaftesten  Verlangen  entgegensehe,  mit  ihm  alle 
diejenigen,  die  ohne  Leidenschaft  die  AVahrheit  zu  erkennen  streben. 

Galilei  hatte  sich  mittlerweile  dafür  entschieden \  seine  Antwort 
an  den  Freund  Virginio  Cesarini  zu  richten.  Cesarini  nahm  das 
Anerbieten  als  unschätzbare  Ehre  an.  Einen  Augenblick  hatte  Cesi 
für  denselben  Zweck  P.  Grienberger  ins  Auge  gefaßt;  es  schien  ein 
vortreffliches  Mittel,  den  Zorn  des  Collegium  Romanum  zu  be- 
schwören, wenn  man  von  dem  schlechten  an  den  besseren  Gelehrten 
des  Ordens  appellierte,  aber  Ciampoli  meinte,  man  dürfe  dem  armen 
Pater  nicht  die  Unannehmlichkeiten  bereiten,  die  ihm  daraus  hervor- 
gehen müßten.  Die  Wahl  Cesarinis  empfahl  sich  durch  das  nahe 
Verhältnis,  in  dem  Virginio  und  sein  Haus  zu  den  römischen  Jesuiten 
standen;  vor  seinen  Augen  hatte  P.  Grassi  die  Versuche  angestellt^, 
durch  die  er  den  Aristoteles  gegen  Galilei  zu  rechtfertigen  glaubte; 
die  „Wage"  nennt  seinen  Xamen  mit  den  schmeichelhaftesten  Bei- 
wörtern; niemand  schien  besser  geeignet,  eine  Art  Vermittlerrolle 
zu   übernehmen.^ 

Die  Freunde  wünschten  jedoch  den  Schutz,  den  dieser  befreun- 
dete Mann  verhieß,  durch  vorsichtig  abwehrende  Bemerkungen  zu 
verstärken.  Sie  hielten  es  für  unmöglich,  wie  Galilei  gedacht  hatte, 
kurzweg  nicht  wissen  oder  nicht  glauben  zu  wollen,  daß  die  ,,Wage" 
von  einem  der  Gesellschaft  Jesu  geschrieben  sei,  die  Jesuiten  hätten 
kein  Geheimnis  daraus  gemacht,  sondern  sich  öffentlich  dessen  ge- 
rühmt und  Viktoria  gesungen;  so  sei  es  gar  zu  unwahrscheinlich, 
daß  allein  von  allen  Galilei,  den  es  am  meisten  anging,  nichts  davon 
erfahren  haben  sollte.  Dagegen  entwarf  Ciampoli  als  gewandter 
Hofmann  den  Plan  eines  Vorworts,  das  Galilei  nach  seiner  Weise 
bearbeiten  könne.*  Galilei  —  sollte  es  darin  heißen  —  habe  vor 
einigen  Monaten  gehört,  daß  von  den  Jesuitenvätern  ein  Buch  gegen 
ihn  geschrieben  werde.  Auf  diese  Weise,  meinte  Ciampoli,  könne 
man  den  Vätern  seine  Ehrfurcht  beweisen,  ohne  auf  die  Verteidigung 
zu  verzichten. 

Galileis  Antwort  auf  diesen  Vorschlag  ist  nicht  bekannt,  aber 
aus  der  Schrift  gegen  Sarsi  entnehmen  wir,  daß  Ciampolis  Vorwort 

1  Ed.  Naz.  XIII  p.  98. 

■  Ed.  Naz.  VI  p.  157,  474. 

■■  Ed.  Naz.  VI  p.  199,  213. 

*  Ed.  Naz.  III  p.  809—860. 


—     3S     — 

nicht  seinen  Beifall  gefunden  hat,  —  seiner  ursprünglichen  Absicht 
getreu,  ließ  er  unerwähnt,  daß  ihm  von  dem  Verfasser  und  seinen 
Beziehungen  das  geringste  bekannt  sei. 

Manches  wirkte  zusammen,  um  die  Veröffentlichung  der  längst 
angekündigten  Schrift  zu  verzögern;  ernstere  Krankheitsanfälle 
unterbrachen  in  jenen  Jahren  zu  wiederholten  Malen  Galileis  Tätig- 
keit; diese  immer  wiederkehrenden  Leiden  hatten  ihn  schon  im 
jN'ovember  1619  genötigt,  die  Fortsetzung  seiner  Lieblingsarbeit, 
die  Beobachtung  der  Jupiterstrabanten  aufzugeben;  sie  erschwerten 
ihm  doppelt  die  undankbare  Polemik  gegen  Grassi^;  dazu  kam,  daß 
ihm  der  Stoff  unter  den  Händen  \mchs,  die  Fülle  der  Gegen- 
stände, die  er  teils  kritisch  zu  zergliedern,  teils  lehrend  vorzutragen 
nötig  fand,  erweiterte  ihm  gegen  seine  Absicht  den  Brief  zu  einem 
umfangreichen  Buch. 

In  Rom  vernuitete  man,  vielleicht  nicht  ohne  Grund,  daß  der 
Überdruß  am  Streit  mit  dem  untergeordneten  Gegner  Galilei  zeit- 
weilig veranlaßte,  die  Vollendung  hinauszuschieben;  auf  der  anderen 
Seite  deuteten  die  Gegner  sein  Schweigen  in  ihrem  Sinn  und  sprachen 
um  so  zuversichtlicher  von  ihrem  Siege.  So  wiederholten  sich  immer 
von  neuem  die  dringenden  Bitten,  die  Mahnungen  der  Freunde  und 
Akademiegenossen,  Galilei  möge,  was  um  seines  Namens  willen  über- 
flüssig sei,  lun  ihretwillen  nicht  aufgeben  und  nicht  länger  verzögern, 
wenn  ihm  der  erw^orbene  Ruhm  genüge,  so  möge  er  doch  der  Welt 
nicht  seines  Geistes  Schätze  vorenthalten.  Erst  im  Oktober  1622, 
drei  Jahre  nach  dem  Erscheinen  der  „Wage",  sandte  Galilei-  sein 
Manuskript  nach  Rom.  „Entschuldigt  meine  Langsamkeit",  schrieb 
er  dabei,  „ich  habe  nicht  anders  gekonnt".  Der  Abrede  gemäß  war 
die  Schrift  in  die  Form  eines  Briefes  an  Virg.  Cesarini  gekleidet.^ 
Überdies  hatte  Galilei  ihr  den  Titel  „II  Saggiatore",  Probier-  oder 
Goldwage,  gegeben;  er  w^ollte  in  der  Metapher  des  Gegners  bleiben, 
aber  dabei  ausdrücken,  daß  Sarsi,  als  er  die  Behauptungen  Guiduccis 
auf  ihr  Gewicht  geprüft,  „sich  einer  etwas  zu  groben  Wage  bedient 
habe",  er  woUe  sich  zum  gleichen  Zweck  ,, einer  Wage  der  Probierer 
bedienen,  die  genau  genug  ist,  um  weniger  als  den  sechzigsten  Teil 
eines  Gramms  anzuzeiffen".    Nach  Galileis  Wunsch  sollte  die  Hand- 


1  Ed.  Naz.  XVIII  p.  423—425;  XII  p.  421,  422,  435,  438,  439,  443, 
461,   471. 

2  Ed.  Naz.  XIII  p.  80,  90,  98. 


—     39     — 

Schrift  zunächst  von  säiiitliclieii  Mitgliedern  der  Akademie  geprüft 
und  es  sollte  von  jedem  bezeichnet  ^Yerden,  \Yas  er  gemäßigt,  geändert 
oder  verschwiegen  wünsche.^  Sie  fanden  nur  Treffliches  zu  rühmen; 
nur  die  näheren  Freunde  gestatteten  sich  in  aller  Bescheidenheit, 
auf  geringfügige  Einzelheiten  hinzudeuten,  die  ihnen  zu  scharf  gefaßt 
oder  sonst  bedenklich  schienen.  Man  beschloß,  das  Werk  auf  Kosten 
der  Akademie  zu  veröffentlichen,  und  zwar  in  Rom,  „der  Macht 
der  Gegner  zum  Trotz".  Man  wollte,  daß  im  Angesicht  der  Kirche, 
vor  den  Augen  der  Kongregation,  die  den  Copernicus  verurteilt  hatte, 
Galileis  Lehre  approbiert  und  damit  den  neuen  wissenschaftlichen 
Ansichten  Beifall  gezollt  werde,  gerade  jenem  Collegium  Romanum 
gegenüber,  in  dem  noch  im  Anfang  des  letzten  Studienjahres  öffent- 
lich gegen  die  Neuerer  gedonnert  und  in  langer  Rede  dargelegt  war, 
daß  außer  im  Aristoteles  keine  Wahrheit  zu  finden  sei, 

„Wir  werden  uns",  schreibt  Cesarini^,  „gegen  diese  Gegner 
mit  dem  Schüd  der  Wahrheit  bewaffnen  und  überdies  mit  der  Gunst 
der  Oberen."  In  der  letzteren  lag  ohne  Zweifel  der  wirksamere  Schutz 
gegen  die  Intriguen,  durch  die  man  von  gegnerischer  Seite  die  Ver- 
öffentlichung zu  hintertreiben  suchte.  Kaum  war  von  Florenz  aus 
die  Nachlicht  gekommen,  daß  eine  Schrift  gegen  Sarsi  vollendet  und 
nach  Rom  gesandt  sei,  als  vom  Collegium  Romanum  aus  der  Versuch 
gemacht  wurde,  in  den  Besitz  des  Manuskripts  zu  gelangen;  man  trug 
kein  Bedenken,  es  Cesarini  abzufordern.  Cesarini  \\'iderstand  dem 
Andringen  der  Jesuiten;  er  wußte,  daß,  wenn  sie  das  Buch  einmal 
in  Händen  hatten,  sie  die  Wirkung  auf  die  Leser  voraussehen  und  den 
Druck  unmögKch  machen  würden;  hatte  doch  schon  die  Kunde,  daß 
seine  Antwort  da  sei,  bei  der  Schar  der  Durchschnittsgelehrten,  die 
bis  dahin  Grassis  Triumph  gesungen  hatten,  eine  Umstimmung  zur 
Folge  gehabt. 

Cesarini  fand  die  höchste  Vorsicht  um  so  mehr  geraten,  als 
gerade  damals  von  neuem  Äußerungen  des  alten  Übelwollens  gegen 
Galilei  laut  geworden  waren.  In  jenen  Tagen  war  Campanellas 
in  Deutschland  gedruckte  Apologie^  nach  Rom  gekommen;  alsbald 
wurde  dem  Dekret  der  Indexkongregation  gemäß  der  Verkauf  ver- 
hindert.    Man   fand   die   Gelegenheit  günstig,   von  neuem  Verdäch- 

1  Ed.  Naz.  XIII  p.  80,  90,  98. 

2  Ed.  Naz.  XIII  p.  103,  105. 

3  Ed.  Naz.  XIII  p.  106. 


—     40     — 

tigungen  gegen  den  Mann  zu  verbreiten,  zu  dessen  Gunsten  diese 
Apologie  geschrieben  war.  Cesarini  durfte  Galilei  durch  die  Ver- 
sicherung beruliigen,  es  fehle  ihm  nicht  an  Freunden  und  Beschützern 
gegen  die  Verleumdungen,  die  seine  Unterwerfung  unter  das  Dekret 
der  Index-Kongregation  in  Frage  zu  stellen  suchten. 

Demnach  fand  er  es  angemessen,  den  Druck  des  Werks,  das 
schon  vor  dem  Erscheinen  die  Gemüter  so  lebhaft  in  Anspruch  nahm, 
aufs  möglichste  zu  beschleunigen.  —  Seine  Bemühungen  \vurden 
wesentlich  durch  die  wohlwollenden  Gesinnungen  des  Zensors  der 
Inquisition  erleichtert.  Als  solcher  fungierte  der  Pater  Kiccolo 
Riccardi  vom  Dominikanerorden,  vom  König  von  Spanien  mit 
dem  Beinamen  Padre  Moströ  (^Vunder  der  Gelehrsamkeit)  beehrt. 
Mag  dieser  Name  seinen  Leistungen  und  Kenntnissen  auf  anderm 
Gebiet  gegolten  haben  —  Galilei  gegenüber  bewährte  sich  Riccardi 
als  ein  edelgesinnter  Beschützer  der  freien  Wissenschaft.  Die  Schrift 
gegen  Sarsi  erfüllte  ihn  mit  Bewunderung;  als  er  sie  zu  Ende  gelesen, 
soll  er  mit  den  Worten  des  Julianus  Apostata  „vicisti  Galilaee"  Galilei 
den  Sieg  über  seinen  Gegner  zuerkannt  haben.  Die  Erlaubnis  zum 
Dnick  erteilte  er  in  Ausdiiicken,  die  bei  solcher  Gelegenheit  nicht  oft 
gehört  wurden^:  ,,Ich  habe",  schreibt  er,  „auf  Befehl  des  hoch- 
zuverehrenden P.  Maestro  del  sacro  Palazzo  dieses  Werk  ,n  Saggia- 
tore'  gelesen:  nicht  nur,  daß  ich  nichts  darin  bemerke,  was  gegen 
die  guten  Sitten  wäre  oder  sich  von  der  übernatürhchen  Wahrheit 
unseres  Glaubens  entfernte,  habe  ich  vielmehr  darin  so  viele  schöne 
Betrachtungen  über  die  Naturphilosophie  gefunden,  daß  ich  glaube, 
daß  unser  Jahrhundert  sich  dereinst  nicht  nur  A^ird  rühmen  dürfen, 
der  Erbe  der  mühevollen  Arbeit  dahingegangener  Philosophen  zu  sein, 
sondern  daß  es  der  Entdecker  vieler  Geheimnisse  der  Natur  sei,  die 
jene  nicht  enträtseln  konnten,  und  das  dank  der  feinsinnigen  und 
gediegenen  Spekulation  des  Autors,  in  dessen  Zeit  geboren  zu  sein 
ich  mich  glücklich  schätze,  da  man  das  Gold  der  Wahrheit  nicht 
mehr  gröbhch  mit  der  Marktwage  wog,  sondern  mit  der  feinsten 
Goldwage  zu  wiegen  begann." 

Riccardi  knüpfte  mit  diesen  schmeichelhaften  Worten  frühere  Be- 
ziehungen zu  Galilei  von  neuem  an ;  unmittelbar  darauf  gab  ihm  eine 
Reise  nach  Florenz  Gelegenheit,   dem  Manne,  zu  dessen  Verehrern 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  200. 


—     41     — 

er  sich  seit  längerer  Zeit  zählte,  persönlich  nahezutreten.  Auf  seinen 
Wunsch  führte  ihn  Cesarini  als  seinen  Freund  und  einen  Mann,  der 
wohl  verdiene,  von  Galilei  gekannt  zu  werden,  bei  dem  Freunde  ein.^ 
So  gestaltete  sich  ein  Verhältnis,  das  für  beide  Männer  bald  genug 
eine  verhängnisvolle  Bedeutung  gewinnen  sollte. 

Neben  der  Gunst  des  Zensors  war  es  in  jenen  Tagen  für  Galilei 
von  nicht  geringem  Werte,  daß  seine  nächsten  Freunde  durch  ihre 
Stellung  am  päpstlichen  Hofe  in  hohem  Ansehen  standen 2;  seit 
mehreren  Jahren  war  Ciampoli  zum  Segretario  de'  Brevi  befördert, 
jetzt  ernannte  Gregor  XV.  auch  Virginio  Cesarini  zu  seinem  geheimen 
Kammerherrn. 

In  welcher  Weise  diese  Persönlichkeiten  beim  Papste  für  Galilei 
eintraten,  darüber  belehrt  uns  ein  Brief  Ciampolis  vom  27.  Mai  1623,^ 
Er  berichtet,  daß  er  die  beiden  ersten  Bogen  des  Saggiatore  gelesen. 
,, Heute  Abend  habe  ich  in  einer  sehr  langen  Audienz  bei  unserem 
Herrn  vielleicht  mehr  als  eine  halbe  Stunde  Ihre  ausgezeichneten 
Eigenschaften  geschildert,  was  er  sehr  gern  gehört  hat.  Wenn  Sie 
zu  jenen  Zeiten  (gemeint  sind  die  Jahre  1616—17)  hier  die  Freunde 
gehabt  hätten,  die  jetzt  da  sind,  so  wäre  es  vielleicht  nicht  nötig, 
allerlei  Mittel  zu  ersinnen,  um  jene  bewunderungswürdigen  Gedanken, 
durch  welche  Sie  unsere  Zeit  erleuchtet  haben,  wenigstens  als  philo- 
sophische Poesien  der  Vergessenheit  zu  entreißen." 

Es  bedurfte  dieser  Vorteile,  um  den  gewandten  und  mächtigen 
Feinden  gegenüber  selbst  nur  zum  Worte  zu  gelangen.  Auch  jetzt 
noch  verschmähte  man  das  alte  IVIittel  nicht,  als  wahr  auszugeben, 
was  man  hoffnungslos  wünschte,  es  mußten  die  ersten  Druckbogen 
nach  Florenz  gesandt  werden,  damit  Galilei  den  dortigen  Gegnern 
beweisen  könne:  die  Inquisition  habe  \\irklich  den  Druck  gestattet. 
Nachdem  diese  Erlaubnis  erlangt  war,  trat  kein  anderes  Hindernis  der 
Veröffentlichung  entgegen.  Indessen  verfloß  noch  ein  viertes  Jahr  nach 
dem  Erscheinen  der  „Wage",  bis  Horatio  Grassi  die  vielbesprochene 
Antwort  Galileis  aus  dem  römischen  Buchhändlerladen  empfing.* 

Mit  der  ,, Goldwage"  schließt  Galilei  eine  längere  Pause  in  seiner 
schriftstellerischen   Tätigkeit  ab.      Einleitend    erzählt   er,    ^^^e    das 

1  Ed.  Naz.  XIII  p.  109. 
-  Ed.  Naz.  XIII  p.  69. 
3  Ed.  Naz.  XIII  p.  117f. 
♦  Ed.  Naz.  XIII  p.  145. 


—     42     — 

vielfache  Übelwollen,  dem  seine  Schriften  von  der  ersten  bis  zur 
letzten  ausgesetzt  gewesen  seien,  die  Anfeindungen,  Verdächtigungen 
und  Beraubungen,  die  er  erfahren,  wo  er  Verdienstliches  zu  leisten, 
oder  doch  wenigstens  verdienstlichen  Absichten  zu  folgen  glaubte,  in 
ihm  den  Entschluß  zur  Reife  gebracht  hätten,  fernerhin  durch 
Schweigen  den  Übelgesinnten  die  Gelegenheit  zu  nehmen,  ihre  bösen 
Talente  an  ihm  zu  üben;  so  wenig  es  ihm  an  Stoff  gefehlt  habe,  andere 
Werke  zu  veröffentlichen,  die  vielleicht  nicht  weniger  als  die  früheren 
unerwartete  und  für  die  Xaturlehre  folgenreiche  Ergebnisse  zutage 
gefördert  hätten,  so  habe  er  doch  jener  schlimmen  Erfahrungen  wegen 
vorgezogen,  seine  Gedanken  in  einem  Kreise  von  Männern,  die  ihm 
als  wahre  und  aufrichtige  Freunde  ergeben  seien,  mitzuteilen  und  zu 
besprechen.  Wie  sehr  die  Freunde  bemüht  gewesen,  durch  gute 
Gründe  ihn  in  seinem  Entschlüsse  schwankend  zu  machen,  so  habe 
doch  das  Verlangen,  in  Ruhe  und  ohne  Streit  zu  leben,  für  ihn  den 
Ausschlag  gegeben.  Aber  er  sehe  jetzt,  wie  er  auch  durch  Schweigen 
seinem  Geschicke  nicht  entgehen  könne;  denn  da  er  geschwiegen, 
sei  man,  da  man  ihm  durchaus  etwas  anhaben  wollte,  darauf  ver- 
fallen, die  Schriften  anderer  als  die  seinen  auszugeben.  So  habe 
Lotario  Sarsi,  eine  völlig  unbekannte  Person,  in  der  Rede  des  Mario 
Guiducci  die  Veranlassung  gefunden,  sich  gegen  ihn  zu  wenden  und 
ohne  Achtung  gegen  einen  Mann  von  Guiduccis  Ansehen  ihn  zum 
Verfasser  dieser  Rede  zu  machen,  an  der  ihm  nichts  gehöre,  als  die 
Anerkemiung  und  Ehre,  die  ihm  Guiducci  dadurch  erwiesen  habe, 
daß  er  seiner  Meinung,  die  er  in  jenen  freundschaftlichen  Unter- 
redungen kennen  gelernt,  seine  Zustimmung  gebe.  Selbst  wenn  die 
ganze  Schrift  über  die  Kometen  von  seiner  Hand  wäre  —  was  niemand 
in  den  Sinn  kommen  könnte,  dem  der  Herr  Mario  bekannt  ist  — , 
wie  sollte  man  das  Benehmen  dieses  Sarsi  bezeichnen,  der  so  ver- 
wegen sein  Gesicht  enthüllt  und  die  Maske  abzieht?  Dies  unerwartete 
und  völlig  ungewöhnliche  Verfahren  nötige  ihn,  dem  gefaßten  Ent- 
schlüsse, sich  mit  seinen  Schriften  nicht  mehr  öffentlich  sehen  zu 
lassen,  ungetreu  zu  werden,  er  wolle  das  Seine  tun,  daß  wenigstens 
das  Ungebührliche  einer  solchen  Handlungsweise  nicht  unerkannt 
bleibe,  und  er  hoffe,  dadurch  andern  Leuten  die  Lust  zu  nehmen  — 
wie  man  zu  sagen  pflegt  —  „den  schlafenden  Hund  zu  stören." 

So  tritt  denn  Galilei  als  Guiduccis  Verteidiger  Sarsi  gegenüber. 
Wer  dieser  Lotario  Sarsi  sei,  soll  unerörtert  bleiben,  allerdings  betrachtet 


—     43     — 

Galilei  ihn  als  Maske,  aber  er  hält  es  für  kein  nachahmenswertes  Ver- 
fahren, den  Leuten  die  Maske  abzureißen;  er  nehme  an,  sagt  er,  daß 
bei  seinem  Gegner  die  xVbsicht  der  Verhülhmg  nur  die  sei,  ihn  zu 
freimütiger  Erwiderung  zu  veranlassen,  denn  außer  denen,  die  durch 
die  Maske  ihren  niederen  Stand  verdecken  wollen,  pflegen  auch 
Leute  von  Stand  sich  ihrer  zu  bedienen,  wenn  sie  unter  Verzicht  auf 
die  besondere  Achtung,  die  ihrem  Range  gebührt,  sich  der  Freiheit 
erfreuen  wollen,  mit  jedermann  auf  gleichem  Fuße  zu  verkehren; 
zu  diesen  glaube  er  auch  denjenigen  rechnen  zu  müssen,  der  sich 
unter  der  Maske  eines  Lotario  Sarsi  verberge,  und  wie  er  unerkannt 
sich  Äußerungen  gegen  ihn  gestattet  habe,  deren  er  sich  vielleicht 
bei  offenem  Antlitz  enthalten  hätte,  so,  meint  Galilei,  dürfe  es  ihm 
nicht  unbequem  sein,  wenn  auch  er  sich  gegen  ihn  der  Freiheit  bediene, 
die  im  Verkehr  mit  Masken  üblich  sei,  und  er  besorge  nicht,  daß 
Sarsi  oder  Andere  Worte  auf  die  Wage  legen  würden,  in  denen  er  sich 
vielleicht  freier,  als  ihnen  lieb  ist,  äußere.^ 

So  schreibt  Galilei  mit  Maskenfreiheit  gegen  die  Maske;  auch 
die  Scheidung  zwischen  Grassi,  dem  Lehrer,  und  Sarsi,  dem  Schüler, 
erkennt  er  vollständig  an  und  verwertet  sie  nach  seiner  Weise;  oft 
genug  findet  er  den  Schüler  eines  ehrwürdigen  Lehrers  gänzlich  un- 
würdig, dann  und  wann  kann  er  die  Ähnlichkeit  in  den  großen  Ab- 
surditäten Beider  nicht  verkennen. 


„Die  Goldwage",  die  Galilei  mit  diesen  Vorbemerkungen  ein- 
leitet, gehört  zu  seinen  umfangreichsten  Schiiften;  an  dauerndem 
Ge\vinn  für  die  Wissenschaft  ist  sie  vielleicht  die  ärmste;  aber  ihr 
Wert  ist  nicht  auf  den  Gehalt  an  neuen  Wahrheiten  beschränkt. 
Die  neue  Kometenlehre  war  in  Guiduccis  Discorso  erschöpfend  dar- 
gelegt, sie  weiter  zu  begründen  und  gegen  ernste  Widersprüche  zu 
verteidigen,  hätte  ein  ungleich  geringerer  Aufwand  an  schriftstelle- 
rischen Mtteln  genügt;  man  findet  in  der  Tat  diese  Ausführungen 
im  Saggiatore,  aber  sie  stehen  als  Gegenstand  des  Buches  erst  in 
zweiter  Linie,  seine  wesentliche  Absicht  war  eine  polemische:  der 
Streit  wider  den  Peripatetiker  Horatio  Grassi.  Daß  um  eines  solchen 
Gegners  willen  ein  solches  Buch  geschrieben  wurde,  daß  Galilei  drei 
Jahre   seines   schriftstellerischen    AVirkens   auf   diese   Aufgabe   ver- 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  219f. 


—     44     — 

wenden  konnte,  vergegenwärtigt  uns  den  eigentümlichen  Übergangs- 
zustand  der  Wissenschaft  in  jenen  Tagen:  Für  gelehrte  Leser  war 
die  Grenzlinie  nicht  vorhanden,  die  die  Dispntierübungen  eines  Grassi 
von  der  ernsten  Wissenschaft  trennt.  Aber  unter  Galileis  Händen 
mußte  die  Widerlegung  des  Gegners,  je  gründlicher  sie  war,  um  so 
sicherer  auf  die  Darlegung  dieser  Grenze  hinauskommen;  er  konnte 
Sarsis  Beweise  nicht  zergliedern,  ohne  zugleich  in  ihrem  innersten 
Wesen  die  scholastische  Methode  zu  treffen.  Wuchs  auf  diese  Weise 
das  Buch  weit  über  die  unmittelbare  Veranlassung  hinaus,  so  liegt 
doch  lastend  über  seinen  Blättern  das  Gefühl,  die  Geisteskraft  an  einen 
unwürdigen  Gegenstand  verschwendet  zu  haben.  Überdies  ent- 
ledigte sich  Galilei  seiner  Aufgabe  in  einer  Form,  die  immer  wieder- 
kehrende Äußerungen  dieser  peinlichen  Empfindung  unvermeidlich 
machte.  Satz  für  Satz  und  Wort  für  Wort  unterwarf  er  seiner  strengen 
Wägung,  und  Trugschluß  auf  Trugschluß  war,  was  sie  auswies;  immer 
von  neuem  galt  es,  zu  widerlegen,  was  ohne  Ernst  behauptet  war, 
IVIißdeutungen,  Vorwürfe  von  sich  zu  weisen,  die  der  Gegner  nur 
zum  Schein  vertrat  und  doch  so  vertrat,  daß  er  den  Unkundigen 
täuschte  und  darum  wider  Willen  zur  Abwehr  nötigte. 

Galilei  verfolgte  den  Gegner  bis  in  die  letzten  Schlupfwinkel 
seiner  trügerischen  Kunst.  Er  beschränkte  sich  nicht  darauf,  in  ihrer 
]S^ichtigkeit  die  Methode  zu  enthüllen,  die  ein  Gebäude  von  Schlüssen 
auf  nie  erwiesenen  allgemeinen  Sätzen  aufführt  und  im  logischen 
Ergebnis  wissenschaftliche  Wahrheiten  zu  erringen  vorgibt;  er  konnte 
sich  nicht  versagen,  den  selbstgefälligen  Kiitiker,  der  mit  „Verstößen 
gegen  die  Logik"  um  sich  warf,  seine  Überlegenheit  auch  in  der 
eigenen  Kunst  empfinden  zu  lassen.  Geduldig  läßt  er  sich  Sarsis 
Vordersatz  gefallen  und  zeigt,  was  strenge  Logik  aus  ihm  folgern 
könnte,  wie  dagegen  Sarsi  falsch  oder  \\illkürlich  schließt,  dann  erst 
beleuchtet  er  auch  den  Vordersatz,  und  in  neun  Fällen  von  zehn 
ist  es  eine  unhaltbare  Vorstellung,  eine  völlig  unsichere  Behauptung 
oder  gar  die  Schlußfolgerung  selbst  in  anderen  Worten,  auf  der  das 
ganze  Truggebäude  ruht.  Galilei  selbst  hat  diese  undankbare  Arbeit 
halb  im  Scherz  und  halb  in  Demut  treffhch  gezeichnet,  wenn  er  nach 
gründlichem  Disputieren  über  die  Ursache  der  Kometenentzündung 
mit  den  Worten  abschließt:  „so  haben  denn  Sarsi  und  ich  mit  einem 
großen  Aufwand  von  Worten  untersucht,  ob  die  feste  Höhlung  der 
Mondsphäre,  die  nicht  in  der  Welt  ist,  durch  ihre  rotierende  Bewegung, 


—     45     — 

die  sie  niemals  gehabt  hat,  das  Element  des  Feuers,  von  dem  wir 
nicht  wissen,  ob  es  existiert,  mit  sich  fortreißt  und  dadurch  auch  die 
Dünste,  die  infolgedessen  sich  entzünden  und  das  Feuer  für  die 
Materie  des  Kometen  geben,  von  dem  wir  nicht  wissen,  ob  er  sich 
an  jener  Stelle  befindet,  und  von  dem  wir  gewiß  sind,  daß  er  kein 
brennender  Gegenstand  ist.  Und  so  erinnert  mich  Sarsi  an  das  Wort 
des  sinnreichen  Dichters: 

Mit  dem  Schwert  Orlandos,  das  sie  nicht  besitzen 
Und  vielleicht  niemals  besitzen  werden. 
Werden  Hiebe  blindlings  ausgeteilt."^ 

Galilei  begnügte  sich  nicht  damit,  in  dem  einen  Fall  die  Gattung 
abzutun,  mit  der  gleichen  gründlichen  Strenge  folgte  er  dem  Gegner 
von  Beweis  zu  Beweis;  nicht  ein  einziger  blieb  ohne  Erwiderung 
stehen,  je  schärfer  sein  Tadel,  je  empfindlicher  seine  Enthüllungen, 
um  so  weniger  durfte  er  an  anderer  Stelle  den  Schein  hervorrufen, 
als  sei  er  genötigt,  auf  Entgegnung  zu  verzichten.  Man  begreift, 
daß  ihn  bei  dieser  Arbeit  oft  genug  der  Unmut  überwältigt.  „Wehe 
mir!"  ruft  er  bei  solcher  Gelegenheit  aus,  „und  merke  ich  denn  nicht, 
daß  die  Stunden  fliehen,  und  verderbe  meine  Zeit  mit  diesen 
Kindereien?" 

So  ist  auch  sein  Tadel  meist  in  bittere  Worte  gefaßt,  und  wo  es 
darauf  ankommt,  der  Ursache  des  Fehlgriffs  nachzugehen,  sieht  man 
Galilei  meist  der  härteren  Deutung  den  Vorzug  geben.  iSlcht  selten 
mag  dabei  unter  den  wohlverdienten  Vorwürfen  ein  ungerechter 
stehen,  es  war  in  den  Irrgängen  der  Sophistik  nicht  immer  leicht, 
zu  scheiden,  was  aus  ungenügender  geometrischer  Einsicht,  was  aus 
heuchlerischer  Berechnung  und  Verhüllung  des  bessern  Wissens  ent- 
sprang. Galilei  läßt  zwar  keinen  mathematischen  Schnitzer  ungerügt ; 
er  räumt  dem  Gegner  großmütig  Kenntnis  des  ersten  Buches  der 
Euklidischen  Geometrie  ein,  um  bald  darauf  auch  diesen  Rest  ernst- 
lich in  Frage  zu  stellen,  aber  in  zweifelhaften  Fällen  betrachtet  er 
die  Erklärung  durch  mangelndes  Verständnis  in  elementaren  Dingen 
als  die  größere  Unhöflichkeit  und  belastet  dafür  um  so  empfindlicher 
das  Gewissen  seines  Gegners.  Bei  solchen  Gelegenheiten  geht  er  auch 
mit  den  Ausdrücken  nicht  allzu  haushälterisch  um;  hat  er  auch  in 


Ed.  Naz.  VI  p.  329f. 


—     46     — 

den  Saggiatore  keine  von  den  stärkeren  Zärtlichkeiten  aufgenommen, 
mit  denen  er  Grassi  in  einem  ersten  Entwurf  seiner  Arbeit^,  den 
Randglossen  zur  Wage,  bedenkt-,  so  verläßt  er  sich  doch  nirgends  so 
weit  auf  den  Eindruck  seiner  Kritik,  daß  er  nicht  das  Ergebnis  noch 
in  einer  Charakteristik  auch  für  den  weniger  Zartfühlenden  zu- 
sammenfaßte. Fast  jede  Seite  Aviederholt  in  unverhüllten  Worten, 
daß  Sarsi  ,, erdichtet",  ,,lügt",  ,, trügerischer  Weise  vorgibt".  Galilei 
ist  unerschöpflich  in  AVendungen,  die  diesen  Vorwurf  wiederholen. 
So  heißt  es  einmal:  Sarsi  stelle  sich  häufig,  als  sehe  er  die  Dinge 
nicht,  die  er  vor  Augen  habe,  und  hege  dabei  vielleicht  die  Hoffnung, 
daß  sein  Vorgeben  bei  den  andern  nicht  eine  vorgebliche,  sondern 
eine  wirkliche  Blindheit  zustande  bringe.  Dasselbe  Urteil  drückt  er 
ein  anderes  Mal  mit  den  Worten  aus:  um  Euch  den  Weg  zu  Wider- 
legungen zu  bahnen,  tut  Ihr  neun  Mal  von  zehnen,  als  verständet 
Ihr  nicht,  was  der  Herr  Guiducci  geschrieben,  schiebt  seinen  Worten 
Bedeutungen  unter,  die  weitab  von  seiner  Absicht  liegen,  fügt  hinzu 
oder  nehmt  davon  und  präpariert  Euch  so  die  Sache  nach  Eurer 
Willkür,  so  daß  der  Leser,  der  Euren  Entgegnungen  Glauben  schenkt, 
sich  der  Meinung  hingibt,  wir-  hätten  etwas  sehr  Einfältiges  geschrieben, 
und  Ihr  hättet  es  scharfsinnig  enthüllt  und  widerlegt. 

So  glaubt  sich  Galilei  berechtigt,  die  Beobachtungen,  durch  die 
Sarsi  ihn  widerlegen  will,  gleichfalls  als  Erfindung  zu  verdächtigen. 
Er  sagt  ihm  geradezu:  ,,sie  können  verändert  und  frei  seinem  Be- 
dürfnis angepaßt  sein,"  Dann  bittet  er  ihn  um  Verzeihung,  wenn  er 
den  Verdacht  freimütig  äußert,  aber  nur,  um  durch  die  Erläuterung 
den  Vorwurf  zu  verstärken.  „Er  selbst",  sagt  er,  „gibt  uns  die  Ver- 
anlassung, seinen  Angaben  keinen  Glauben  zu  schenken.  Welches 
Zutrauen  soll  man  zu  den  Berichten  eines  Menschen  in  bezug  auf 
vergangene  Dinge  haben,  von  denen  nichts  mehr  zu  finden  und  zu 
sehen  ist,  wenn  derselbe,  wo  es  sich  um  fortbestehende,  gegenwärtige, 
öffentliche  und  gedruckte  Dinge  handelt,  kein  Bedenken  trägt,  von 
zehnen  neun  verändert,  umgestaltet,  kurz,  ins  Gegenteil  verkehrt 
uns  vorzutragen? 

Die  gleiche  Bitterkeit  färbt  die  Polemik  des  ganzen  Buchs,  und 
in  dieser  Beziehung  wird  vielleicht  der  heutige  Leser  sich  eines  Ein- 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  6,  109—179. 

2  solennissimo  bue.  Galileis  Lieblingsausdruck. 


I 


—     47     — 

drucks  der  Eintönigkeit  nicht  ganz  erwehren  können.  Auch  wird 
man  den  Tadel  zuweik>n  weniger  ärgerlich  und  mehr  vom  Stolz  des 
überlegenen  Meisters  durchdrungen  wünschen;  wer  Kepler  kennt, 
vermißt  vielleicht  den  Hauch  jenes  belebenden  Humors,  der  den 
Aufenthalt  auch  in  der  "Wüste  der  Scholastik  erträglicher  macht. 
Aber  heute  noch  überrascht  uns  im  Saggiatorc  die  Mannigfaltigkeit, 
in  der  Galilei  bei  aller  Ausführlichkeit,  aller  Wiederholung  sein  Grund- 
thema zur  Darstellung  zu  bringen  weiß;  nur  einem  so  reichen  Geiste, 
dem  zugleich  die  Sprache  in  vollstem  Maße  zugebote  stand,  konnte 
die  Lösung  einer  Aufgabe  nach  so  breit  angelegtem  Plane  gelingen, 
ohne  dabei  ermüdend  zu  wirken.  In  der  Zergliederung  einzelner 
Abschnitte  der  Wage  bewährt  sich  die  volle  Meisterschaft  seiner 
Darstellung,  so  vor  allem  in  der  Entwirrung  jenes  Knäuels  von  lügen- 
hafter Sophistik,  in  dem  Sarsi  seinen  Irrtum  über  die  ungleiche  Ver- 
größerung ferner  und  naher  Gegenstände  durch  das  Fernrohr  in 
versteckter  Weise  zugesteht.  Die  Lösung  dieser  undankbaren  Auf- 
gabe ist  ein  Kunstwerk  der  Ki'itik. 

Auch  sonst  ist  der  Saggiatore  an  anziehenden  Einzelheiten  über- 
reich; die  hingeworfenen  Gedanken  und  gelegentlichen  Äußerungen, 
die  Beispiele  und  Bilder  offenbaren  auf  jeder  Seite  den  seltenen  Geist. 

Ist  es  in  erster  Linie  ein  ästhetisches  Interesse,  das  die  „Gold- 
wage" bei  dem  heutigen  Leser  in  Anspruch  nimmt,  so  gesellt  sich 
dazu  ein  nicht  geringeres  für  jeden,  der  es  der  Mühe  wert  erachtet, 
der  geschichtlichen  Entwicklung  der  wissenschaftlichen  Grund- 
gedanken auf  ihren  vielverzweigten  Wegen  nachzugehen;  es  bedarf 
nur  der  Bemerkung,  daß  Galilei  kaum  in  einer  zweiten  Schrift  so 
mannigfaltige  Probleme  der  iSaturforschung,  bald  eingehend,  bald 
im  Vorübergehen  zur  Sprache  bringt,  um  die  Bedeutung  des  Buchs 
in  dieser  Hinsicht  zu  kennzeichnen. 

In  ungleich  höherem  Maße  und  in  vielfältigeren  Beziehungen 
war  es  den  Zeitgenossen  ein  bedeutendes  Werk,  vor  allem  den 
italienischen  Zeitgenossen,  denn  wie  es  in  Bildern  und  Zitaten  auf 
Leser  rechnet,  denen  die  Gestalten  der  italienischen  Dichter  ver- 
traut sind,  wie  die  Anmut  seines  Vortrags  nicht  gut  von  dem  Wohl- 
laut der  florentiner  Sprache  zu  trennen  ist,  wie  die  Feinheiten  seiner 
Polemik  einen  Geschmack  voraussetzen,  den  Meisterwerke  der  italie- 
nischen Literatur  gebildet  haben,  so  gewann  auch  der  Anteil  an  dem 
zweifellosen  Triumpf  der  neuen  Wissenschaft,  den  diese  Blätter  ver- 


—     48     — 

kündeten,  für  ihre  italienischen  Vertreter  eine  besondere  Färbung 
dadurch,  daß  dieser  Siec:  der  Beredsamkeit,  der  logischen  Kunst  und 
der  wissenschaftlichen  Methode  errungen  wurde  über  die  Wissenschaft 
des  CoUegium  Ronianum. 

Auch  die  Fernerstellenden  fanden  in  dem  Zeitalter  der  dis- 
putierenden Wissenschaft  an  der  Gewandtheit  in  der  Handhabung 
der  logischen  Formen,  an  der  rein  rednerischen  Überlegenheit  im 
wissenschaftlichen  Streit  einen  Genuß,  der  den  späteren  Generationen, 
wenigstens  wo  es  sich  um  die  Erforschung  der  Naturerscheinungen 
handelt,  fremd  geworden  ist. 

Die  \Nissensdurstigen  Leser  des  17.  Jahrhunderts  fanden  über- 
dies im  Saggiatore  einen  Reichtum  an  Belehnmg,  eine  Fülle  von 
anregenden  Betrachtungen,  wie  sie  nicht  leicht  ein  ähnliches  Werk 
geboten  hatte.  Belehrende  Winke  waren  überall  eingestreut,  selten 
waren  Guiduccis  Behauptungen  verteidigt,  Grassi  widerlegt,  ohne 
daß  für  die  eigene  Anschauung  neue  Gesichtspunkte  zur  Geltung 
gebracht  wären.  Oft  genug  findet  Galilei  dabei  Veranlassung,  das 
bisher  Errungene  der  Naturerkenntnis  als  ein  Geringfügiges  erscheinen 
zu  lassen.  Als  Versuche  und  Anfänge  charakterisiert  er  auch  die 
eigenen  Bemühungen.  In  diesem  Sinne  tritt  er  für  die  Möglichkeit 
seiner  Kometenlehre  ein  —  mehr  als  Möglichkeit  hat  er  nie  für  sie 
in  Anspruch  genommen;  auch  jetzt  noch  verwahrt  er  sich  gegen  die 
Zumutung,  seiner  Annahme  eine  bestimmte  Form  zu  geben;  er  hat 
mehr  ein  Erklärungsgebiet  als  eine  bestimmte  Erklärung  bezeichnen 
wollen;  um  so  sicherer  kann  er  den  Gegner  zurückweisen,  der  ihm 
entgegenhält,  wie  wenig  der  Komet  dem  Regenbogen  und  den  Höfen 
um  Sonne  und  Mond  ähnlich  zu  nennen  sei.  In  unzähligen  Weisen 
kann  die  Natur  Ähnliches  und  Gleiches  erzeugen,  so  viele  dieser  Weisen 
uns  bekannt  sind  —  sie  geben  uns  keinen  Aufschluß  über  die  un- 
bekannten, sie  lassen  uns  nicht  erraten,  wie  viele  uns  zu  erforschen 
übrig  bleiben.  Seine  Ansicht  zu  verdeuthchen,  erzählt  Galilei  das 
Märchen  von  der  Entstehung  des  Schalls  i^ 

,,An  einem  sehr  einsamen  Ort  wurde  ein  Mensch  geboren,  der 
von  der  Natur  mit  einem  ungewöhnüchen  Scharfblick  des  Geistes 
und  mit  einer  außerordentlichen  Wißbegierde  begabt  war,  der  hielt 
sich  zum  Zeitvertreib  mancherlei  Vögel  und  hatte  große  Freude  an 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  271—281. 


—     49     — 

ihroni  Gosaiis.  und  mit  der  höcliston  Bowiindprmif,'  hotriiflitcte  er 
d'iv  kunstvolle  iMmichtunti-.  dni-cli  die  sie  mit  derselben  Luft,  durch 
die  sie  atmeten,  niich  iliiem  P>eli(>l)t'ii  verschiedene  Melodien  hervor- 
bnachten,  eine  anmutij^er  als  die  andere. 

Xun  orosehah  es  einmal  zur  Nachtzeit,  daß  er  in  der  Xähe  seiner 
Wohnunn;  einen  zarten  Ton  vernahm;  er  konnte  sich  nichts  aiuleres 
denken,  al.s  daß  es  ein  Vöpjlein  wäre  und  machte  sich  auf,  es  zu  fnnfi:en; 
als  er  aher  hinauskam,  fand  er  einen  Hirten,  der  auf  einer  Art  p:eli(ihltefi 
Holzes  blies.  Indem  er  die  b'inj^er  über  das  Holz  bewegte  und 
(Öffnungen,  die  sicli  daran  befanden,  bald  schloß,  bald  öffnete,  brachte 
er  jene  verschiedenen  Stimmen  hervor,  die  denen  eines  Vogels  ähnlich 
waren,  aber  die  Art  und  Weise  war  eine  völlig  andere.  Erstaunt, 
und  von  seiner  angeborenen  Wißbegierde  getrieben,  schenkte  er  dem 
Hirten  ein  Kalb,  um  die  Flöte  zu  erhalten;  als  er  dann  zurückkehrte, 
wurde  es  ihm  klar,  daß,  w'enn  nicht  zufällig  dieser  Mann  vorüber- 
gekommcn  wäre,  er  nie  gelernt  hätte,  daß  es  in  der  Natur  zwei  AVeisen 
gibt,  anmutige  Stimmen  und  Melodien  hervorzubringen;  so  beschloß 
IT,  sein  Haus  zu  verlassen,  er  dachte:  es  werde  ihm  etwas  Anderes, 
Merkwürdiges  begegnen.  Und  es  traf  sich  am  folgenden  Tage,  als 
er  an  einer  kleinen  Hütte  vorüberging,  daß  er  drinnen  eine  ähnliche 
Stimme  erklingen  hörte;  um  sich  zu  versichern,  ob  es  eine  Flöte  oder 
eine  Amsel  sei,  ging  er  hinein  und  fand  einen  Knaben,  der  mit  einem 
Bogen,  den  er  in  der  rechten  Hand  hielt,  Sehnen  strich,  die  über  eine 
Art  hohlen  Holzes  ausgespannt  waren,  mit  der  Linken  hielt  er  das 
Instrument  und  bewegte  die  Finger  darüber  hin,  und  ohne  jedes 
Blasen  entlockte  er  ihm  mannigfaltige  und  höchst  anmutige  Melodien. 
Wie  groß  sein  Staunen  war,  mag  der  ermessen,  der  ähnlicher  Begabung 
und  Wißbegierde  teilhaftig  ist;  überrascht,  zwei  neue,  so  unerwartete 
Weisen  kennen  zu  lernen,  durch  die  man  die  Stimme  und  den  Gesang 
hervorbringt,  kam  er  auf  den  Gedanken:  es  möchten  deren  in  der 
Natur  noch  andere  sein.  Aber  wie  groß  war  seine  Verwunderung, 
als  er  beim  Eintritt  in  eine  Kirche  hinter  der  Tür  zu  suchen  anfing, 
um  zu  sehen,  wer  den  Ton  von  sich  gegeben  hätte  —  und  nun  gewahr 
wurde,  daß  der  Ton  von  den  Angeln  und  den  Bändern  beim  Öffnen 
der  Tür  hervorgebracht  war!  VAn  anderes  Mal  trat  er,  von  seiner 
Wißbegierde  getrieben,  in  ein  Wirtshaus;  er  erwartete,  jemand  zu 
sehen,  der  mit  dem  Bogen  sanft  die  Saiten  einer  Violine  striche,  aber 
er  fand  einen  Mann,  der  mit  der  Fingerkuppe  den  I^and  eines  Glases 

Wuhlwlll,  »Galilei.    II.  4 


—     50     — 

rieb  und  ihm  den  schönsten  Woliiklang  enthickte.  Als  er  dann  weiter 
beobachtete,  daß  die  Wespen,  die  Mücken  und  die  Flieoen  nicht, 
wie  seine  Vögel,  (hirchs  Atmen  unterbrochene  Laute  heivorbracliten, 
sondern  durch  ein  überaus  rasches  Flügelschlagen  einen  anhaltenden 
Ton  gaben,  da  wurde  sein  Staunen  größer,  sein  Zutrauen  immer 
geringer,  daß  er  wisse,  wie  der  Ton  entsteht.  Alles,  was  er  bis  dahin 
erfahren,  hätte  nicht  genügt,  ihm  begreiflich  oder  glaublich  zu  machen, 
daß  die  Heimchen,  da  sie  nicht  flogen,  nicht  durch  eine  Art  zu  blasen, 
sondern  durch  Erschütterung  der  Flügel  ein  so  anmutiges  und  wohl- 
klingendes Zischen  von  sich  geben  könnten.  Aber  als  er  der  Meinung 
war,  es  könne  kaum  noch  möglich  sein,  daß  es  andere  Weisen,  Töne 
zu  bilden,  gebe,  nachdem  er  außer  den  aufgezählten  Weisen  noch  so 
viel  Orgeln,  Trompeten,  Pfeifen,  Saiteninstrumente  von  so  vielerlei 
Art  beobachtet  hatte,  bis  auf  das  Züngelchen  von  Eisen,  das,  zwischen 
den  Zähnen  gehalten,  in  merlrwürdiger  Weise  die  Mundhöhle  als 
Resonanzköi-per  und  den  Atem  als  Tonerzeuger  braucht  —  als  er, 
sage  ich,  der  Meinung  war,  er  habe  alles  gesehen,  fand  er  sich  mehr 
denn  je  in  Unwissenheit  und  Staunen  versenkt,  als  ihm  eine  Zikade 
in  die  Hände  fiel  und  er  weder,  wenn  er  ihr  den  Mund  verschloß, 
noch  wenn  er  ihr  die  Flügel  festhielt,  imstande  war,  den  überaus 
hellen  Ton,  den  sie  von  sich  gab,  abzuschwächen;  auch  sah  er  an 
ihr  weder  Schuppen  noch  andere  Teile  sich  bewegen.  Als  er  endlich 
die  Brusthöhle  aufhob  und  darunter  harte,  aber  dünne  Knorpel  sah 
und  glaubte,  das  Geräusch  entstehe  durch  die  Erschütterung  der 
Knorpel,  kam  er  dazu,  sie  herauszubrechen,  um  die  Zikade  zum 
Schweigen  zu  bringen.  Alles  war  vergebens,  bis  er,  die  Nadel  mehr 
nach  innen  stoßend,  die  Knorpel  durchbohrte  und  der  Zikade  mit 
der  Stimme  das  Leben  nahm.  So  konnte  er  sich  nicht  einmal  ver- 
sichern, ob  der  Gesang  von  den  Knorpeln  herrührte.  Da  ergriff  ihn 
ein  solches  Mißtrauen  gegen  sein  Wissen,  daß,  als  man  ihn  fragte, 
wie  die  Töne  entstehen,  er  freimütig  antwortete:  er  kenne  einige 
Weisen,  aber  er  halte  für  gewiß,  daß  es  noch  hundert  andere  un- 
bekannte und  unerwartete  geben  könne." 

Schwerlich  läßt  sich  anschaulicher  und  annmtiger  zugleich  die 
P>fahrung  des  gewissenhaften  Forschers  darstellen,  der  in  natür- 
lichem Trieb  aller  Orten  nach  Analogien  sucht  und  immer  von  neuem 
erkennt,  daß  die  Analogie  ihn,  dem  Reichtum  der  Natur  gegenüber, 
im  Stich  läßt.  Als  eine  Warnung,  die  auch  der  heutige  Forscher  nicht 


—     51     — 

überhören  darf,  ruft  Galileis  pjzählunf]f  jedem,  der  es  unternimmt. 
bei<annte  Erstheinimsen  zur  Doutunn;  unbekannter  zu  verwerten, 
wo  die  Entsteh un,i(sbedinounc;en  sich  nicht  ])riifen  hissen,  das  Be- 
(hMii^liche,  l'nsicherc  seines  Versuchs  ins  Gedächtnis.' 

Kann  man  in  diesem  Sinn  seiner  Erzähluni^  dauernde  Bedeutung 
beimessen,  so  wird  man  ilim  nicht  mit  dem  gleichen  Einverständnis 
folgen  können,  wenn  man  die  besondere  Absieht  beachtet,  in  der 
er  seinen  Einsiedler  wandern  läßt:  ..Ich  habe  die  Zikade  in  der  Hand 
und  weiß  nicht,  wie  sie  singt'"  —  mit  diesen  Worten  weist  er  die 
Verpflichtung  von  sich  ab,  bestimmte,  in  ihrem  Wirken  wohlbekannte 
Bedingungen  nachzuweisen,  unter  denen  der  Komet  nach  seiner 
Erklärungsweise  erscheinen  kann.  Aber  er  geht  weiter:  Wenn  die 
bekannten  Erscheinungen,  die  in  ähnlicher  Weise  entstehen,  rasch 
vorübergehende  sind,  so  ist  die  Vergänglichkeit  der  Materie,  durch 
die  sie  hervorgerufen  sind,  die  Ursache  ~  warum  sollte  es  nicht  ähn- 
lich bei  den  Kometen  sein?- 

So  beruft  sich  Galilei,  wo  es  darauf  ankommt,  eine  neue  Er- 
klärung zunächst  nur  als  zulässig  zu  erweisen,  auf  Bedingungen,  die 
zwar  tatsächlich  uiil)ekannt  und  unnachweisbar  sind,  aber  als  möglich 
in  der  unermeßlichen  Mannigfaltigkeit  der  Xatur  nicht  geleugnet 
werden  können.  Wer  sieht  nicht,  daß  er  aus  einer  Quelle  schöpft, 
die  für  Freund  und  Feind  mit  gleicher  Ergiebigkeit  fließt!  Es  sind 
nur  andere  Ausdrücke,  aber  es  ist  der  gleiche  Gedanke,  durch  den 
Daliani^  die  Planetennatur  der  Kometen  rettet,  wiewohl  er  weiß, 
wie  sehr  sie  von  den  Planeten  des  Tierlvreisgürtels  abweichen. 

Galilei  fügt  diesen  allgemeinen  Betrachtungen  nur  weniges  hinzu, 
um  in  den  Einzelheiten  seine  Kometenlehre  zu  verdeutlichen.  Seine 
Beispiele  suchen  insbesondere  den  Einwürfen  gegenüber  zu  erläutern, 
wie  auch  bei  anderen  Naturerscheinungen  die  Ausdehnung  der  Licht- 
erscheinung keinen  Aufschluß  über  die  Ausdehnung  der  erleuchteten 
Materie  nach  den  verschiedensten  Richtungen  gebe,  wie  die  Form 
und  Lichtstärke  bei  den  bekannten  Beispielen  dieser  Gattung  keines- 
wegs der  Gattung  wesentlich,  sondern  durch  die  bestimmten  Ent- 
stehungsbedingungen einfach  zu  erklären  ist     Auch  im  Saggiatore 

^  Im  übrigen  hat  diese  Geringschätzung  der  Analogie  eine  sehr  wesent- 
liche Rolle  bei  seinem  Mißerfolg  gespielt. 
-  Ed.  Naz.  VI  p.  281. 
■'  Ed.  Naz.  XII  p.  474—478. 

4* 


-     52     - 

zieht  er  zur  Verglokhunp;  nanientlicli  das  Soiiiionbild  auf  bewegtCM- 
MopiTsfläch»'  und  dio  Strahlon  lioraii.  dir  am  bowölkton  Horizont 
von  der  Sonne  als  Zentrum  aus<i-elien;  aueh  hier  träp,t  er  kein  Be- 
denken, das  Xordlieiil  als  einen  Wiederschein  der  untergegangenen 
Sonne  und  desliall)  als  einen  Beweis  dafür  anzusehen,  daß  wirklicli 
Dünste  von  der  Ivrde  aus  zu  solelien  Höhen  steigen,  wie  sie  für  die 
Krklärung  des  Kometen  notwendig  wären. 

Wie  wenig  zur  Entstehung  des  Kometen  nach  seinem  Sinne 
die  Bedingungen  unerläßlich  sind,  die  Sarsi  fordert:  eine  spiegel- 
artige (Hätte  der  retlcktierenden  Oberfläche  und  wäßrige  Dünste. 
zeigt  er  durch  einen  scherzhaften  Vorschlag  zur  Nachbildung  des 
Kometen.' 

„Es  nehme  Euer  Gnaden  eine  gut  gereinigte  gläserne  Karaffe, 
und  indem  Ihr  eine  angezündete  Kerze  nicht  weit  von  dem  Gefäß 
haltet,  werdet  Ihr  auf  dessen  Oberfläche  ein  kleines,  sehr  klares  und 
präzises  Bild  des  Lichtes  der  Kerze  sehen;  nehmet  nun  mit  der  Finger- 
spitze ein  ganz  wenig  von  irgendeinem  Stoff,  der  etwas  salbig  ist. 
so  daß  er  am  Glas  haftet,  und  reibt  so  leicht,  wie  Ihr  nur  könnt,  auf 
den  Fleck,  wo  das  Bild  des  Lichtes  zu  sehen  ist,  so  daß  die  Fläche 
getrübt  wird,  und  Ihr  werdet  sofort  sehen,  daß  das  genannte  Bild 
sich  trübt;  darauf  dreht  das  Gefäß,  so  daß  das  Bild  aus  der  trüben 
Stelle  hervorkommt  und  sie  nur  am  Rand  berührt,  und  fahret  mit 
dem  Finger  gerade  über  die  trübe  Stelle;  dann  werdet  Ihr  plötzlich 
einen  geraden  Strahl  daraus  hervorkommen  sehen,  der  dem  Schweif 
eines  Kometen  ähnelt,  und  dieser  Strahl  wird  querdurch  und  in  rechten 
Winkeln  durch  das  gehen,  was  Ihr  mit  dem  Finger  auf  das  Glas 
gerieben  habt,  so  daß,  wenn  Ihr  in  einer  anderen  Richtung  reibt, 
besagter  Strahl  sich  auf  einen  anderen  Teil  richten  wird.  Und  das 
kommt  daher,  daß  die  Haut  unserer  Fingerkuppen  nicht  eben  ist, 
sondern  die  Zeichnung  von  einigen  gewundenen  Linien  trägt,  damit 
wir  die  geringsten  Unterschiede  beim  Betasten  der  tastbaren  Dinge 
fühlen.  Indem  Ihr  nun  den  Finger  über  die  mit  Salbe  eingeriebene 
Oberfläche  führtet,  bleiben  einige  ganz  leichte  Furchen  zurück,  auf 
deren  Rücken  sich  Reflexe  des  Lichtes  befinden,  die,  wenn  sie  zahl- 
reich und  in  richtiger  Ordnung  verteilt  sind,  einen  hellen  Strich 
bilden,  an  dessen  Kopf  man,  wenn  man  durch  Bewegen  des  Gefäßes 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  290/91, 


—     53     — 

das  erste,  im  nidit  beschmierten  Teil  ffeniachtr  BM  wiederherstellt, 
man  den  Anfani,'  des  Schweifes  heller,  und  den  Seil  weil"  selbst  etwas 
weniger  leuchtend  erblicken  wird.  Und  derselbe  h^lfekt  wird  ent- 
stehen, wenn  Dir  das  Glas,  anstatt  es  einzureiben,  durch  Anhauchen 
verdunkelt." 

Galilei  tüf^t  dem  Scherz  die  Bitte  hinzu,  es  möge  Cesarini.  weim 
jemals  Sarsi  darauf  zu  sprechen  käme,  in  seinem  JN'amen  feierlich  und 
ausdrücklich  beteuern,  daß  er  darum  nicht  daran  denke,  anzunehmen, 
es  befinde  sich  am  Himmel  eine  große  Flasche  und  jemand,  der  sie 
mit  Fett  bestreicht,  und  daß  so  der  Komet  entstehe,^ 

In  ähnlicher  Weise  sehen  wir  Galilei  erzählend  und  deutend  um 
der  Kometen  willen  die  verschiedensten  Erscheinungen  der  Spiegelung 
und  der  Brechung  des  Lichts  heranziehen,  und  keinen  der  überaus 
mannigfaltigen  Gegenstände  verläßt  er,  ohne  daß  dem  wißbegierigen 
Leser  neue  Tatsachen  enthüllt  oder  bekannte  in  neuem  Licht  er- 
schienen wären.  So  knüpft  er  an  die  Kritik  der  aristotelischen  Lehre 
von  der  Kometenentzündung  einen  ganzen  Abschnitt  über  die  eigene 
Wärmelehre  an. 

„Ich  fürchte",  sagt  er,  ,,daß  man  sich  im  allgemeinen  von  dem, 
was  wir  Wärme  nennen,  eine  Vorstellung  gemacht  hat,  die  von  der 
Wahrheit  weit  entfernt  ist,  wenn  man  nämlich  die  Wärme  als  ein 
Accidens,  Zustand  und  Qualität  betrachtet,  die  in  Wirklichkeit  in 
der  Materie  ihren  Sitz  hat,  deren  Warmwerden  wir  empfinden.  Ich 
bemerke  deshalb,  daß  ich  allerdings  die  ^Notwendigkeit  nicht  ab- 
weisen kann,  sobald  ich  mir  eine  Materie  oder  körperliche  Substanz 
vorstelle,  mir  zugleich  vorzustellen,  daß  sie  begrenzt  ist  und  diese 
oder  jene  Gestalt  hat,  daß  sie  mit  andern  verglichen,  groß  oder  klein 
ist,  daß  sie  an  diesem  oder  jenem  Ort,  in  dieser  oder  jener  Zeit  ist, 
daß  sie  sich  bewegt  oder  nicht,  daß  sie  einen  andern  Körper  berührt 
oder  nicht  berührt,  daß  sie  eins,  wenig  oder  viel  ist,  und  mit  keiner 
Phantasie  kann  ich  sie  von  diesen  Bedingungen  trennen;  aber  was 
ihr  Weiß-  oder  Kotsein,  Bitterkeit  oder  Süße,  ihr  Tönen  oder  Licht- 
tönen, ihren  angenehmen  oder  unangenehmen  Geruch  betrifft  —  so 
empfinde  ich  keinerlei  Nötigung  für  den  Geist,  sie  von  dergleichen 
Bedingungen  notwendig  begleitet  zu  denken,  ja,  wenn  die  Sinne 
uns  nicht  begleiteten,  so  würde  vielleicht  der  Verstand  oder  die  Ein- 


'  Ed.  Naz.  VI  p.  2'Jl. 


—     54     — 

bilduiigskraft  aus  sich  selbst  niemals  auf  dergleichen  kommen.  So 
denke  ich,  daß  Geschmack,  Geruch,  Farben  usw.  für  das  Objekt, 
in  dem  sie  uns  ihren  Sitz  zu  haben  scheinen,  nichts  als  bloße  jN'amen 
sind,  während  sie  ihren  Ort  in  dem  empfindenden  Körper  einnehmen, 
so  daß,  wenn  das  Leben  dahin  ist,  alle  diese  QuaMtäten  aufgehoben 
und  vernichtet  sind,  wenn  gleich  wir,  wie  wir  ihnen  besondere 
r\amen  gegeben  haben,  die  verschieden  sind  von  jenen  realen  Acci- 
dentien,  gern  glauben  wollen,  daß  sie  in  Wh-klichkeit  und  realiter 
von  jenen  verschieden  seien. ^ 

Können  hier  den  heutigen  Leser  Andeutungen  über  das  Wesen 
der  Wärme  fesseln,  die,  wenn  auch  nur  ahnungsweise,  Anschauungen 
der  Gegenwart  verwandt  sind,  so  war  dem  Zeitgenossen  sicherlich 
vor  allem  übrigen  der  Aufschluß  überraschend,  daß  die  Bleikugeln, 
die  nach  Dichtung  und  Geschichtserzählung  der  rasche  Flug 
geschmolzen,  nur  Geschosse  der  Phantasie  waren. 

Der  gleiche  Streit  gibt  Galilei  die  Veranlassung,  verworrenen 
Meinungen  der  alten  Philosophie  zum  ersten  Mal  klare  Sätze  seiner 
neuen  Mechanik  über  die  Mitteilung  der  Bewegung  gegenüberzustellen, 
die  den  Hörern  jener  Tage  eine  neue  Welt  erschlossen.  Unerklärt, 
und  darum  nicht  minder  anregend,  fügt  er  die  Versuche  hinzu,  durch 
die  er  die  Luft  im  rasch  geschwungenen  Behälter  von  dem  Umschwung 
unberührt  in  ihrer  Ruhe  beharren  sieht.  Hier  führt  ihn  der  Zusammen- 
hang zur  ]\Iitteilung  über  jenes  eigentümliche  Experiment,  durch 
das  er  in  Rom  die  dritte  Bewegung  des  Copernicus  zugleich -zu  er- 
klären und  zu  widerlegen  versucht  hatte.  Er  Aviederholt  seine  Er- 
klärung nicht,  um  den  Copernicus  zu  verteidigen;  er  hat  nur  aufzu- 
klären, was  Sarsi  mißverstanden,  wenn  er  von  ähnlichen  Versuche]! 
gehört  haben  will.  In  der  Tat  ist  Galilei  auch  jetzt  noch  weit  davon 
entfernt,  die  erste  Gelegenheit  zu  neuen  Äußerungen  im  copernica- 
nischen  Sinne  und  damit  zum  Widerspruch  gegen  das  Dekret  von 
1616  benutzen  zu  wollen.  Vielmehr  erklärt  er  all  jenen  provozierenden 
Worten  Sarsis  gegenüber  kalt  und  ruhig,  daß  er  sich  unterworfen  hat. 
War  Grassis  Absicht,  ihn  entweder  zum  Geständnis  zu  verleiten,  daß 
er  der  ketzerischen  Lehre  anhänge,  oder  zur  öffentlichen  Erklärung, 
daß  er  seine  Wissenschaft  den  Anordnungen  der  Kirche  unterwerfe, 
so  war  Galileis  Gesinnungen  gemäß  die  Antwort  von  selbst  gegeben. 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  347f. 


—     55     — 

Er  erklärt  in  bestimmton  Worten,  daß  er  als  Katholik  die  copernica- 
nische  Lehre  als  falsch  erkannt  hat;  aber  seine  Erläuterungen  lassen 
niemand  in  Zweifel  darüber,  daß  er  sie  nicht  als  durch  wissenschaft- 
liche Gründe  widerlegt  ansieht.  Unverkennbar  sucht  er  bei  dieser 
Doppelstellung  sich  der  Auffassung  des  Dekrets  anzubequemen,  die 
in  den  letzten  Jahren  durch  „die  Verbesserungen  zum  Copernicus" 
als  die  kirchliche  anerkannt  war.  So  erwidert  er  matt  genug  auf  jene 
boshafte,  flüsternde  Stimme,  die  dem  Gegner  copernicanische  An- 
sichten hinter  der  neuen  Kometenlehre  verraten  will:  „weder  ich  noch 
Guiducci  haben  ein  Wort  davon  gesagt  oder  auch  nur  daran 
gedacht,  —  wie  Sarsi  selbst  bekennt,  wenn  er  sagt,  er  glaube  nicht, 
daß  es  mir  jemals  in  den  Sinn  gekommen  sei,  die  Bewegung  der  Erde 
bei  dieser  Gelegenheit  einzuführen,  da  er  mich  als  fromm  und  kirch- 
lich gekannt  hat ;  aber  wenn  dem  so  ist,  zu  welchem  Zweck  erwähnt 
Ihr  sie  und  in  welcher  Absicht  sucht  Ihr  zu  zeigen,  daß  sie  zu  meinem 
Bedarf  nicht  ausreicht P"^ 

Indem  Galilei  die  Frage  zurückweist,  wagt  er  so  wenig  wie 
Guiducci  die  w^eitere  Ursache  namhaft  zu  machen,  die  Guiducci  als 
notwendig  bezeichnet  hat,  damit  die  neue  Kometenlehre  der  Deutung 
der  Erscheinungen  genüge.  Er  konnte  nicht  offen  einräumen,  daß 
seine  Theorie  ohne  die  Bewegung  der  Erde  unvollständig  bleibe, 
wenn  er  nicht  auch  diese  Lehre  in  demselben  Buche  zum  Traum  und 
Hirngespinst  herabwürdigen  wollte,  dem  er  die  Aufgabe  stellte,  sie 
aufs  beste  zu  verteidigen.  Aber  ebensowenig  sagt  er,  daß  an  jener 
Stelle  von  Guiducci  an  die  Bewegung  der  Erde  nicht  gedacht  sei, 
für  den  aufmerksamen  Leser  ist  viehnehr  das  Gegenteil  deutlich  genug 
zwischen  den  Zeilen  der  weiteren  Auseinandersetzung  zu  lesen.  Er 
beleuchtet  zunächst  den  hilflosen  Versuch  des  Gegners,  jeden  Einfluß 
der  Erdbewegung,  selbst  wenn  man  an  sie  denken  dürfte,  als  un- 
genügend für  die  Zwecke  jener  Theorie  zu  erweisen,  er  zeigt,  daß 
Sarsi  wieder  über  die  Bewegungen  der  Erde  nach  der  Lehre  des 
Copernicus,  noch  über  die  mannigfaltigen  Erscheinungen  hinreichend 
unterrichtet  ist,  die  infolge  dieser  Bewegungen  an  anderen  Welt- 
körpern w^ahrgenommen  werden  müssen;  Galilei  denkt  auch  hier 
nicht  daran,  die  unverständige  Anwendung  der  copernicanischen 
Lehre  durch  eine  verständigere  zu  ersetzen;  dagegen  schließt  er  die 


»  Ed.  Naz.  VI  p.  305. 


—     56     — 

Erörterung  mit  den  Worten  ab:  wenn  die  der  Erde  zugeschriebene 
Bewegung,  die  ich  als  fromme  und  katholische  Person  für  gänzlich 
falsch  und  nichtig  halte,  von  so  vielen  und  mannigfaltigen  Erschei- 
nungen Rechenschaft  zu  geben  geeignet  ist,  die  man  an  den  Himmels- 
körpern wahrnimmt,  so  kann  ich  mich  nicht  überzeugen,  daß  sie 
nicht  auch,  falsch  wie  sie  ist,  täuschenderweise  den  Erscheinungen 
der  Kometen  entsprechen  könne,  sofern  nicht  Sarsi  sich  zu  deut- 
licheren Ausführungen  bereit  finden  läßt,  als  er  sie  bis  jetzt  vor- 
gebracht hat.^ 

An  anderer  Stelle  äußert  Galilei  sein  Bedenken  gegen  die  Weise 
des  Gegners,  die  Pflicht  des  Gläubigen  wie  ein  wissenschaftliches 
Argument  zum  Beweis  zu  verwenden;  die  kirchliche  Entscheidung, 
meint  er,  hätte  ihm  vielmehr  ein  Sporn  sein  müssen,  diese  Annahme 
zu  vernichten  und  als  unmöglich  darzulegen;  es  sei  vielleicht  nicht 
übel  getan,  auch  mit  natürlichen  Gründen,  wenn  es  geschehen  könne, 
die  Falschheit  solcher  Behauptungen  zu  erweisen,  die  als  schrift- 
widrig erklärt  seien. 

Es  entspricht  dem  gleichen  Standpunkt,  wenn  er  hier  nur  zweifelt 
und  vermutet  und  dann  doch  mit  größter  Entschiedenheit  die  An- 
sicht zurückweist,  daß  den  Gläubigen  nichts  übrig  bleibt,  als  sich 
zu  Tycho  Brahe  zu  bekennen.  Selbst  wenn  er  mit  Sarsi  annehmen 
wollte,  daß  der  menschliche  Verstand  sich  notwendig  dem  Verstand 
eines  andern  Menschen  leibeigen  machen  müßte,  daß  man  bei  Be- 
trachtung der  Himmelsbewegungen  irgendeines  Mannes  Anhänger 
sein  müsse,  sieht  er  nicht  ein,  aus  welchem  Grunde  er  Tycho  wählt 
und  ihn  Ptolomäus  und  Nicolaus  Copernicus  vorzieht,  von  denen 
beiden  wir  vollständige  und  mit  größter  Kunst  entworfene  Welt- 
systeme haben;  er  kann  nicht  sehen,  daß  Tycho  dasselbe  getan  hat, 
wenn  es  nicht  etwa  Sarsi  genügt,  daß  er  die  beiden  andern  verneint 
und  ein  anderes  versprochen,  wenngleich  nicht  ausgeführt  hat.  Ebenso- 
wenig sei  es  Tycho,  der  die  beiden  andern  als  falsch  erwiesen  hätte, 
denn  was  den  Ptolomäus  betrifft,  so  sei  die  einzige  Widerlegung 
desselben  in  den  teleskopischen  Beobachtungen  enthalten,  durch  den 
er,  Galilei,  den  Wechsel  der  scheinbaren  Größe  bei  den  Planeten  der 
copernicanischen  Annahme  entsprechend  gefunden  hätte.  „Was  dann 
die  copernicanische  Hypothese  betrifft",  fährt  er  fort,  „so  glaube  ich 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  311. 


—     57     — 

nicht,  daß,  wenn  nicht,  uns  Katholiken  zum  Heil,  eine  erhabenere 
Weisheit  uns  aus  dem  Irrtum  gerissen  und  unsre  Blindheit  erleuchtet 
hätte,  eine  solche  Gnade  und  Wohltat  uns  durch  die  Gründe  und 
Beobachtungen  Tychos  zuteil  geworden  wäre.  Da  also  die  beiden 
Systeme  sicher  falsch  sind  und  keins  von  Tycho  vorhanden  ist,  sollte 
Sarsi  mich  nicht  tadeln,  wenn  ich  mit  Seneca  nach  dem  wahren  Bau 
der  Welt  Verlangen  habe.^ 

Sieht  man  in  allen  diesen  Äußerungen  von  der  Form  ab,  die  der 
Glaube  auferlegt,  so  bleibt  als  Kern  der  Ausdruck  unerschütterter 
Überzeugung.  Der  Saggiatore  brachte  seinen  Lesern  keine  neuen 
Beweise  für  den  Copernicus,  aber  unter  den  Schätzen  neuer  Wissen- 
schaft, die  er  verbreiten  sollte,  ließ  Galilei  auch  die  Hinweisung  auf 
die  größeren  nicht  fehlen,  die  der  kirchliche  Beschluß  den  Gläubigen 
vorenthielt. 

Dem  Zeitalter  und  der  Heimat  Jenes  eisernen  Zwanges  fern, 
bedünkt  es  uns  nach  dem  Maßstab  der  eigenen  Empfindungsweise 
würdiger  —  wenn  doch  der  unnatürliche  Gehorsam  walten  soll  — 
zu  verschweigen,  was  nur  unter  feierlichster  Verwahrung,  unter  ver- 
hüllenden Worten  Duldung  finden  kann,  aber  weim  es  Galilei  darauf 
ankam,  in  der  ersten  Schrift,  die  er  seit  dem  Unglücksjahr  veröffent- 
lichte, aller  Welt  zu  sagen,  da(j  kein  Dekret  aus  schlechten  Gründen 
gute  machen  könne,  daß  auch  jetzt  noch  keine  Deutung  der  Himmels- 
erscheinungen neben  der  copernicanischen  Bestand  habe,  so  hätte 
er  diese  Überzeugung  nicht  vernehmlicher  verkünden  können,  als  es 
in  den  Formen  der  Demut  im  Saggiatore  geschieht. 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  232f. 


Drittes  Kapitel. 

Vor  den  Dialogen.  —  Gegen  Ingoli. 


Der  Saggiatore  war  noch  nicht  erschienen,  als  ein  vielverheißendes 
Ereignis  die  Freunde  der  ernsteren  Wissenschaft  in  freudige  Auf- 
regung versetzte.  Im  August  1623  war  Papst  Gregor  XV.  gestorben. 
Aus  der  Wahl  der  Kardinäle  im  kurzen,  durch  die  Fieberschwüle 
des  römischen  Sommers  geängstigten  Konklave  ging  als  sein  Nach- 
folger der  Kardinal  Maffeo  Barberini  hervor,  der  unter  dem  Namen 
ürbans  VIII.  den  päpstlichen  Stuhl  bestieg. ^  Maffeo  Barberini 
hatte  für  einen  der  gelehrtesten  Kardinäle  gegolten;  er  hatte  mit 
vielen  Gelehrten  der  Zeit,  unter  ihnen  mit  den  angesehensten  aus 
dem  Kreise  der  römischen  Freunde  Galileis  in  nahen  Beziehungen 
gestanden  —  so  knüpften  sich  an  seine  AVahl  die  überschwänglichsten 
Hoffnungen;  „man  erwartet  eine  vortreffliche  Regierung",  so  wieder- 
holte einer  nach  dem  andern  im  jubelvolloi  Bericht  an  Galilei;  „wir 
werden  einen  höchsten  Mäcenas  haben",  ,,es  wird  ein  Regiment  der 
schönen  Wissenschaften  sein"  —  so  hieß  es  zuversichtlich  in 
den  Kreisen  der  Lyncei.^  Stand  docli  vor  allen  übrigen  Fürst  Cesi 
in  Barberinis  Gunst,  nun  wurden  überdies  durch  die  ersten  Wahlen, 
die  der  neue  Papst  zu  treffen  hatte,  zwei  der  angesehensten  Älitglieder 
der  Akademie  in  seine  nächste  Umgebung  gezogen;  Virginio  Cesarini 
wurde  zum  maestro  di  Camera  ernannt,  Monsignor  Ciampoli  wurde 
als  segretario  de  Brevi  bestätigt  und  erhielt  zugleich  den  Rang 
eines  Kainmerherrn,  ein  dritter  aus  dem  akademischen  Kreise,  der 
Cavaliere  del  Pozzo^,  wurde  für  den  Dienst  des  päpstlichen  Neffen, 


1  Ed.  Naz.  XIII  p.  120. 

2  Ed.  Naz.  XIII  p.  121,  124,  125,  126. 

3  Ed.  Naz.  XIX  p.  560. 


—     59     — 

Francesco  Barberini,  bestimmt,  dessen  Erhebung  zum  Kardinal^ 
nicht  ausbleiben  konnte.  Man  säumte  nicht,  diese  seltene  Gunst 
der  Verhältnisse  zur  Sicherung  dauernder  Beziehungen  zu  verwerten. 
Im  Namen  der  Akademie  wurde  dem  Papst  die  Widmung  des  Sag- 
giatorc  angetragen.-  Urban  nahm  sie  in  gnädiger  Weise  an.  Unter 
den  Verwandten  des  Papstes  war  der  neu  erwählte  Kardinal,  Fran- 
cesco Barberini,  dem  alle  AVeit  gewichtigen  l-^influß  unter  dem  neuen 
Regiment  voraussagte,  zugleich  als  Gönner  gelehrter  Bestrebungen 
bekannt  —  ihm  trug  man  in  bescheidenster  Höflichkeit  die  Mitglied- 
schaft der  Akademie  an;  der  Kardinal  wußte  die  Ehre,  die  ihm  ge- 
boten wurde,  zu  schätzen,  und  die  Akademiker  dankten  ihm  in  feier- 
licher Deputation,  daß  er  ihre  Genossenschaft  nicht  verschmähte.^ 
Wir  werden  also,  schrieb  man  an  Galilei,  einen  Protektor  im  Purpur 
haben.  Auch  Galilei  mußte  der  Genugtuung  darüber  Ausdi^uck 
geben.  Fürst  Cesi  fand  es  wünschenswert,  daß  er  den  Kardinal  über 
seinen  aufrichtigen  Anteil  nicht  in  Zweifel  lasse.*  Galilei  erwiderte, 
daß  seine  Freude  in  der  Tat  aufrichtig  sei.  Mehr  noch  als  für  irgend- 
einen der  Freunde  war  die  Wandlung  der  Dinge  in  Rom  für  ihn  eine 
verheißungsvolle.  Seit  längeren  Jahren  hatten  freundschaftliche  Be- 
ziehungen zwischen  ihm  und  dem  Kardinal  Maffeo  Barberini  be- 
standen. Eine  Reihe  von  Briefen  des  Kardinals  gibt  davon  Zeugnis. 
Mag  der  Wunsch,  selbst  für  einen  Gelehrten  und  besonderen  Gönner 
der  Gelehrsamkeit  zu  gelten,  ihm  mehr  als  wahres  Verständnis  den 
Verkehr  mit  dem  großen  Manne  schätzenswert  gemacht  haben,  die 
Folge  dieser  schriftlichen  Äußerungen  läßt  jedenfalls  darauf  schließen, 
daß  das  Verhältnis  auf  beiden  Seiten  als  ein  näheres  empfunden 
wurde.  Galilei  übersandte  dem  Kardinal  regelmäßig  seine  neu  er- 
schienenen Werke,  und  der  Kardinal  bekundete  ihm  in  seinen  p]n\ide- 
rungen  lebhaften  Anteil^;  er  fand,  daß  seine  Ansicht  über  die  scln\im- 
menden  Körper  der  Galileis  nahestehe'',  Galilei  schrieb  ihm,  noch 
bevor  er  seine  Auffassung  veröffentlichte,  über  die  Sonnenflccken 
und  die  Ursache  ihrer  Ortsveränderung  ^.    Es  schien  dem  Kardinal, 

1  Ed.  Naz.  XIII  p.  133,  137. 

2  Ed.  Naz.  VI  p.  201;  XIII  p.  129,  142,  146. 

3  Ed.  Naz.  XIII  p.  133,  134,  137. 
*  Ed.  Naz.  XIII  p.  135. 

5  Ed.  Naz.  XI  p.  216. 

«  Ed.  Naz.  XI  p.  317f. 

■  Ed.  Naz.  XI  p.  304—311. 


—     60     - 

daß  Galilei  die  Deutung  der  Sonnenf lecken  in  Apelles  Briefen  mit 
gutem  Grund  verwerfe^;  freilich  verwechselt  er  dann  im  folgenden 
Brief  die  Meinung  der  beiden  Gegner,  wenn  er  versuchen  will,  „die 
Planeten",  die  Galilei  angekündigt  hat,  durchs  Fernrohr  zu  ver- 
folgen. Als  bald  darauf  Barberini  von  Bologna  nach  Rom  über- 
siedelte, fand  er  Gelegenheit,  Galilei  sein  AVohlwollen  durch  die  Tat 
zu  beweisen.  Bei  ihm  suchte  in  den  Jahren  der  Drohungen  und 
Denunziationen  Ciampoli  Rat  und  Auskunft;  er  war  es,  der  Galilei 
ermahnen  ließ,  sich  auf  physikalische  und  mathematische  Erörterungen 
zu  beschränken,  die  Theologie  den  Theologen  zu  überlassen;  er  zählte 
im  Jahre  1616  zu  seinen  entschiedensten  Gönnern  und  Verteidigern, 
und  aus  mancherlei  Andeutungen  läßt  sich  entnehmen,  daß  er  dem 
Urteil  gegen  die  copernicanische  Lehre  wenigstens  nicht  in  dem 
Umfange  zugestimmt  habe,  wie  es  im  März  1616  zum  Beschluß  er- 
hoben wurde. 

So  bekunden  auch  die  späteren  Briefe  des  Kardinals  sein  un- 
verändertes Wohlwollen,  seine  Achtung  vor  Galileis  Talenten.  Galilei 
sandte  ihm,  wie  die  früheren  Schriften,  auch  Guiduccis  Kometenrede 
zu,  und  als  sie  durch  einen  Unfall  nicht  in  die  Hände  des  Kardinals 
gelangt  war,  äußerte  dieser  den  dringenden  Wunsch,  deshalb  nicht  auf 
das  Werk  verzichten  zu  müssen.  ^  Als  Beweis  seiner  wahren  Ergeben- 
heit widmete  er  bald  darauf  dem  Entdecker  der  Jupiterstrabanten 
ein  lateinisches  Gedicht^;  bei  der  Übersendung  bittet  er  Galilei,  die 
Verse  als  ein  kleines  Zeichen  der  großen  Verehrung,  die  er  für  ihn 
hege,  zu  betrachten.^  Der  gleiche  Ton  der  Zuneigung  findet  sich 
in  den  Zeilen  wieder,  mit  denen  Barberini  wenige  Monate  vor  seiner 
Erhebung  zur  höchsten  kirchlichen  Würde  Galilei  für  eine  erwiesene 
Aufmerksamkeit  seinen  Dank  sagt.  Den  Worten  seines  Sekretärs 
fügt  er  mit  eigener  Hand  die  wiederholte  Versicherung  hinzu,  daß 
Galilei  bei  ihm  zu  allen  Zeiten  das  lebhafte  Verlangen  und  volle 
Bereitwilligkeit  finden  werde,  ihm  die  Anhänglichkeit,  die  er  ihm 
und  den  Seinen  bewahre,  zu  erwidern.^ 

Als  Maffeo  Barberini  Papst  Urban  geworden  war,  sandte  Galilei 


1  Ed.  Naz.  XI  p.  322/23. 

2  Ed.  Naz.  XII  p.  461—462.  463. 

3  Ed.  Naz.  XIII  p.  48—49,  50. 
*  Ed.  Naz.  XIII  p.  48 f. 

^  Ed.  Naz.  XIII  p.  119. 


—     61      — 

dip  Briefe  des  Kardinals  seiner  Lieblingstochter  ins  Nonnenkloster 
zu  Aicelri.^  ^lit  inj^ondlieheni  Entzücken  las  die  Tochter,  in  welchem 
Ansehen  der  h(»chverehrte  Vater  hei  dem  Manne  gestanden,  der  nun 
der  höchste  Herr  der  Christenheit  geworden  war.  Kindlich  denkt 
sie  sich  aus,  wie  nun  der  Vater  zur  Thronbesteigung  einen  wunder- 
schönen Brief  an  den  Papst  geschrieben  habe,  und  ihr  Verlangen  ist, 
wenn's  möglich  wäre,  auch  diesen  zu  lesen.  Auch  Galilei  war  in  vollem 
Maße  empfänglich  für  den  Abglanz  der  Herrlichkeit,  der  in  den  Augen 
der  Welt  auf  den  Freund  und  Schützling  des  Auserwählten  der  Kirche 
fiel.  Auch  ihm  schwoll  das  Herz  von  stolzen  Hoffnungen.  Es  ent- 
sprach seinen  Gewohnheiten,  die  Formen  gesellschaftlicher  Höflich- 
keit mit  der  Gewissenhaftigkeit  des  Hofmanns  zu  wahren;  dieses 
Mal  war  es  mehr  als  Form,  wTun  er  außer  den  Freunden,  die  zum 
päpstlichen  Dienst  berufen  waren,  auch  den  näheren  Verwandten 
des  Papstes  seine  Glückwünsche  in  Ausdrücken  darbrachte,  die  von 
Genugtuung  überströmten. 

Für  Galilei  bedeutete  diese  Papstwahl  nichts  geringeres  als  die 
l^röffnung  neuer  Aussichten  für  die  Befreiung  der  Wissenschaft. 
„Angelegenheiten  von  der  größten  Bedeutung  für  die  Republik  der 
Wissenschaften  bewegen  mein  Gemüt'",  so  schrieb  er  wenige  Tage 
nach  der  Ernennung  Urbans  an  den  Fürsten  Cesi.-  Wenn  unsere 
Wünsche  bei  solcher  Gunst  der  Verhältnisse  sich  nicht  verwirklichen 
lassen,  —  so  wird  kaum  zu  hoffen  sein,  daß  dies  jemals  geschehe. 
Jetzt  oder  niemals,  glaubte  er,  müsse  es  gelingen,  eine  Abänderung 
oder  Aufhebung   des   Dekrets  gegen   den   Copernicus   zu   erwirken. 

Niemand  in  der  Republik  der  Wissenschaften  hatte  an  einer 
solchen  Entscheidung  größeren  Anteil  als  Galilei.  Er  stand  im  sechzig- 
sten Lebensjahr,  und  das  Werk,  das  seit  Jugendjahren  als  hohe 
Lebensaufgabe  ihm  vorschwebte,  das  dem  Geiste  reif  und  vollendet 
dastand,  war  unter  dem  Bann  des  kirchlichen  Verbots  noch  immer 
unausgeführter  Entwurf  geblieben. 

Die  sieben  Jahre,  die  seit  jener  Entscheidung  verflossen  waren, 
hatten  genügt,  ihn  den  Druck  der  Fessel  in  vollem  Maße  empfinden 
zu  lassen,  aber  die  Äußerungen  des  Saggiatore  beweisen,  daß  sie 
ihn  in  seiner  Gesinnung  gegen  die  Kirche  nicht  wankend  gemacht 


i  Ed.  Naz.  XIII  p.  120,  122,  127. 
■'  Ed.  Naz.  XTTT  p.  135.   140—141. 


—     62     — 

hatten.  Unter  solchen  Umständen  gab  es  keine  Erlösung  vom  un- 
ei-trägliehen  Bann,  als  durch  den  freien  Verzicht  derselben  Gewalt, 
die  Fessel  und  Bann  über  die  (iläubigen  verhängt  hatte,  und  darum 
mußte  auch  Galilei  die  VerN\irklichung  seiner  Hoffnungen  —  wenn 
er  jemals  Erfüllung  hoffen  durfte  —  von  dem  neuen  Träger  der 
päpstlichen  Gewalt  erwarten.  Schon  unter  Gregor  hatte  ihm  Ciam- 
poli  in  der  Zuversicht  auf  den  eigenen  Einfluß  am  päpstlichen  Hofe 
Andeutungen  in  dieser  Hinsicht  gemacht.^ 

Galilei  war  entschlossen,  dem  Papst  persönlich  seine  Huldigung 
darzubringen  und  bei  dieser  Gelegenheit  für  die  Sache  der  freien 
Wissenschaft  einzutreten.  Er  ließ  zunächst  durch  die  Freunde  am 
päpstlichen  Hof  Erkundigungen  einziehen,  ob  er  auf  gnädige  Auf- 
nalinie  zu  rechnen  habe.  Die  Antworten  lauteten  überaus  ermutigend.- 

In  Galileis  Namen  hatte  Cesarini  schon  in  den  ersten  Tagen 
des  neuen  Regiments  Sr.  Heiligkeit  den  Fuß  geküßt,  und  der  Papst 
hatte  über  das  Zeichen  der  Ergebenheit  seine  Freude  ausgesprochen. 
.Jeder  der  Freunde  suchte  nun,  bei  passender  Gelegenheit  von  Galilei 
zu  reden.  „Ich  schwöre  Euch",  schreibt  ihm  Thomas  Einuccini^, 
..daß  nichts  von  allem,  was  ich  sagte,  unsern  Herrn  so  sehr  erfreut 
hat,  wie  die  Erwähnung  Eures  Namens;  als  ich  dann  Eures  Wunsches 
gedachte,  erwiderte  der  Papst,  es  w^ürde  ihn  sehr  freuen,  Euch  zu 
empfangen,  wenn  es  sich  mit  Eurer  Gesundheit  vereinen  ließe,  denn 
die  großen  Männer,  wie  Ihr,  müssen  in  jeder  Weise  darauf  bedacht 
sein,  so  lange  als  möglich  zu  leben."  Als  bald  darauf*  Fürst  Cesi 
zur  Audienz  erschien,  empfing  ihn  der  Papst  mit  den  Worten:  „kommt 
Galilei?  Wann  kommt  er?"  „Die  Stunde  währt  ihm  tausend  Jahre 
bis  dahin",  erwiderte  der  Fürst.  Alle  wiederholten,  daß  der  Papst 
mit  Liebe  und  Achtung  von  ihm  rede.  Einstimmig  waren  die  Freunde 
der  Meinung,  daß  Galileis  baldiges  persönliches  Erscheinen  in  Rom 
nicht  nur  geraten,  sondern  um  seiner  Pläne  willen  unerläßlich  sei. 
Körperliche  Leiden  und  ein  ungewöhnlich  rauher  Winter  nötigten 
ihn  gegen  seine  Neigung  zu  längerem  Aufschub.  Indessen  war 
dafür  gesorgt,  daß  die  Gesinnung  des  Papstes  nicht  erkaltete.    Nur 

1  S.  d.  Brief  aampolis  an  Galüei  vom  27.  Mai  1623,  der  Kap.  II,  S.  41 
ausführlich  behandelt  ist. 

-  Ed.  Naz.  XIII  p.  124.  135. 
3  Ed.  Naz.  XIII  p.  139—140. 
*  Ed.  Naz.  XIII  p.  140—141. 


—     68     — 

kurze  Zoit  nach  Urbans  Wahl  im  Herbst  1623  war  der  Saggiatore 
erschienen.  Die  Widmung  an  den  Papst^  im  Namen  der  Akademie 
der  Lyncei  von  Virg.  f'esarini  verfaßt,  gab  nochmals  dem  Jubel  und 
den  Hoffnungen,  in  denen  die  Freunde  der  Wissenschaft  schwelgten, 
wortreichen  Ausdruck.  Die  Vorstellungen,  in  denen  man  den  Papst 
als  den  Mäzen  aller  edleren  Bestrebungen  gefeiert  hatte,  fanden 
neue  Nahrung  in  dem  Interesse,  das  ürban  alsbald  dem  Saggiatore 
zuwandte;  er  ließ  sich  das  Buch  bei  Tische  vorlesen  und  folgte  mit 
großem  Wohlgefallen  bis  zum  Ende.- 

Über  den  Eindruck  des  Saggiatoie  in  den  weiteren  Kreisen  der 
gelehrten  und  der  gebildeten  Zeitgenossen  ist  uns  außer  den  be- 
geisterten Kundgebungen  der  Freunde  wenig  erhalten.  Unter  den 
Urteilen  der  Zeitgenossen  nehmen  die  kurzen  Bemerkungen  Keplers 
unser  Interesse  in  Anspruch,  Es  ist  das  letzte  Mal,  daß  wir  den 
großen  Mann  Galilei  nahetreten  sehen,  das  erste  Mal,  daß  die  beiden 
nicht  auf  gleicher  Seite  kämpfen,  aber  um  so  schöner  tritt  Keplers 
edle  Denkweise  aus  seinem  Urteil  hervor.  Seine  Bemerkungen  zum 
Saggiatore^  finden  sich  im  Anhang  einer  größeren  Schrift,  durch 
die  er  die  Lehre  Tycho  Brahes  gegen  Scipio  Chiaramonti  von 
Cesena'*  verteidigt,  Kepler  betrachtete  sich  nach  Tychos  Tode  bei 
aller  Verschiedenheit  der  Ansichten  und  der  Gesinnung  als  den  natür- 
lichen Vertreter  des  Mannes,  dem  er  so  viel  verdankte.  Er  trat  über- 
dies in  der  Lehre  vom  himmlischen  Ort  der  Kometen  und  der 
Methode  Tychos,  ihn  nachzuweisen,  für  die  eigene  Sache  ein,  für 
einen  Besitz,  dessen  er  sich  seit  dreißig  Jahren  sorglos  und  ungestört 
gefreut  und  den  er,  wie  er  war,  den  Nachkommen  zu  überliefern  ge- 
dachte. Seine  Schrift,  die  sich  als  Schildhalter  Tychos  dem  „Anti- 
tycho"  gegenüberstellt,  will  zugleich  mit  aller  Sorgfalt  untersuchen, 
ob  er  selbst,  „was  er  als  Jüngling  gelernt,  als  Mann  gelehrt  hat,  nun 
im  abwärtsgehenden  Lebensalter  wieder  verlernen  und  andern, 
lehrend,  nehmen  muß."^ 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  201, 

2  Ed,  Naz.  XITI  p.  141,  146,  154. 

^  Appendix    Hyperaspistis    seu    spicilegiura    ex    trutinatore    Galilaei. 
Jo.  Kepler!  Opera  ed.  Frisch.    Vol.  VII  p.  270—279. 

*  Tychonis    Braliei    Hyperaspistes.        Jo.  Kepieri    Opera    ed.    Frisch. 
Vol.  VII  p.  161—269. 

*  Jo.  Kepler!  opera  ed.  Frisch.    Vol.  VII  p.  166. 


—     64     — 

Sein  Urteil  über  Galileis  Kometenlehre  ist  unausgesprochen  in 
dieser  Verteidigung  Tyehos  gegen  Chiaramonti  enthalten.  Die  „Ähren- 
lese aus  Galileis  Goldwage"  läßt  diese  Hauptsache  unberührt.  Nicht 
in  den  Streit  zwischen  Sar.si  und  Galilei  will  er  sich  einmischen,  aber 
seine  Pflicht  als  Verteidiger  nötigt  ihn,  so  gut  er  kann,  die  Angriffe 
zurückzuweisen,  in  denen  auch  der  Saggiatore  den  Verdiensten,  ja 
der  wissenschaftlichen  Ehre  Tycho  Brahes  zunahe  tritt.  ^  Keine  Stelle 
des  Buches  bleibt  unberühi't,  die  von  ihm  redet  (im  Vorübergehen 
finden  dann  auch  die  Bemerkungen  ihre  Erledigung,  in  denen  Kepler 
selbst  genannt  wird).  Galilei  hatte  Tyehos  Namen  in  ziemlich  gering- 
schätziger Weise  erwähnt.  So  hatte  er  gelegentlich  den  Vorwurf 
der  Unwissenheit  in  einfachen  geometrischen  Dingen  gegen  ihn  er- 
hoben; bei  der  Entscheidung  über  die  Kleinheit  der  Kometenparallaxe 
sieht  er  ihn  völlig  willkürlich  Beobachtungen  auswählen,  die  seiner 
Absicht  entsprechen,  andere  verwerfen,  die  widersprechen.  Kepler 
weist  wenigstens  in  einzelnen  Fällen  diese  Vorwürfe  mit  voller  Über- 
zeugung zurück.  Jene  Fehler  und  Irrtümer  sind,  wenn  man  sich 
an  die  Worte  hält,  unbestreitbar  vorhanden;  aber  wer  Tyehos  große 
Leistungen  kennt  und  bei  den  Worten  an  den  Mann  denkt,  kann 
den  Grund  nicht  in  einer  Unwissenheit  suchen,  die  bei  Schülern  zu 
tadeln  wäre;  Sorglosigkeit  im  Ausdruck,  ein  unglücklicher  Zufall 
beim  Druck,  selbst  eine  augenbUcMiche  Gedankenschwäche  könnte 
passender  zur  Erklärung  dienen,  um  so  mehr,  als  diese  scheinbaren 
Fehlgriffe  für  Tyehos  Hauptbeweis  ohne  jede  Bedeutung  sind. - 

In  dem  anderen  Falle  mag  Kepler  so  wenig  glauben,  daß'  Galilei 
ernstlich  den  ersten  aller  astronomischen  Beobachter  der  Gewissen- 
losigkeit zeiht,  daß  er  vernnitet,  er  sei  vor  allem  darauf  bedacht 
gewesen,  Guiducci  Wort  für  Wort  gegen  den  Angriff  zu  verteidigen; 
er  kann  nicht  zweifeln,  daß  Galilei,  wenn  irgend  jemand,  weiß,  wie 
weit  „Minzen  von  Lupinen  verschieden  sind"  3,  und  welcher  Unter- 
schied zwischen  Tyehos  unglaublicher  Sorgfalt  in  Beobachtungen 
und  der  gewöhnlichen  OberflächHchkeit  der  meisten  Beobachter  be- 
steht. In  der  Schrift  gegen  Chiaramonti  hat  er  den  gleichen  Vorwurf 

1  Jo.  Kepler!  opera  ed.  Frisch.    Vol.  VII  p.  270. 

^  Vergl.  Keplers  merkwürdige  Verteidigung  der  geometrisch  sinnlosen 
Stelle  Astron.  inst.  II  125  im  Tychonis  Hyperaspistes  (Jo.  Kepleri  opera 
Vol.  VII  p.  194,  ergänzt  p.  270). 

^  Jo.  Kepleri  opera  ed.  Frisch.    Vol.  VII  p.  277. 


—     65     — 

in  aller  Gründlichkpit  widerlegt,  hier  weist  er  nur  darauf  hin,  daß 
Tychos  eigene  Beobachtungen  vollkommen  ausreichen  und  von  ihm 
ausschließlich  benutzt  werden,  um  zu  erweisen,  worauf  es  ankommt; 
dann  aber  habe  er  die  Beobachtungen  anderer  verglichen  und  unter 
ihnen  keineswegs  ausgewählt,  was  die  seinigen  bestätigte,  sondern 
nach  denselben  Grundsätzen  die  besseren  gesondert,  nach  denen  er 
die  eigenen  den  übrigen  vorgezogen  hatte.  Niemand  war  in  dieser 
Beziehung  ein  besserer  Kenner  und  ein  besser  berechtigter  Kichter 
als  der  Forscher,  der  seine  größten  Entdeckungen  nicht  unabhängig 
von  Tychos  neuer  Kunst  der  astronomischen  Beobachtung  und  ihren 
großen  Ergebnissen  zu  denken  vermochte.  Aus  vollster  Sachkenntnis 
konnte  Kepler  gleichfalls  erwidern,  wo  es  sich  um  Tychos  Weltsystem 
handelte.  Auch  hier  mußte  er,  so  zweifellos  für  ihn  die  Überlegenheit 
der  copernicanischen  Lehre  begründet  war,  den  wegwerfenden  Äuße- 
rungen Galileis  widersprechen,  nach  denen  von  einem  tychonischen 
System  nicht  zu  reden  sei.  In  der  Tat  hatte  Tycho  eine  völlige  Dar- 
stellung der  Himmelserscheinungen  nach  seiner  Hypothese  „ver- 
sprochen", und  dies  Versprechen  war  unausgeführt  geblieben,  aber 
sein  System  konnte  nicht  als  ein  nicht  vorhandenes  bezeichnet  werden; 
ohne  die  eigene  Ansicht  im  Dunkeln  zu  lassen,  muß  Kepler  doch 
behaupten,  daß  Tychos  Lehre  viele  sch^^ierige  Probleme  der  Planeten- 
kunde zu  lösen  wohlgeeignet  ist,  daß  sich  die  meisten  copernicanischen 
Deutungen  leicht  in  ihre  Sprache  übertragen  lassen.  Galilei  hatte 
geäußert,  daß  erst  durch  seine  Entdeckungen  über  die  Veränderung 
in  der  scheinbaren  Größe  des  Mars  die  Stellung  der  Erde  inmitten 
der  Marsbahn  beseitigt  sei.  Kepler  hat  für  diese  Entdeckung  freudige 
Anerkennung,  aber  eine  solche  Bedeutung  kann  er  ihr  nicht  zu- 
gestehn;  es  waren  Tychos  Beobachtungen,  aus  denen  er  selbst,  noch 
vor  der  Erfindung  des  Fernrohrs,  Erdabstände  berechnet  hat,  die 
der  Annahme  des  Copernicus  über  die  Stellung  des  Mars  im  Planeten- 
system entsprechen.  Nicht  ohne  Verwunderung  kann  Kepler  bei 
dieser  Gelegenheit  wahrgenommen  haben,  daß  Galilei  dem  ganzen 
Bereich  dieser  Forschungen  über  den  Mars  wie  völKg  fremd  gegen- 
übersteht. Er  wußte  das  Buch  über  die  Bewegung  des  Mars  in  seinen 
Händen,  er  selbst  hatte  es  ihm  vor  fünfzehn  Jahren  übersandt; 
die  gleiche  Lehre  hatte  er  vor  drei  Jahren  in  der  systematischen 
Darstellung  seiner  „copernicanischen  Astronomie"  wiederholt;  aber 
kein  Wort  in  Keplers  Bemerkungen  deutet  Überraschung  oder  Be- 

Wohlwill,  Galilei.    II.  5 


—     66     — 

fremden  an;  er  wiederholt  in  aller  Kürze  die  Annahmen,  die  er  dort 
der  Berechnnng  zugrunde  legt;  er  füi'chtet  nicht,  äußert  er,  daß 
Galilei  diese  Annahmen  leugnen  will  und  deshalb  Tychos  Beobach- 
tungen jene  Bedeutung  streitig  macht;  er  meint,  daß  nur  der  Eifer 
des  Streits  ihn  fortreiße;  „als  der  unerbittliche  Orkus  dem  Orpheus 
seine  Euridice  versagte  und  Thrazien  andere  Mädchen  ihm  entgegen- 
führte —  da  soll  er,  vom  Haß  gegen  das  ganze  übrige  Geschlecht 
ergriffen,  seine  Worte  nicht  zwar  mit  Überlegung,  aber  vom  bitteren 
Schmerz  überwältigt,  auch  gegen  Euridice  selbst  gerichtet  haben. "^ 

In  höherem  Grade  noch  befremdend  klingen  für  Kepler  die 
Äußerungen,  in  denen  die  beiden  Gegner  übereinstimmend  von 
Copernicus  reden.  Kepler  begreift  weder  das  Verbot,  noch  die  Unter- 
werfung. Aber  auch  hier  vermeidet  er  Galilei  gegenüber  jedes  strengere 
Wort.  Mit  dem  ganzen  Unwillen  einer  edlen  Gesinnung  wendet  er 
sich  gegen  Sarsis  heuchlerisch  eingekleidete  Verdächtigungen;  nur 
als  Sarsis  Äußerungen  führt  er  die  Verwahrungen  des  frommen  Katho- 
liken an,  nur  ihn  sieht  er  untersuchen,  ob  die  falsche  copernicanische 
Lehi'e,  falsch  me  sie  ist,  den  Erscheinungen  genügen  könne  und 
findet,  daß  er  dabei  wie  zwischen  lauernden  Hunden  den  Toren  der 
Wahrheit  zustrebe;  so  sehr  verlangt  er,  die  Tore  zu  erreichen,  so 
vorsichtig  fragt  er,  daß  er  nicht  gebissen  wird.  Kepler  versteht  nicht 
oder  \dll  nicht  verstehen,  daß  die  römischen  Herrscher  in  Wirklich- 
keit sich  eine  Entscheidung  anmaßen,  die  ihrem  Machtbereich  ent- 
zogen ist;  die  stärkere  Vermutung  spricht  in  ihm  dafür,  daß  nur 
die  knechtische  Gesinnung  den  Willen  der  Gebieter  zu  dem  gestalte, 
was  sie  knechtisch  befolgen.  „Täuscht  mich  nicht  alles",  ruft  er 
aus,  „so  füi-chtet  Aegle  die  Stirn  des  Silen,  die  sie  selbst  mit 
Mennig  angestrichen;  mag  denn  Perillus  in  eigener  Qual  seinen 
Ochsen  brüllen  lehren." ^ 

All  diese  Worte  wenden  sich  gegen  Sarsi,  aber  im  Kern  der 
Sache  treffen  sie  Galilei  mit.  Kepler  nennt  ihn  nicht,  keins  seiner 
Worte  könnte  dem,  der  nur  durch  ihn  vom  Saggiatore  weiß,  ver- 
raten, daß  auch  Galilei  dem  Machtspruch  gegenüber  vollen  Gehorsam 
zur  Schau  trägt.  Zsur  einen  jener  merkwürdigen  Sätze  findet  man 
zitiert,  aber  auch  hier  deckt  Keplers  lateinische  Übertragung  mit 


1  Jo.  Kepler!  opera  ed.  Frisch.    Vol.  VII  p.  271f. 
-  Ibid.  p.  276. 


—     67     — 

absichtlicher  Ungciiauigkeit  die  demütigen  Worte  des  Originals,  er 
überhört  ,,die  Wohltat  für  die  Katholiken";  statt  der  „erhabenen 
Weisheit",  die  von  Rom  kommt,  setzt  er  „ein  übernatürliches  Licht", 
und  so  kann  er  selbst  der  Meinung  seine  Zustimmung  nicht  versagen, 
daß  schwerlich  Tycho  die  Forscher  über  den  Irrtum  des  Copernicus 
aufgeklärt  hätte,  wenn  nicht  „ein  übernatürliches  Licht  sie  erleuchtet 
hätte";  „auch  auf  Tycho",  fügt  Kepler  hinzu,  „ist,  wie  mich  dünkt, 
etwas  von  jenem  übernatürlichen  Licht  durch  eine  enge  Ritze  herab- 
gestrahlt, und  dieser  Strahl  hat  seine  Augen  von  dem  hellglänzenden 
Gestirn  des  copernicanischen  Systems  auf  sein  eigenes  gelenkt." 

„Aber  denen",  schließt  er  —  um  völlig  klar  zu  sein  — ,  „die 
etwas  stärkere  Augen  haben,  verschwinden  nicht  sofort  beim  Aufgang 
der  Sonne  die  übrigen  Gestirne,  namentlich  wenn  sie  gesondert  bald 
jene,  bald  diese  anschauen,  ein  jedes  an  seinem  Ort  und  Bezirk. "^ 
Daß  Galilei  nicht  anders  dachte,  \Mißte  Kepler  trotz  der  wider- 
sprechenden Worte,  daß  man  so  denken  und  die  Worte  den  Gedanken 
verleugnen  lassen  konnte,  das  allerdings  w^ar  ihm  seinem  innersten 
Wesen  nach  fremd  und  unbegreiflich.  Aber  nur  zwischen  den  Zeilen 
eines  offenen  Bekenntnisses  läßt  sich,  wenn  man  deuten  will,  ein 
leiser  Vorwurf  für  Galilei  lesen,  Mit  voller  Absicht  sucht  er,  wie  hier, 
so  in  allen  Teilen  der  Beurteilung  im  Streit,  wie  in  der  Zustimmung 
die  freundschaftliche  Form  zu  wahren,  in  allem  Freimut  der  Rede 
läßt  er  nirgends  den  Ausdruck  der  vollen  Achtung  vermissen,  der 
dem  ebenbürtigen  Geist  gebührt,  und  so  versäumte  er  auch  nicht, 
zum  Schluß  den  übrigen  Inhalt  des  Buchs  als  überaus  reich  an 
Gedanken  und  Versuchen  zu  kennzeichnen,  in  vollem  Maße  würdig, 
bei  den  Freunden  der  Philosophie  Lob  und  Gunst  zu  finden. - 

Galilei  scheint  so  wenig  für  die  milde  Form  wie  für  den  ernsten 
Gehalt  in  den  Einwürfen  seines  Kritikers  offenen  Sinn  gehabt  zu 
haben;  sein  Urteil  über  Keplers  Bedenken  lautet  überraschend  gering- 
schätzig. Zum  ersten  Male  tritt  bei  dieser  Gelegenheit  in  bestimmten 
Äußerungen  der  tiefe  Gegensatz  der  Naturen  der  beiden  Männer 
zutage,  die  bis  dahin  trotz  aller  bewußten  Verschiedenheit  im  Denken 
und  Reden  sich  als  Freunde  nahegestanden  hatten.  Vor  allem  war 
Keplers   Schreibweise   Galilei  in  hohem  Maße  unsympathisch,  und 


^  Jo.  Kepler!  opera  ed.  Frisch.    Vol.  VII  p.  274. 
-  Ibidem  p.  279. 


—     68     — 

in  der  Tat  läßt  sich  kaum  ein  größerer  Gegensatz  denken,  als  seine 
schwungvolle,  schmuck-  und  bilderreiche,  tausendfältig  abschweifende 
Darstellung  neben  der  durchsichtigen  Klarheit,  Einfachheit  und 
Sauberkeit  in  Galileis  Stil.  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  diese 
starke  äußerliche  Abneigung  Galileis  ihn  unfähig  gemacht  hat,  in 
Keplers  Werken  unter  den  vielen  Dingen,  die  ihn  abstießen,  bis  zum 
Kern  der  größten  Entdeckungen  zu  gelangen.  Was  sich  aus  ander- 
weitigen Andeutungen  vermuten  läßt,  ^^'ird  in  seinen  Äußerungen 
über  die  Randglossen  zum  Saggiatore  ziemUch  ununn^imden  aus- 
gesprochen.^ 

Galilei  empfing  „die  Ährenlese  zum  Saggiatore"  zugleich  mit 
einer  neuen  peripatetischen  Schrift  Chiaramontis  gegen  die  Be- 
wegung der  Erde;  er  trägt  kein  Bedenken,  beide  Schriften  in  raschem 
Urteil  zusammenzufassen;  die  eine  wie  die  andere  erscheint  ihm 
überaus  schwach.  „Alles  in  allem",  schreibt  er  einem  Freunde  in 
Bologna,  freilich  in  vertrautem  Briefwechsel^,  ,, bestärken  mich  die 
Schöpfungen  dieser  ersten  Männer  —  er  redet  noch  immer  von  Kepler 
und  Chiaramonti  zugleich  —  einigermaßen  in  der  geringen,  und  ich 
kann  sagen  kleinmütigen  Meinung,  die  ich  immer  von  meiner  Be- 
gabung gehegt  habe."  Seltsam  genug  gesteht  er  auf  demselben  Blatt, 
daß  er  von  Keplers  Anhang  das  allerwenigste  verstehe,  er  wisse  nicht, 
ob  das  an  seiner  geringen  Fassungsgabe  oder  an  dem  ausschweifenden 
Stil  des  Verfassers  Hege;  er  fürchtet,  weil  er  seinen  Tycho  nicht  gegen 
die  Anschuldigungen  des  Saggiatore  habe  verteidigen  können,  habe 
Kepler  für  gut  befunden,  zu  schreiben,  was  andere,  und  vielleicht 
auch  er  selbst,  nicht  verstehen  können.  Eine  solche  Auffassung  ist, 
selbst  wenn  man  vergessen  könnte,  gegen  wen  sie  gerichtet  ist,  dem 
Inhalt  jenes  Anhangs  gegenüber  kaum  verständlich,  wenn  man  nicht 
an  eine  Art  instinktiver  Scheu  vor  der  fremdartigen  Weise  Keplers 
denken  will. 

Geben  diese  Worte  nur  den  ersten  Eindruck  nach  flüchtigem 
Durchblättern  wieder,  so  fiel  das  Urteil,  nachdem  er  nach  ruhigem 
Lesen  nochmals  beide  Schriften  zusammenwirft,  um  nichts  gerechter 
oder  milder  aus;  Keplers  Einwürfe  scheinen  ihm  von  der  allerleichtesten 
Art.  ,  Um  seines,  wie  um  Keplers  Namens  willen,  dünkt  ihm  eine 


1  Ed.  Naz.  XIII  p.  290,  292,  297.  299.  301.  305.  310,  315. 
-  Ed.  Naz.  XIII  p.  302.  326,  328,  331. 


—     69     — 

Erwiderung  unerläßlich,  wiewohl  ein  jeder,  der  nur  mittelmäßig  in 
Arbeiten  dieser  Art  bewandert  ist,  selbst  sehen  wird,  daß  alles  Un- 
recht auf  Keplers  Seite  ist.  Von  der  beabsichtigten  Erwiderung  ist 
in  weiteren  Briefen  an  Caesar  Marsili  noch  wiederholt  die  Rede, 
und  jedes  Mal  fügt  Galilei  hinzu:  die  Autwort  sei  eine  Kleinigkeit; 
sie  ist  jedoch  in  zusammenhängender  Form  nicht  erschienen,  nur 
auf  Einzelheiten  geht  er  gelegentlich  in  den  späteren  Schriften  ein. 

Daß  er  auch  jetzt  in  Keplers  Zitaten  keine  Veranlassung  fand, 
sorgsamer  als  zuvor  sich  mit  den  ,, Kommentaren  über  die  Bewegungen 
des  Mars"  zu  beschäftigen,  beweisen  diese  späteren  Werke. 

Mit  größerer  Teilnahme  folgte  er  dem  Eindruck,  den  sein  Buch 
im  Collegium  Romanum  hervorrief.  Die  Freunde  in  Rom  waren 
beauftragt,  ihm  von  allem,  was  sich  darüber  erspüren  ließ,  Kunde 
zu  geben.  Sie  berichteten  getreulich,  was  irgend  von  Grassi  und 
seinen  Ordensgenossen  laut  wurde.  ^ 

Grassi  war  einer  der  ersten,  der  den  Saggiatore  im  Laden  des 
Buchhändlers  forderte;  er  wechselte  die  Farbe,  als  er  das  Titelblatt 
sah;  „drei  Jahre",  sagt  er,  ,,hat  mich  Galilei  auf  diese  Antwort  warten 
lassen,  ich  aber",  läßt  ihn  der  Erzähler  hinzufügen,  .,^^11  ihn  binnen 
drei  Monaten  aus  der  Ungewißheit  l)efreien". 

Bald  hieß  es:  ein  Pater  des  Collegiums  habe  das  Buch  gelesen 
und  finde  es  vortrefflich;  Galilei  —  sollte  er  geäußert  haben  —  habe 
sich  allzu  bescheiden  benommen,  Sarsi  werde  zu  tun  haben,  wenn 
er  antworten  wolle.  Alles  in  allem  schien  es,  als  ob  die  Väter  sich 
gut  behandelt  fanden.  Hatte  der  Pater  flüchtig  gelesen,  oder  wußte 
er  nur  so  gut  die  wahre  Empfindung  zu  verhüllen  —  der  Verlauf 
entsprach  diesen  ersten  freundlichen  Äußerungen  nicht. 

Auch  Grassi  sprach  sich  anfangs  lobend  aus,  nur  über  Galileis 
ironische  Ausfälle  hatte  er  Klage  zu  führen;  er  werde  ihm  antworten, 
sagte  er,  aber  ohne  Gehässigkeit;  wenn  er  nach  Rom  käme,  wollte 
er  sich  mit  ihm  befreunden.  Ernster  wurden  die  Berichte,  als  mit 
der  weiteren  Verbreitung  des  Buchs  die  Jesuiten  sich  mehr  und  mehr 
in  der  öffentlichen  Meinung  spottendem  Urteil  ausgesetzt  sahen. 
T^un  fanden  sich  natürlich  die  Leute,  die  Sarsis  Einwendungen  nie 
der  Rede  wert  gefunden  hatten;  in  einem  Brief  aus  Florenz^  mußte 


1  Ed.  Naz.  XIII  p.  145. 

2  Ed.  Naz.  XIII  p.  232,  236. 


—     70     — 

Grassi  die  aufreizenden  Worte  lesen:  der  Saggiatore  müsse  wohl 
sämtlichen  Jesuiten  den  Mund  geschlossen  haben,  sie  würden  nicht 
wissen,  was  noch  zu  antworten  sei.  Aufwallend  ließ  sich  Grassi 
darüber  vernehmen:  wenn  die  Jesuiten  im  Laufe  des  Jahres  so  vielen 
Häretikern  zu  antworten  wissen,  so  werden  sie  es  auch  wohl  noch 
mit  einem  Katholiken  aufnehmen. 

Unmittelbar  darauf  erging  an  die  Jesuiten  der  strenge  Befehl, 
die  ganze  Angelegenheit  fernerhin  mit  keinem  Wort  zu  berühren. 
Daß  ein  Jesuit,  und  einer  der  gelehrtesten,  dem  Florentiner  Mathe- 
matiker gegenüber  den  kürzeren  gezogen,  war  allen  Lesern  des 
Saggiatore  offenbar  geworden;  so  blieb  von  weiteren  Diskussionen 
weder  Ehre  noch  Nutzen  zu  hoffen;  nach  außen  wenigstens  suchte 
man  den  Orden  von  der  Sache  des  Ordensbruders  zu  trennen;  als 
Grassi  seine  Antwort  zustande  gebracht  hatte,  sah  er  sich  für  die 
Veröffentlichung  auf  die  eigenen  ^Vlittel  angewiesen;  er  mußte  sich 
nach  Paris  wenden,  um  niu*  einen  Verleger  zu  finden. 

Aber  mit  den  Worten  waren  die  Empfindungen  nicht  unter- 
drückt, der  Eint' ruck  der  empfangenen  Beleidigung  bheb  unver- 
gessen. Auch  Grassi  wußte  unter  der  Maske  der  Liebe  und  Verehrung 
ungezähmten  Groll  im  Herzen  zu  wahren.  Er  suchte  mit  Galilei 
und  seinen  Freunden  freundschafthche  Beziehungen  anzuknüpfen, 
allem  Anscheine  nach,  um  im  näheren  Verkehr  seine  verwundbaren 
Seiten  um  so  sicherer  kennen  zu  lernen. 

Als  Guiducci  bald  nach  dem  Erscheinen  des  Saggiatore  nach 
Rom  kam,  bemühte  sich  Grassi  um  seine  Bekanntschaft^;  befreundete 
Jesuiten  suchten  eine  Annäherung  zu  vermitteln;  Guiducci  weigerte 
sich  zu  wiederholten  Malen,  ihn  zu  sehen-,  aber  die  Freunde  ließen 
nicht  nach;  als  Guiducci  im  folgenden  Jahre  erkrankt  darniederlag, 
überhäuften  sie  ihn  mit  Aufmerksamkeiten,  und  als  sie  nun  von 
neuem  fragten,  ob  sie  den  Pater  Grassi  zu  ihm  führen  dürften  —  da 
fürchtete  Guiducci  undankbar  zu  scheinen,  wenn  er  sich  weiter 
weigere.  Schon  am  nächsten  Tage  fand  Grassi  sich  ein;  er  trat  dem 
Kranken  so  liebenswwdig  und  herzlich  entgegen,  „als  wären  sie  alte 
Bekannte".  Von  „Wage"  und  „Goldwage"  war  nicht  mehr  die  Rede, 
dagegen  waren  der  Hauptgegenstand  des  Gesprächs  Galilei  und  seine 
Werke.    Der  Pater  erzählte,  daß  er  sich  genötigt  gesehen  habe,  eine 

1  Ed.  Naz.  XIII  p.  199. 

2  Ed.  Naz.  Xni  p.  202. 


—     71     — 

Schrift  des  Erzbischofs  von  Spalatro  über  Ebbe  und  Fhit  die  Zensur 
passieren  zu  lassen;  de  Dominis  war  einer  der  ersten,  der  die  An- 
ziehung des  Mondes  zur  Erklärung  der  Fluterscheinung  verwandte. 
Beide  Männer  lobten  die  Schrift.  ,,AVir  haben  jedoch",  warf  Grassi 
hin,  „über  denselben  Gegenstand  die  Schrift  des  Herrn  Galilei,  die 
äußerst  scharfsinnig  ist."  Guiducci  stimmte  lebhaft  zu.  So  war  man 
—  wie  durch  Zufall  —  nach  wenigen  Worten  bei  der  Bewegung  der 
Erde.  Guiducci  päumte  nicht,  zu  versichern,  daß  Galilei  sich  dieser 
Lehre  als  Hypothese  und  nicht  als  Wahrheit  bediene  — ,  Grassi  seiner- 
seits bekannte,  daß,  wenn  sich  ein  Beweis  für  diese  Bewegung  fände, 
man  die  Heilige  Schrift  anders  auslegen  müsse,  als  es  bisher  an  den 
betreffenden  Stellen  geschehen  sei;  so  sei  die  Meinung  des  Kardinal 
Bellarmin  gewesen.  Natürlich  erklärt  Guiducci  seine  vollkommene 
Zustimmung.^ 

Auch  bei  späterem  Zusammentreffen  bildete  die  copernicanische 
Lelire  regelmäßig  den  Hauptgegenstand  der  Unterredung.  Als  Gui- 
ducci bald  nach  jenem  ersten  Besuch  ins  Collegium  Romanum  kam, 
um  einen  befreundeten  Pater  predigen  zu  hören,  eilte  Grassi,  sobald 
er  seiner  ansichtig  wurde,  auf  ihn  zu  und  wich  nicht  von  seiner  Seite, 
bis  er  das  Haus  verließ.  Sofort  befragte  er  ihn  über  eine  Äußerung, 
die  ein  angesehener  Jesuit  schon  in  Padua  von  Galilei  gehört  haben 
wollte:  Galilei  sollte  nämlich  einem  bekannten  Bedenken  gegen  die 
Erdbewegung  durch  die  Behauptung  widersprochen  haben,  daß  eine 
Kugel,  die  vom  Mastkorb  niederfällt,  am  Fuße  ankommen  und  nicht 
zurückbleiben  wird,  gleichviel,  ob  das  Schiff  in  Ruhe  oder  Bewegung 
ist.  Guiducci  erwiderte,  die  Sache  verhalte  sich  so  und  sei  durch 
viele  Versuche  erwiesen.  Grassi  gab  seinem  Zweifel  unverhohlenen 
Ausdruck;  nach  aristotelischer  Erklärungsweise  meinte  er,  daß,  wenn 
der  Versuch  zutreffe,  wohl  das  Fahrzeug  die  Luft,  und  diese  die  Kugel 
bewegt  habe.  Guiducci  führte  andere  Versuche  an,  in  denen  dieser 
Einwurf  keinen  Raum  fand;  aber  der  Pater  fand  die  Sache  schwierig. 
Indessen  ging  man  zur  Predigt. 

Ln  Groll  der  Jesuiten  lag  eine  Ermunterung  auch  für  die  alten 
Gegner;  schwerlich  war  es  ein  Zufall,  daß  sich  gerade  in  der  Zeit  der 
ersten  Verbreitung  des  Saggiatore  die  Stimme  des  Pater  Caccini  von 
neuem  vernehmen  ließ.-     Sicher  —  hörte  man  ihn  äußern  —  wäre 

1  Ed.  Naz.  XIII  p.  199,  202,  205,  209,  210. 

2  Ed.  Naz.  XIII  p.  156. 


Galilei  iin  Jahre  1616  der  Inquisition  übergeben,  wenn  nicht  manche 
hohe  Herren  ihm  ihren  Schutz  gewährt  hätten.  Der  Pater  Castelli, 
der  Galilei  davon  berichtete  \  fügt  in  frommer  Entrüstung  hinzu  — 
als  ob  die  hohen  Herren  das  Heilige  Offizium  hinderten  und  schlechte 
Menschen  beschützten,  und  dann  gar  das  Heilige  Offizium  auf  hohe 
Personen  Rücksicht  nähme,  wenn  es  sich  darum  handelte,  Vergehen 
gegen  die  Religion  zu  züchtigen;  mir  scheint,  der  Pater  selbst  ver- 
diene, der  Inquisition  übergeben  zu  werden! 

Von  solchem  Eifer  gegen  die  Übereifrigen  war  man  in  Rom  auch 
in  jenen  Tagen  weit  genug  entfernt,  aber  ebensowenig  war  die  Lage 
der  Dinge  neuen  Intriguen  gegen  Galilei  günstig.  Im  April  1624  kam 
Galilei  nach  Rom-;  er  reiste  über  Acquasparta,  um  dort  mit  dem 
Fürsten  Cesi  vorzuberaten,  wie  am  besten  das  große  Unternelmien 
zum  Ziel  zu  führen  sei.  Eine  Trauerbotschaft  wartete  seiner  in  Rom. 
Unter  der  kleinen  Zahl  auserwählter  Freunde,  die  mit  schwärmerischem 
Verlangen  seiner  Ankunft  entgegensahen,  war  der  treuesten  einer, 
Virginio  Cesarini,  nur  wenige  Tage  zuvor  der  Lungenschwindsucht 
erlegen.^  Der  schmerzhchen  Enttäuschung,  die  ihm  der  Tod  des 
Freundes  bereitete,  gesellte  sich  für  Galüei  bald  eine  noch  herbere 
hinzu,  als  er  nach  kurzem  Aufenthalt  in  Rom  erkennen  mußte,  daß 
für  eine  Verwirkhchung  seiner  Hoffnungen  die  Aussicht  gering  war. 
Urban  empfing  ihn  mit  gnädigem  Wohlwollen;  die  einflußreichsten 
Kardinäle  bewiesen  ihm  ehrende  Aufmerksamkeit^,  aber  ihnen  allen 
lag  der  Gegenstand  seiner  Sorgen  fern;  hundert  Angelegenheiten, 
die  der  Augenblick  brachte,  schienen  unendhch  wichtiger  und 
nahmen  das  Interesse  so  vollständig  in  Anspruch,  daß  an  eine  ernst- 
liche Erörterung  der  wissenschaftlichen  Frage  nicht  zu  denken  war. 
Gelang  es,  die  Unterredung  in  gewünschte  Richtung  zu  lenken,  so 
war  wohl  hier  und  dort,  wie  Galilei  dem  Freunde  schrieb,  „Land  zu 
entdecken",  aber  sicher  sah  er  zimi  Ungewissen  Ziel  nur  lange,  be- 
schwerliche Wege  führen. 

Cesi  mahnte  zum  Ausharren^;  nur  von  langhingezogenen  Ver- 
handlungen dürfe  man  sich  in  Rom  Erfolg  versprechen.    „Euer  Rat", 


1  Ed.  Naz.  XIII  p.  388ff. 

-  Ed.  Naz.  XIII  p.  169,  175,  177. 

"  Ed.  Xaz.  XIII  p.  171,  174. 

*  Ed.  Xaz.  XIII  p.  177—183,  185. 

5  Ed.  Xaz.  XIII  p.  180. 


—     73     — 

erwiderte  Galilei^  wäre  höchst  vortret'llich,  ^Yenn  nur  aucii  die  ^'atur 
sich  darauf  einlassen  wollte,  die  wenigen  Tage,  die  mir  übrigbleiben, 
in  Jahre  oder  Monate  zu  verwandeln;  wohl  finde  ich  täglich  bewährt, 
wie  manches  sich  erreichen  ließe,  wenn  mir  nur  Zeit,  Gelassenheit 
und  Geduld  nach  Wunsch  zu  Gebote  ständen;  aber  die  Sorge,  daß 
die  Zeit  mir  versagt  ist,  und  das  Verlangen,  den  einen  oder  andern 
meiner  Gedankengänge  zum  Abschluß  zu  bringen,  macht  es  mir 
ratsam,  mich  sobald  als  möglich  in  meine  Ruhe  und  oziosa  libertä 
zurückzuziehen." 

Galilei  blieb  trotz  aller  Entmutigung  noch  einen  vollen  Monat 
in  Rom.  Sechs  Mal  hatte  er  längere  Unterredungen  mit  dem  Papst. 
Berichte  über  den  Inhalt  sind  uns  nicht  erhalten  und  sind  vielleicht 
niemals  niedergeschrieben;  wir  wissen  nur,  daß  Galilei  bei  dieser 
Gelegenheit  vor  dem  Papst  mit  voller  Wärme  für  die  Walirheit  der 
copernicanischen  Lehre  eingetreten  ist,  um  eine  Aufhebung  des 
Dekrets  zu  erwirken.  So  hebt  er  insbesondere  hervor,  daß  die  neue 
Lehre  in  den  Ländern  der  Ketzer  zu  immer  allgemeinerer  Anerkennung 
gelange,  und  daß  ein  Makel  auf  die  wissenschaftliche  Einsicht  der 
Katholiken  falle,  ein  Vorwurf  gegen  die  Kirche  selbst  einen  Schein 
von  Berechtigung  gewinne,  wenn  sie  eine  solche  Lehre  verdamme, 
zumal  der  Verdacht  entstehen  könnte,  als  sei  dies  Urteil  auf  die 
nichtigen  Argumente  gegen  den  Copernicus  begründet,  die  seit  der 
Zeit  des  Verbots  -  gewissermaßen  als  katholische  Wissenschaft  dar- 
geboten werden. 

Galilei  veranlaßte  den  Kardinal  Zollern.  der  als  Deutscher  über 
die  Verbreitung  der  copernicanischen  Lehre  in  seiner  Heimat  be- 
richten konnte,  in  diesem  Sinne  den  Papst  auf  die  Gefahren  der 
kirchhchen  Entscheidung  hinzuweisen.^  Der  Papst  erwiderte  dem 
Kardinal:  die  Kirche  habe  die  copernicanische  Lehre  keineswegs  als 
ketzerisch  verdammt  und  werde  sie  auch  nicht  als  ketzerisch  ver- 
dammen, sie  sei  nur  als  verwegen  erklärt,  und  übrigens,  fügte  Urban 
zuversichtlich  hinzu,  sei  nicht  zu  besorgen,  daß  man  jemals  einen 
zwingenden  Beweis  für  die  Wahrheit  dieser  Lehre  finden  werde. 

Nach  solchen  Aufschlüssen  konnte  Galilei  nicht  länger  darüber 
im  Zweifel  sein,  daß  ein  Erfolg  nach  seinem  Sinn  in  unberechenbarer 
Ferne  liege;  auch  jetzt  noch  glaubte  er,  daß  bei  längerem  Weilen 

1  Ed.  Naz.  XIII  p.  182—183. 

2  Ed.  Naz.  XIII  p.  179,  182;  XIX  p.  409. 


—     74     — 

mit  jedem  Tage  mehr  auf  Fortschritte  als  auf  Verlust  zu  zählen  sei; 
aber  die  Aussicht  auf  Verhandlungen  ohne  Ende  sehreckte  ihn  ab; 
der  Gedanke,  daß  ihm  vielleicht  nur  noch  eine  kurze  Frist  zu  leben 
vergönnt  sei,  erlaubte  kein  Zögern.  Alles  trieb  ihn  zur  Heimkehr. 
Er  war  mit  dem  Ritter  von  Este  in  langer  Unterredung  und  in  Heiter- 
keit zusammen  gewesen;  wenige  Tage  darauf  war  der  Ritter  gestorben; 
ein  Sporn,  schreibt  er,  eine  Mahnung  auch  für  mich,  wie  die  Zeit 
dahinrafft  (rapacita).  Die  Freunde  mußten  ihm  Recht  geben.  So 
kehrte  er  im  Juni  nach  mehr  als  zweimonatlichem  Aufenthalt  nach 
Florenz  zurück.  Der  Papst  entließ  ihn  huldvoll,  wie  er  ihn  auf- 
genommen hatte;  mehrfach  hatte  er  ihn  auch  während  seines  Aufent- 
halts durch  äußerliche  Gnadenbeweise  ausgezeichnet;  er  beschenkte 
ihn  mit  einem  Gemälde,  mit  einer  goldenen  und  einer  silbernen  Denk- 
münze und  mit  vielen  Gotteslämmchen;  so  verhieß  er  ihm  auch  beim 
Abschied  ein  Jahrgeld  für  seinen  Sohn  Vincenzo;  Monsignor  Ciampoli 
wurde  beauftragt.  Sr.  Heiligkeit  das  Versprechen  ins  Gedächtnis  zu 
rufen;  damit  aber  auch  am  Florentiner  Hof  erkannt  werde,  vde  nahe 
Galilei  dem  päpstlichen  Herzen  stehe,  erließ  Urban  ein  besonderes 
Breve  an  den  Großherzog  Ferdinand,  in  dem  er  seinen  Gesinnungen 
lebhaften  Ausdruck  gab.  ,, Schon  lange",  heißt  es  darin,  „umfassen 
wir  diesen  großen  Mann,  dessen  Ruhm  am  Himmel  leuchtet  und 
über  die  Erde  schreitet,  mit  väterlicher  Liebe.  Denn  wir  kennen  in 
ihm  nicht  nur  den  Glanz  der  Gelehrsamkeit,  sondern  auch  den  Eifer 
der  Frömmigkeit,  und  er  ist  reich  an  solchem  Wissen,  durch  das 
unser  päpstliches  Wohlwollen  leicht  envorben  wd.  Xun  aher,  da 
er  nach  Rom  gekommen,  uns  zur  päpstlichen  Würde  zu  beglück- 
wünschen, haben  wir  ihn  mit  großer  Liebe  aufgenommen  und  haben 
ihn  mit  Freuden  zu  wiederholten  Malen  gehört,  wie  er  den  Glanz 
der  Florentiner  Beredsamkeit  in  gelehrten  Disputationen  mehrte. 
Nun  aber  wollen  wir  nicht,  daß  er  ohne  eine  reiche  Mitgabe  päpst- 
licher Liebe  in  die  Heimat  zurückkehre.  Alles  Gute"',  schließt  das 
Sendschreiben,  ..was  Du,  edler  Fürst  ihm  erweisest,  würde  uns  zur 
Genugtuung  gereichen."^ 

Die  Frucht  der  römischen  Reise  war  für  Galilei  der  Entschluß, 
ohne  Verzug  die  längst  begonnenen  Werke  zur  Vollendung  zu  bringen; 
was  dann,  wenn  sie  vollendet  waren,  mit  ihnen  geschehen  sollte. 


1  Ed.  Naz.  XIII  p.  183  f. 


—     75     — 

wollte  er  den  Umständen  und  dem  Rat  der  Freunde  überlassen. 
Als  nächste,  wichtigste  Aufgabe  betrachtete  er  die  Erweiterung  seiner 
kurzen  Betrachtungen  über  Ebbe  und  Flut  zu  einem  umfassenderen 
Werk,  das  unter  dem  gleichen  Titel  die  Beweise  für  die  eopernicanische 
Lehre  zusammenstellen  sollte. 

Ehe  er  jedoch  diese  größere  Arbeit  in  Angriff  nahm,  hatte  er 
einen  jener  zahlreichen  Gegner  des  Copernicus  abzutun,  die  unter 
dem  Schutze  des  Dekrets  zu  unverdientem  Ansehen  gelangt  waren. 

Schon  im  Jahre  1616,  als  Galilei  in  Rom  den  Copernicus  ver- 
teidigte, hatte  ihm  Francesco  Ingoli,  ein  Advokat  in  Ravenna,  eine 
Widerlegung  seiner  Lehre  zugesandt  mit  der  Aufforderung,  ihm  zu 
antworten,  wenn  er  Irrtümer  oder  Trugschlüsse  in  seinen  Behaup- 
tungen entdeckte.^  Es  war  ein  Machwerk  von  untergeordnetster  Art; 
neben  den  gewöhnlichen  Einwendungen  gegen  die  Bewegung  der 
Erde,  die  er  dem  Aristoteles,  Ptolemäus  und  Tycho  Brahe  ent- 
nommen, hatte  Ingoli  Betrachtungen  eigener  Erfindung  eingestreut, 
die  eine  absolute  Unwissenheit  in  den  elementaren  Begriffen  der 
Astronomie  und  Geometrie  verraten.  „Der  Punkt  im  Zentrum", 
deduziert  er  unter  anderem^,  ,,muß  eine  größere  Entfernung  von  der 
Kugeloberfläche  haben,  als  jeder  Punkt  zwischen  Zentrum  und  Ober- 
fläche, und  demgemäß  muß  seine  Parallaxe  größer  sein,  als  die  eines 
Körpers  außerhalb  des  Zentrums ;  nun  hat  aber  der  Mond  eine  größere 
Parallaxe  als  die  Sonne,  also  kann  die  Sonne  nicht  im  Zentrum 
stehen."  Galilei  hätte  es  vielleicht  nicht  für  überflüssig  gehalten, 
auch  den  baren  Unsinn  dieser  neuerfundenen  Mathematik  zu  be- 
leuchten, wenn  nicht  die  Entscheidung  der  Index-Kongregation  ihm 
Schweigen  auferlegt  hätte. 

Als  er  nun,  acht  Jahre  später,  nach  Rom  zurückkehrte,  fand  er 
zu  seiner  Überraschung,  daß  man  Ingolis  Gründe  als  wissenschaftliche 
Argumente  betrachtet  und  aus  seinem  Schweigen  gefolgert  hatte, 
er  sei  außerstande  zu  antworten.  Galileis  Andeutungen  machen 
wahrscheinlich,  daß  im  Jahre  1624  einflußreiche  Kardinäle,  vielleicht 
der  Papst  selbst,  sich  auf  diese  dürftigste  aller  Widerlegungen  beriefen.^ 

1  Ed.  Naz.  V  p.  397-412. 

2  Ed.  Naz.  V  p.  404. 

3  Auch  Personen  von  solcher  Stellung,  daß  sie  auf  das  Urteil  der  Index- 
Kongregation  einen  Einfluß  üben  konnten,  haben  Euren  Beweisen  nicht 
geringe  Achtung  zuteil  werden  lassen.    Ed.  Naz.  VI  p.  510/11. 


—     76     — 

So  fand  es  Galiloi  geraten,  noch  jetzt  dem  untergeordneten 
Gegner  zu  erwidern;  die  Antwort  bot  ihm  zugleich  die  Gelegenheit, 
zu  erproben,  wie  weit  unter  den  veränderten  Verhältnissen  ein  offenes 
Auftreten  zugunsten  der  unterdrückten  Lehre  zu  wagen  sei.  Die 
Antwort  an  Ingoli  ist  die  erste  Schrift,  die  er  ausschließlich  der  vässen- 
schaftlichen  Verteidigung  des  Copernicus  gewidmet  hat.^ 

Wie  sehr  Galilei  sich  bewußt  war,  daß  es  sich  dabei  um  einen 
ernsten  Schritt  handelte,  geht  aus  der  ganzen  Stimmung  dieser 
Schrift  hervor;  in  ruhiger  Milde  lehrend  und  aufklärend  verbreitet 
er  sich  über  die  wichtigsten  Scheingründe;  wie  oft  der  Stoff  auch 
die  Veranlassung  dazu  bietet,  so  hört  man  doch  kaum  einen  Anklang 
an  die  Bitterkeiten  des  Saggiatore,  zu  denen  ihn  dort  der  Überdruß 
am  ungleichen  Kampfe  fortriß.  Allerdings  läßt  Galilei  keinen  Zweifel 
darüber  aufkommen,  wie  er  über  seinen  Gegner  denkt.  Er  habe 
geschwiegen,  sagt  er  einleitend,  weil  er  geglaubt  habe,  so  am  besten 
Ingolis  höfliches  Benehmen  erwidern  zu  können;  denn  nur  so  sei  es 
möglich  gewesen,  ihm  die  Freude  nicht  zu  verderben,  die  er  ohne 
Zweifel  an  der  Widerlegung  eines  großen  Mannes  gefunden  habe; 
nur  so,  seinen  Ruf  so  wenig  als  möglich  zu  schädigen.  Auch  habe  er 
nicht  glauben  können,  daß  irgend  jemand  ihm  weniger  Einsicht 
zutrauen  würde,  als  erforderlich  wäre,  um  jene  Gründe  samt  und 
sonders  zu  widerlegen.  Nun,  da  er  es  als  richtig  erkannt  habe,  nicht 
länger  zu  schweigen,  erbittet  er  Ingolis  Verzeihung,  wenn  ihm  die 
Antwort  mißfalle  —  er  selbst  sei  Schuld  daran;  denn  wenn  er  die 
Hand  aufs  Herz  gelegt  und  bedacht  hätte,  daß  Copernicus  auf  diese 
überaus  schwierigen  Betrachtungen  so  viele  Jahre  verwandt,  als  er 
dazu  Tage  gebraucht  habe  —  so  hätte  er  sich  eines  Besseren  besinnen 
und  sich  nicht  leichtmütig  einreden  dürfen,  daß  er  einen  solchen 
Mann  zugrunderichten  könne,  und  namentlich  mit  solcher  Art  von 
Waffen,  und  wenn  darunter  etwas  von  seiner  eigenen  Erfindung, 
so  sei  das  von  noch  geringerem  Gewicht  als  das  übrige.  „So  habt  Ihr 
glauben  können",  ruft  Galilei  aus,  „daß  Nicolaus  Copernicus  nicht 
in  die  Geheimnisse  des  alleroberflächlichsten  Sacrobosco  eingedrungen 
sei?  Daß  er  nichts  von  Parallaxe  verstanden?  Daß  er  den  Ptole- 
mäus  und  Aristoteles  nicht  gelesen  oder  nicht  verstanden  ?  Ich  wundre 
mich  nicht,  daß  Ihr  Euch  zugetraut  habt,  ihn  widerlegen  zu  können, 
da  Ihr  ihn  so  wenig  geachtet  habt." 

1  Ed.  Naz.  VI  p.  501—561. 


—     77     — 

Nicht  minder  entschieden  redet  Galilei,  wo  er  im  einzelnen  prüft, 
a.ber  in  aller  Klarheit  und  Schärfe  des  Widerspruchs  behandelt  er 
doch  den  Gegner  wie  einen  guten  Freund,  den  er  üljer  seine  Ver- 
iiTungen  aufzuklären  hat.  Mit  liebenswürdiger  Heiterkeit  läßt  er 
sich  darauf  ein,  Ingoh  die  Grundbegriffe  der  Parallaxenlehre  zu  ver- 
deutlichen und  den  WirrwaiT  seiner  Berechnungen  über  die  Parallaxe 
von  Sonne  und  Mond  zu  lichten. 

Geduldig  geht  er  auf  den  astrologischen  Einwurf  ein,  daß  die 
Fixsterne  in  der  Entfernung,  die  ihnen  Copernicus  zuweist,  nicht  auf 
die  Erde  wirken  könnten  und  scherzt  über  den  Beweis,  den  Ingoh 
der  verschiedenen  Wirkung  der  Sonne  im  Winter  und  im  Sommer 
entnimmt,  der  doch  weit  besser  für  die  entgegengesetzte  Meinung  zu 
benutzen  sei,  daß  das  Fernere  stärker  wirke. 

Von  einer  Erörterung  der  eigentlich  copernicanischen  Lehre  ist 
dabei  nicht  die  Rede.  Ingoli  berührt  sie  nicht;  er  hat  sie  schwerlich 
verstanden.  So  hat  auch  Galilei  in  seiner  Erwiderung  weniger  die 
Beweise  des  Copernicus  zu  vertreten  und  zu  vervollständigen,  als 
vielmehr  die  üblichen  Betrachtungen  abzuwehren,  die  eine  Bewegung 
der  Erde  als  unmöglich  erscheinen  lassen.  Die  Fragen,  die  darauf 
Bezug  haben,  sind  für  die  Wissenschaft  von  geringerer  Bedeutung; 
Copernicus  hatte  sie  fast  beiläufig  in  kurzen  Worten  erledigt;  wenn 
seine  Lehre  Wahrheit  verkündet,  müßten  sie  früher  oder  später  völlige 
Aufklärung  finden;  aber  je  mehr  seine  Lehre  über  die  Grenzen  der 
Fachwissenschaft  hinaus  die  Denkenden  in  Anspruch  nahm,  um  so 
gewichtiger  erschien  sie,  um  so  dringender  war  auch  für  die  Astronomen, 
die  eine  Anerkennung  der  wissenschaftlichen  Wahi'heit  verlangten, 
die  Aufforderung,  gerade  diese  Fragen,  die  in  einer  Art  Volksphysik 
ihren  Ursprung  hatten,  in  klarer  Weise  zu  beantworten;  es  war  un- 
erläßlich zu  erweisen,  daß  ein  HauptÜTtum  all  jenen  Erwartungen 
zugrunde  lag,  die  darauf  gerichtet  waren,  in  den  Erscheinungen  des 
täglichen  Lebens  die  Spuren  der  allgemeinen  Bewegung  ^^■iede^- 
zufinden.  Andrerseits  hatte  die  Schule  auf  die  alte  Anschauung 
der  ruhenden  Erde  ein  ganzes  System  von  Vorstellungen  über  das 
eigentlich  Naturgemäße  in  den  Bewegimgen  und  der  räumlichen  Ver- 
teilung des  Materiellen  gebaut,  die  nun  mit  dem  Anspruch,  Wahr- 
heit zu  sein,  der  neuen  Lehre  gegenübertraten.  Galilei  hatte,  so 
lange  er  Copernicaner  war,  diesen  beiden  Arten  von  Einwürfen  vor- 
zugsweise seine  Aufmerksamkeit  zugewandt.      Schon  in   Pisa   und 


—     78     — 

Padua  hatten  zalili-eiche  Schüler  aus  seinem  Munde  die  Griuidlehi-en 
einer  neuen  Mechanik  vernommen,  die  beiderlei  Gründe  beseitigt, 
von  Schülern  ^^irden  die  einzelnen  Argumente  früh  schon  weithin 
verbreitet;  es  waren  dieselben  Beweise,  die  Galilei  später,  namentlich 
in  den  Jahren  1615  und  1616  in  Rom  den  Peripatetikern  gegenüber 
vertrat.  Der  Brief  an  Ingoli  ist  die  erste  Schrift,  in  der  diese  Lehren, 
wenn  auch  nur  in  vorläufiger  Übersicht,  zusammengestellt  werden. 
Galilei  zeigte  mit  Beispielen,  daß  in  allen  Erörterungen  der  Gegner 
zwei  Quellen  des  IiTtums  eine  Rolle  spielen:  sie  nehmen  bei  ihi*en 
Beweisen  als  bekannt  an,  was  in  Frage  steht;  fast  alle  diese  Argumente 
aus  Bewegungserscheinungen,  wie  sie  eintreffen  und  nicht  eintreffen, 
nehmen  stillschweigend  an,  daß  die  Erde  ruht,  und  sind  hinfällig 
ohne  diese  Voraussetzung;  und  dann:  wo  es  sich  um  leicht  anzu- 
stellende Versuche  handelt,  deren  Ausführung  die  Wahrheit  an  den 
Tag  bringen  würde,  halten  sie  es  für  überflüssig,  sie  wklich  anzu- 
stellen, geben  sie  für  ausgeführt  aus  und  bringen  sie  vor  als  ent- 
scheidend zugunsten  ihrer  Behauptung;  dahin  gehört  insbesondere 
die  Behauptung,  daß  die  Bewegungen  fallender  Körper  auf  einem 
Schiff  andere  sein  werden,  wenn  das  Schiff  ruht  oder  wenn  es  sich 
bewegt,  und  der  darauf  begründete  Schluß,  daß  die  Bewohner  der 
Erde  an  ihrer  Umgebung  erkennen  müßten,  ob  sie  sich  bewege. 

Galilei  führt  aus,  ^ie  vielmehr  der  wirkliche  Versuch  auf  einem 
Schiff  in  überzeugendster  Weise  klar  machen  müßte,  daß  eine  Be- 
wegung der  Erde  in  der  erwarteten  Weise  unmöglich  wahrzunehmen 
sei.  Die  verschiedensten  Bewegungen  geworfener,  schwimmender, 
fließender,  fallender,  fliegender  Körper  würden  durch  die  Bewegung 
des  Schiffs  so  wenig  verändert  erscheinen,  daß  es  in  einem  ab- 
geschlossenen Raum,  wo  man  die  Versuche  anstellte,  unmöglich  sein 
würde  zu  entscheiden,  ob  das  Schiff  ruht  oder  sich  bewegt. ^ 

Die  Erklärung  weist  nur  in  kurzer  Andeutung  darauf  hin,  daß 
eine  Bewegung  als  eine  erscheinen  und  doch  vielfach  zusanmien- 
gesetzt  sein  könne,  und  daß  der  Beobachter  immer  nur  den  Teil 
wahrnehmen  könne,  den  nicht  er  selbst  mit  dem  Gegenstand  seiner 
Beobachtung  gemein  habe. 

Gleichfalls  nur  im  Vorübergehen  wirft  Galüei  seine  schwer- 
wiegenden Zweifel  gegen  die  willküiiichen  Sätze  der  aristotelischen 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  547. 


—     79     — 

Mechanik  in  die  Wage,  die  der  Erde  die  Schwere,  den  Himmels- 
körpern ätherische  Leichtigkeit,  jener  die  geradlinige  Bewegung, 
diesen  den  Kreislauf  als  Eigentümlichkeiten  ihrer  Natur  zuweist  und 
mit  diesen  Attributen  die  Möglichkeit  der  copernicanischen  Lehre 
zu  beseitigen  vermeint.  Unmöglich,  behauptet  Galilei  diesen  uralten 
Sätzen  gegenüber,  kann  in  einem  geordneten  Weltsystem  irgend- 
einem Körper  von  Natur  eine  geradlinige  Bewegung  zukommen, 
da  sie  eine  immerwährende  Änderung  des  Orts  ohne  Wiederkehr 
bedingt;  vielmehr  muß,  wenn  überhaupt  eine  Bewegung  als  die 
natürliche  zu  betrachten  ist,  dies  keine  andere  als  die  kreisförmige 
sein.  Wenn  Ingoli  mit  seinen  Lehrern  meint,  daß  der  schwerere 
Körper  weniger  zur  Bewegung  geeignet  sei,  so  wird  dagegen  Galileis 
Bewegungslehre  dartun,  daß,  je  schwerer  der  Körper,  um  so  größer 
seine  Fähigkeit,  die  übertragene  Bewegung  aufzunehmen  und  zu 
bewahren;  und  wie  hier  nur  mißdeutete  Wahrnehmungen  dem  alten 
Irrtum  zugrunde  liegen,  so  ist  es  auch  mit  der  ganzen  Lehre  vom 
Schweren  und  Leichten,  Schwere  ist  nach  Gahleis  Meinung  die  ein- 
geborene Neigung  (Streben),  durch  die  ein  Körper  der  Bewegung  vom 
seinem  natürlichen  Ort  einen  Widerstand  entgegensetzt  und  durch 
die  er,  wenn  er  gewaltsam  von  ihm  entfernt  wird,  freiwillig  zurück- 
kehrt, und  so  kehrt  ein  Tropfen  Wasser,  den  man  in  die  Höhe  hebt 
und  dann  in  Freiheit  läßt,  ins  Meer  zurück.  Aber  wer  wird  sagen, 
daß  das  Wasser  selbst  im  Meere  schwer  ist,  da  es,  wiewohl  in  Freiheit, 
sich  nicht  mehr  bewegt? 

Und  so  ist  auch  der  Erdball  weder  schwer  noch  leicht,  so  wenig 
wie  alle  übrigen  W^ltkörper.  Treffen  diese  Erörterungen  vorzugsweise 
Sätze  des  Aristoteles  und  seiner  Anhänger,  so  werden,  wo  es  sich 
um  die  Beweise  gegen  die  jährliche  Bewegung  der  Erde  handelt, 
insbesondere  die  Ansichten  Tycho  Brahes,  aus  denen  Ingoli  schöpft, 
einer  scharfen  Kritik  unterworfen.  Auch  in  diesem  Teil  der  Schrift 
findet  Galilei  nach  mancher  Eichtung  eine  erste  Gelegenheit,  sein 
Urteil  auszusprechen,  neue  Auffassungen  kund  zu  geben.  Bewegt 
sich  die  Erde  im  Jahr  um  die  Sonne  und  läßt  sich  an  dem 
Abstand  der  Fixsterne  —  wie  dies  die  Beobachtungen  feststellen  — 
trotzdem  in  Jahresfrist  weder  Vergrößerung  noch  Verringerung 
wahrnehmen,  so  muß  die  Entfernung  der  Fixsterne  eine  beinahe 
unermeßliche  und  demgemäß,  da  sie  in  diesem  Abstand  noch  so 
starkes    Licht    entsenden,    ihre    Größe    eine    außerordenthche   sein. 


—     80     — 

Tycho  Brahe^  berechnet  den  Abstand  zum  14000  fachen  des  Halb- 
messers der  großen  Erdbahn  und  schließt  demnach  nach  seinen 
Annahmen  über  die  scheinbare  Größe  der  Fixsterne  (der  Durchmesser 
der  größeren  scheint  ihm  =  2—3  Minuten),  daß  viele  derselben  an 
Größe  dem  Inhalt  des  großen  Kreises  der  Erdbahn  gleichkommen 
würden,  IngoK  sieht  mit  ihm  in  diesen  ungeheuren  Größen  und 
Abständen  einen  ausreichenden  Beweis  für  die  Unmöghchkeit  einer 
jährlichen  Bewegung  nach  Copernicus'  Annahme. 

Galilei  läßt  auch  bei  dieser  Gelegenheit  nicht  unerwähnt,  daß 
seine  Meinung  von  Tycho  Brahes  Wissenschaft  nicht  mit  dem  Urteil 
der  Welt  zusammenstimmt;  man  hört  aus  seinen  Worten  deutlich 
genug,  daß  er  nicht  gewillt  ist,  mit  den  Übrigen  die  Zahl  und  die 
Schärfe  seiner  Beobachtungen  als  ein  bhnder  Bewunderer  anzu- 
staunen. Die  Rechnung  über  die  mutmaßliche  Entfernung  der  Fix- 
sterne, die  er  der  Schätzung  Tychos  gegenüberstellt,  beruht  auf 
teleskopischen  Vergleichungen,  dennoch  ist  ihr  Ergebnis  weiter  hinter 
der  WirkHchkeit  zurückgeblieben,  als  das  des  Gegners.  Galilei  geht 
von  der  iVnnahme  aus,  daß  viele  Fixsterne  —  etwa  die  der  dritten 
Größe  —  die  Größe  der  Sonne  haben;  er  findet  es  in  hohem  Grade 
berechtigt,  die  Sterne  als  Sonnen  zu  betrachten,  „nichts  fehlt  ihnen, 
um  so  genannt  zu  werden",  und  ebensowenig  findet  sich  bei  der 
Sonne  eine  Eigentümhchkeit,  um  derentwillen  wir  sie  von  der  Schar 
der  übrigen  Fixsterne  scheiden  könnten.  jN'un  aber  ist  der  scheinbare 
Durchmesser  der  Sonne  nach  seinen  Beobachtungen  etwa  fünfzigmal 
größer  als  der  des  Jupiter,  den  Durchmesser  des  Jupiter  aber  iiimmt 
er  wohl  zehnmal  größer  an,  als  den  eines  mittleren  Fixsternes;  man 
hätte  also  die  Entfernung  eines  solchen  zu  500  Sonnenfernen  anzu- 
nehmen. Die  Täuschung,  die  diesen  Schätzungen  zugrunde  liegt, 
hat  auf  Galileis  eigenthche  Weltanschauung  keinen  Einfluß.  Er 
glaubt  sich  wohl  berechtigt,  Tychos  Zahlen  anzuzweifeln,  aber  es 
würde  ihm  keine  Verlegenheit  bereiten,  wenn  selbst  diese  willkür- 
lichen Berechnungen  der  Wüklichkeit  entsprächen  und  wir  genötigt 
wären,  so  unfaßbare  Abstände  anzunehmen;  er  bezweifelt,  daß  die 
Beobachtungen  über  die  völlig  unveränderte  Breite  der  Fixsterne, 
über  die  unveränderte  Polhöhe  wirklich  so  feststehen,  wie  man  vor- 


^  Diese  Angaben  sind  allem  Anscheine  nach  dem  Briefwechsel  Tycho 
Brahes  mit  dem  hessischen  Astronomen  Rothmann  entnommen. 


—     81     — 

gibt;  aber  wenn  dies  der  Fall  wäre  und  wenn  aus  alledem  hervor- 
ginge, daß  wirklich  „der  große  Ki'eis"  von  unmerklicher  Größe  im 
Vergleich  zur  Fixsternsphäre  wäre  —  „v/as",  ruft  er,  „wäre  daran 
unmöglich  und  unzuträglich?"  „Die  ganze  Schwierigkeit",  fügt  er 
hinzu,  „scheint  mir  in  der  Einbildungskraft  der  Menschen  und  nicht 
in  der  Natur  zu  liegen.  Bald  darauf  vervollständigt  er  diesen  Gedanken- 
gang, ,,Wenn  ich  die  Welt  betrachte,  soweit  sie  unsere  Sinne  um- 
fassen, so  kann  ich  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen,  ob  sie  groß  oder 
klein  sei;  mein  Verstand  will  sich  weder  bequemen,  daß  sie  endlich, 
noch  daß  sie  unendlich  sei." 

Galilei  weiß,  daß  seine  Betrachtungen  das  Gebiet  der  Theologie 
berühren;  so  untermrft  er  sich  der  Entscheidung,  die  in  dieser  Be- 
ziehung die  höheren  Wissenschaften  treffen  werden.  Menschlicher 
Wissenschaft,  meint  er,  wird  die  Frage  für  immer  unentschieden 
bleiben. 

Diese  Ausführungen  über  die  Unermeßlichkeit  der  Welt,  über 
die  Verteilung  der  Weltkörper  im  Räume,  insbesondere  über  das 
Verhältnis  der  Sonne  zu  den  Fixsternen  würden  für  sich  schon 
genügen,  jeden  Zweifel  über  die  eigentliche  Absicht  des  Briefs  an 
Ingoli  auszuschließen;  Gaülei  will  nicht  allein  die  Einwände  der 
Gegner  als  nichtig  erweisen;  er  tritt  von  neuem  für  die  Wahrheit 
der  copernicanischen  Lehre  in  die  Schranken.  Nachdrücklicher  noch 
spricht  sich  seine  Überzeugung  aus,  wo  er  der  sogenannten  di'itten 
Bewegung  des  Copernicus  gedenkt.  Daß  eine  eigene  Bewegung  der 
Erdachse  so  voDständig  der  jährlichen  Bewegung  des  Zentrums  sich 
anpassen  könne,  daß  sie  in  unveränderter  Stellung  zu  verharren 
scheint  —  daß  überhaupt  Zentrum  und  Achse  entgegengesetzte 
Bewegung  haben  können  — ,  schien  Tycho  und  seinem  Anhänger 
undenkbar;  Galileis  Versuch  beweist  ihm,  daß  diese  Erhaltung  der 
Achsenstellung  nicht  allein  möglicher-,  sondern  notwendigerweise  mit 
dem  jährlichen  Umlauf  verbunden  ist.  Zusammenfassend  äußert  er 
sich  über  die  Erscheinungen,  die  nach  der  Meinung  der  Gegner  aus 
der  Erdbewegung  folgen  müßten  und  über  die,  die  in  Wirklichkeit 
sich  ergeben,  folgendermaßen: 

„Diese  und  andere  Argumente  sind  von  Copernicus  sehr  wohl 
gekannt  und  geprüft,  und  noch  viel  eingehender  von  mir,  und  ich 
erkenne,  daß  in  ihnen  allen  entweder  nichts  enthalten  ist,  was  für 
die  eine  oder  andere  Seite  Beweiskraft  hat,  oder  wenn  doch  der  einen 

Wohlwill,  Galilei.    II.  6 


—     82     — 

von  ihnen  Gewicht  beizulegen  ist,  dies  zugunsten  der  copernicanisehen 
Meinung  gelten  muß;  aber  ich  behaupte  weiter,  daß  ich  andere  Er- 
fahrungstatsachen kenne,  die  bis  jetzt  von  niemand  beobachtet  sind, 
aus  denen  —  sofern  wir  in  den  Grenzen  natürlicher  und  menschlicher 
Betrachtungen  bleiben  —  mit  Notwendigkeit  die  Kichtigkeit  des 
copernicanisehen  Systems  hervorgeht." 

Dies  alles  weiter  auszuführen,  behält  er  einer  späteren  Gelegen- 
heit vor.i 

Eine  Schrift  von  so  unzweideutiger  Gesinnung  war  auch  unter 
Urbans  Kegiment  noch  nicht  zur  Veröffentlichung  geeignet;  sie  hätte 
in  Italien  nie  die  Erlaubnis  der  Zensur  gefunden.  Dafür  genügte 
jetzt  nicht  mehr,  daß  Galilei  ausdrücklich  die  theologischen  Argu- 
mente des  Gegners  von  seiner  Erwiderung  ausschloß.  Es  galt,  eine 
Form  zu  erfinden,  in  der  er  die  Wahrheit  lehren  konnte,  ohne  dadurch 
Anstoß  zu  erregen,  daß  er  sie  Wahrheit  nannte.  Er  gab  dem  Brief 
eine  Einleitung,  in  der  er  als  selbstverständlich  vorausschickt,  daß 
ihm  die  Absicht  fern  liege,  eine  Behauptung  als  wahr  zu  vertreten, 
die  nach  der  Erklärung  der  Kirche  verdächtig  sei  und  einer  Lehre 
widerspreche,  die  durch  Majestät  und  Autorität  über  den  natürlichen 
und  astronomischen  Wissenschaften  steht;  er  woUe  nur  —  sofern  er 
mit  Astronomen  und  Philosophen  zu  tun  habe  —  zeigen,  daß  er  nicht 
so  blind  und  ohne  Verstand  sei,  die  copernicanische  Lehre  für 
möglicher-  oder  notwendigerweise  wahr  nur  darum  zu  halten,  weil 
er  Ingolis  Beweise  nicht  gesehen  oder  begriffen  habe.  Es  komme 
dazu,  daß,  wie  er  erfahren,  Exemplare  jener  Schrift  auch  zu  ver- 
schiedenen auswärtigen  Nationen  und  vielleicht  auch  in  die  Hände 
von  Ketzern  gekommen  seien.  So  scheine  es  ihm  seinem  Ruf  und 
vielleicht  auch  dem  anderer  gemäß  zu  sein,  wenn  er  ihnen  die  Ver- 
anlassung nehme,  sich  fälschlich  vorzustellen,  es  sei  unter  den  Katho- 
hken  niemand  gewesen,  der  begriffen  hätte,  wieviel  diese  Schriften 
zu  wünschen  übriglassen,  oder  daß  man  im  Glauben  an  ihren  Wert 
die  Widerlegung  der  Meinung  des  Copernicus  aufgegeben  hätte,  ohne 
Sorge  darum,  daß  doch  möghcherweise  einmal  einer  von  denen,  die 
von  uns  getrennt  sind,  einen  sicheren  und  überzeugenden  Beweis 

^  Auch  sonst  verweist  er  vielfach  auf  eine  vollständige  Antwort  und 
eingehendere  Begründung  an  anderer  Stelle,  sein  Brief  wül  nur  ein  Vorläufer 
des  größeren  Werks  sein,  das  er  zum  Schlüsse  unter  dem  Titel  einer  Unter- 
suchung über  Ebbe  und  Flut  des  Meeres  ankündigt. 


—     83     — 

oder  eine  offenkundige  Erfahrung  für  ihre  Wahrheit  beibringen  könnte. 
Ja,  er  gibt  sich  der  Hoffnung  hin,  die  Häretiker,  unter  denen,  wie 
er  hört,  alle  Angesehenen  der  Meinung  des  Copernicus  sind,  zu  be- 
schämen, wenn  er  in  einer  ausführlicheren  Darlegung  ihnen  zeigt, 
daß  die  Katholiken  nicht  aus  Mangel  an  natürlicher  Einsicht  und  weil 
sie  etwa  nicht  so  viel  Gründe  und  Erfahrungen,  Beobachtungen  und 
Beweise  gesehen  haben,  als  sie  selbst,  in  der  alten  Gewißheit  be- 
harren, die  von  heiligen  Schriftstellern  gelehrt  ist,  sondern  aus  Ehi'- 
furcht  vor  den  Schriften  der  Väter  und  aus  Eifer  für  die  Religion 
und  den  Glauben,  „Würden  sie  dann  sehen",  fährt  er  fort,  „daß 
alle  ihre  astronomischen  und  natürlichen  Gründe  aufs  beste  von  uns 
verstanden  sind,  ja,  daß  wir  außerdem  noch  andere,  von  wesentlich 
größerer  Kraft  als  die  bisher  vorgebrachten  kennen  —  so  könnten 
sie  uns  nicht  als  blind  oder  unwissend  in  den  menschlichen  Wissen- 
schaften, sondern  höchstens  als  Menschen  tadeln,  die  in  ihrer  Meinung 
beharren,  ein  Urteil,  das  am  Ende  für  einen  wahren  katholischen 
Christen  nicht  in  Betracht  kommen  kann." 

Ja,  schließlich  verheißt  Galilei,  es  werde  seine  Widerlegung, 
je  gründlicher  sie  sei,  um  so  sicherer  die  wohltätige  Einsicht  ver- 
breiten, wie  wenig  menschlichem  Denken  und  menschlicher  Weisheit 
zu  vertrauen  ist,  und  wie  sehr  wir  den  höheren  Wissenschaften  ver- 
pflichtet sind,  die  allein  die  Blindheit  unseres  Geistes  zu  erhellen  und 
uns  Erkenntnisse  zu  erschließen  vermögen,  zu  denen  w  durch  unsere 
Erfahrungen  und  Beweise  nie  gelangen  würden.  ^ 

Galilei  trägt  hier,  wie  bei  allen  ähnlichen  Gelegenheiten,  kein 
Bedenken,  seiner  Unterwerfung  den  demütigsten  Ausdi'uck  zu  geben, 
war  doch  sein  Zweck,  vor  allem  die  Männer  der  Kirche  zu  ge\\innen; 
nur  von  ihnen  erwartete  er  Abhilfe,  Sie  waren  es,  die  er  nochmals 
auf  die  Ausbreitung  der  copernicanischen  Lehre  unter  den  Ketzern 
hinweisen  wollte,  aber  ihnen  auch  wollte  er  die  Anerkennung  seiner 
guten  Beweise  dadurch  erleichtern,  daß  er  die  Entscheidung  über 
ihren  Wert,  ja  über  den  Wert  jeder  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
in  ihre  Hände  gab.  Bei  alledem  steht  diese  einleitende  Erläuterung 
und  Verwahrung  dem  übrigen  Inhalt  der  Schrift  fremdartig  und  ohne 
jede  innere  Beziehung  gegenüber;  die  Einschaltung  ist  eine  rein 
mechanische,  man  braucht  nur  diese  eine  Seite  zu  beseitigen,  um 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  511f. 


—     84     — 

im  übrigen  ein  rein  copernicanisches  Bnch  vor  Augen  zu  haben. 
Dieselbe  Schrift,  die  in  den  einleitenden  Worten  jede  Fähigkeit  des 
menschliehen  Verstandes,  zur  Wahrheit  zu  gelangen,  in  Frage  stellt, 
spricht  auf  einer  anderen  Seite  in  stolzester  Zuversicht  von  der 
Nichtigkeit  menschlicher  Autorität  der  Katur  und  der  wahren  Wissen- 
schaft gegenüber. 

In  üblicher  Weise  hatte  Ingoli  die  Autorität  des  Aristoteles  und 
aller  Peripatetil{;er  angeführt,  um  zu  beweisen,  daß  die  Erde  schwerer 
als  die  Sonne  sei  und  daß  die  Himmelskörper  keine  Schwere  haben. 

„In  natürlichen  Dingen",  entgegnet  ihm  Galüei,  „gut  die  Autorität 
der  Menschen  nichts;  Ihr  zwar,  als  Rechtsgelehrter,  scheint  großes 
Gewicht  darauf  zu  legen,  aber  die  Natur,  mein  Herr,  spottet  der 
Anordnungen  und  Delo-ete  der  Fürsten,  Kaiser  und  Monarchen 
imd  würde  auf  ihr  Geheiß  nicht  ein  Jota  von  ihren  Gesetzen  und 
Anordnungen  —  ändern.  Aristoteles  war  ein  Mensch,  sah  mit  den 
Augen,  hörte  mit  den  Ohren,  dachte  mit  dem  Gehirn.  Ich  bin  ein 
Mensch,  sehe  mit  den  Augen,  und  weit  mehr  als  er;  was  das  Denken 
betrifft,  so  glaube  ich,  daß  er  über  mehr  Dinge  gedacht  hat,  als  ich; 
aber  ob  mehr  oder  besser  als  ich  über  die  Dinge,  die  uns  beiden  Gegen- 
stand des  Denkens  gewesen  sind  —  das  werden  unsere  Gründe  und 
nicht  unsere  Autoritäten  zeigen."  ^ 


1  Ed.  Naz.  VI  p.  538. 


Viertes  Kapitel. 
Die  Dialoge. 


A.  Allgemeine  Charakteristik  der  Dialoge,  ^ 

Ursprünglich  hatte  Galilei  dem  berühmten  Werk,  das  wir  heute 
unter  dem  Titel  „Dialoge  über  die  beiden  größten  Weltsysteme"^ 
kennen,  den  Namen:  „Dialoge  über  Ebbe  und  Flut"  geben  wollen; 
damit  sollten  alle  übrigen  Beweise  für  die  Bewegung  der  Erde  diesem 
einen,  den  er  für  den  entscheidenden  hielt,  gewissermaßen  unter- 
geordnet werden.  An  dieser  Rangordnung  wurde  durch  den  neuen 
Titel  nichts  wesentliches  geändert.  Geblieben  ist  aber  vor  allem 
auch  die  für  das  Werk  so  charakteristische  Dialogform.  Diese  eignete 
sich  vorzüglich  dazu,  in  aller  Ausführlichkeit  Gründe  und  Gegen- 
gründe zur  Sprache  zu  bringen;  sie  gab  aber  zugleich  Galilei  Ge- 
legenheit, seine  Meisterschaft  der  Darstellung  zu  bewähren. 

Die  drei  Personen  seiner  Dialoge  vertreten  nicht  nur  die  ver- 
schiedenen Ansichten;  es  sind  vollständig,  z.  T.  in  dramatischer 
Lebendigkeit  durchgeführte  Charaktere.  In  den  beiden  Vertretern 
der  neuen  Wissenschaft,  Salviati  und  Sagredo,  hat  Galilei  zwei  ver- 
storbenen Freunden  ein  Denlanal  gesetzt^;  unter  ihnen  ist  Salviati 
der  eigentliche  Wortführer  für  die  copernicanische  Lehre.  Galilei 
hat  in  ihm  mit  Vorliebe  den  ruhigen  Weisen  gezeichnet.  Die  rück- 
sichtsvolle Milde  gegen  den  Gegner,  das  ernste  Eingehen  auf  dessen 
Gründe,  die  zwingende  Gewalt  seiner  Logik,  durch  die  er  ihn  nötigt, 
sich  selbst  zu  widerlegen  —  das  alles  war  Galileis  eigenste  Weise 
der  Belehrung,  wie  sie  nicht  nur  seine  römischen  Zuhörer  im  Jahre  1616 


^  Dieser    kurze    Abschnitt    ist    Vorträgen    des    Verfassers    entnommen 
(vergl.  Vorrede).  Der  Herausgeber. 

2  Ed.  Naz.  VII  p.  1—519. 

3  s.  Bd.  I  S.  170f. 


—     86     — 

sclüldern,  sondern  alle  seine  Schriften  und  Briefe  anschaulich  machen, 
^'eben  Salviati  erscheint  Sagredo  als  eine  überaus  liebenswürdige 
rsatur,  genial,  heiter  bis  zur  Ausgelassenheit,  reich  an  kleinen  Ge- 
schichten, deren  Spitzen  meistens  gegen  den  Anhänger  des  Aristoteles 
gerichtet  sind,  ^^^e  an  Vergleichen,  die  immer  den  Nagel  auf  den 
Kopf  treffen.  Allem  Anschein  nach  hat  Galilei  in  diesem  Sagredo 
nicht  nur  eine  äußerst  anziehende,  lebenswahre  Gestalt  gezeichnet, 
sondern  auch  ein  vortreffhches  Porträt,  denn  die  Briefe  des  Vene- 
tianers  Sagredo,  die  uns  in  nicht  geringer  Zahl  erhalten  sind,  spiegeln 
ganz  und  gar  die  herzgewinnende,  geniale  Persönlichkeit  wieder,  flie 
uns  in  den  Dialogen  unter  demselben  Namen  begegnet.  Wir  begreifen, 
daß  Galilei  diesen  Freund  noch  lange  nach  seinem  Tode  sein  Idol 
genannt  hat.  Sagredo  steht  als  lernbegieriger  Hörer  den  Streitenden 
gegenüber,  freilich  nicht  als  unparteiischer  Hörer,  wie  er  sich  selbst 
zu  geben  versucht,  denn  mit  Herz  und  Kopf  gehört  er  längst  der 
neuen,  aufstrebenden  Wissenschaft  an,  die  sich  von  Aristoteles  be- 
freit hat.  Seine  ganze  Neigung  scheint  uns  schon  von  vornherein 
dem  Copernicus  zugewandt. 

Als  dritte  Person  der  Dialoge  tritt  unter  dem  Namen  des  Sim- 
plicio  der  Gelehrte  aus  der  Schule  des  Aristoteles  auf.  In  dieser 
Gestalt  hat  Galüei  die  Schulwissenschaft,  gegen  die  sein  Kampf  ge- 
richtet war,  verewigt  mit  all  ihrer  Wortweisheit  und  alles  beweisenden 
Logik,  ihrer  Geistesabhängigkeit,  ihrem  Schwören  auf  des  Meisters 
Wort  und  ihrem  Widerstreben  gegen  das  neue  Licht,  gegen  die  neuen 
Wege,  Kurz,  ganz  so,  wie  sie  uns  aus  den  Büchern  jenes  Zeitalters 
entgegentritt,  ist  sie  in  diesem  meisterhaften  Bilde  wiedergegeben. 

So  wie  die  Dinge  lagen,  w^ar  es  ein  ziemlich  kühnes  Unterfangen, 
die  Wahrheit  in  solcher  Form  zu  sagen.  Auch  ohne  den  eigentümlichen 
Beigeschmack  in  den  Sonderbarkeiten  des  Schulgelehrten  war  es 
nicht  leicht,  den  Einch-uck  der  Lächerlichkeit  fernzuhalten,  wo  der 
Zweck  des  Buches  erforderte,  daß  Simplicio  genau  so  viele  Nieder- 
lagen erlitt,  als  er  Disputationen  anfing,  ]\Iit  feinem  künstlerischen 
Sinn,  wohl  auch  mit  einiger  Rücksicht  auf  so  manchen,  der  ihm  zum 
Bilde  des  Simplicio  gesessen  hatte,  hat  Galilei  diese  Charakteristik 
durch  einen  Kern  von  edlerer  Gesinnung  gemildert;  auch  ist  Sim- 
plicio keineswegs,  wie  so  viele  von  Galileis  lebenden  Gegnern,  ein 
beschränkter  Kopf;  es  wirkt  vielmehr  in  seiner  aristotelischen  Denk- 
und   Redeweise  etwas  wie   vieljährige   Gefangenschaft,   die   bis  ins 


—     87     — 

reife  Mannesalter  den  ursprünglich  gut  begabten  Mann  von  aller 
wirklichen  Welt  abschloß,  und  man  glaubt  zuweilen,  wenn  man  ihn 
hört,  er  müsse  nur  den  alten  Kerker  ein  für  allemal  losgeworden 
sein,  um  als  ein  l^benbürtiger  neben  den  beiden  scharfen  Denkern, 
die  ihn  bekämpfen,  zu  stehen.  Aber  diejenigen,  die  später  im  Sim- 
plicio  ihr  Spiegelbild  erkennen  sollten,  sahen  naturgemäß  vor  allem 
die  Ähnlichkeit,  eine  Ähnlichkeit,  die  sie  nie  verzeihen  konnten  und 
in  der  Tat  niemals  verziehen  haben. 

Galilei  schrieb  sein  Buch,  wie  die  früheren,  für  jedermann;  aber 
es  war  doch  unerläßlich,  wenn  er  die  Wahrheit  der  copernicanischen 
Lehre  für  seine  Zeitgenossen  nachweisen  und  gegen  alle  Widersprüche 
schützen  wollte,  mit  aller  Gründlichkeit  auf  die  Einwendungen  der 
Gelehrten  der  alten  Schule  einzugehen.  All  die  uns  befremdend  und 
abgeschmackt  anmutenden  Lehren,  wie  die  von  der  Unveränderlich- 
keit  der  Dinge  über  dem  Mond,  von  der  Unvergleichbarkeit  der 
irdischen  und  himmlischen  Dinge,  vor  allem  die  Bewegungslehre, 
aus  der  man  damals  die  Unmöglichkeit  der  Erdbewegung  deduzierte, 
all  das  mußte  gründlich  erörtert  und  widerlegt  werden. 

So  hat  ein  großer  Teil  der  Dialoge  heute  ausschließlich  geschicht- 
liche Bedeutung,  man  kann  ihm  nur  gerecht  werden,  nur  seine 
mächtige  Wirkung  im  17,  Jahrhundert  sich  vergegenwärtigen,  wenn 
man  sich  der  undankbaren  Mühe  unterzieht,  vorher  eine  Zeitlang 
auf  der  Schulbank  vor  den  gelehrten  Nachbetern  des  Aristoteles 
zu  sitzen.  Wer  diese  Anstrengung  nicht  scheut,  wird  zur  Belohnung, 
wenn  er  dann  Galileis  Buch  liest,  die  Empfindungen  des  befreiten 
Gefangenen  teilen,  wie  sie  uns  aus  den  Briefen  der  Mitlebenden  in 
jenen  Tagen  entgegentreten. 

B.  Tägliche  Bewegung. 

Daß  Galilei  für  seine  Gedanken  diese  Form,  für  die  Dialoge  diese 
Personen  wählte,  läßt  ohne  weiteres  erkennen,  wie  er  die  Aufgabe 
seines  Buchs  gedacht  hat.  Es  liegt  nahe  genug,  die  Dialoge  mit  dem 
„Abriß  der  copernicanischen  Astronomie"  zusammenzustellen,  in  dem 
Kepler^  wenige  Jahre  zuvor  die  Summe  seiner  Forschungen  nieder- 
gelegt hatte;  in  dieser  großen  Schöpfung  des  Kepler  sehen  Geistes 

^  Für  Kepler  war  die  Aufgabe  die  Astronomie  der  Planeten,  die  Be- 
weise für  die  Bewegung  der  Erde  kurz  und  Nebensache,  für  Galilei  umgekehrt 
die  Planeten  Nebensache. 


—     88     — 

finden  sich  neben  den  ^\^mderbaren  Phantasien  seiner  Hinnnelsphysik, 
die  bald  genug  ins  Reich  der  Dichtung  verwiesen  wurden,  die  wahren 
Gesetze  der  Planetenbewegungen,  die  seinen  Xanien  unsterblich 
gemacht  haben.  Der  Fortschritt  über  die  ursprüngliche  Lehre  des 
Copernicus  hinaus,  den  dies  Buch  vergegenwärtigt,  ist  so  außerordent- 
lich groß,  daß  man  —  freilich  wenig  in  Kepler  schem  Sinne  —  hat 
zweifeln  können,  ob  das  System  in  der  neuen  Gestalt  noch  ein  coperni- 
canisches  zu  nennen  sei.  Von  einer  Fortbildung  der  Lehre  in  ähn- 
lichem Sinne  kann  bei  den  Dialogen  nicht  die  Rede  sein.  Xur  in 
wenigen,  untergeordneten  Beziehungen  geht  Galilei  über  die  coper- 
nicanischen  Grundlagen  hinaus,  ja,  jene  großen  Entdeckimgen,  die 
durch  Tycho  Brahes  Beobachtungen  ermöglicht  und  von  Keplers 
Genius  ausgefülu^t  waren,  sind  für  ihn  noch  nicht  vorhanden; 
während  Kepler  die  Geschwindigkeit  der  Planeten  nach  bestimmter 
Regel  mit  ihrem  Abstand  von  der  Sonne  sich  ändern  sah,  kennt 
Galilei  eine  Veränderung  weder  der  Abstände  noch  der  Geschwindig- 
keiten; die  Grundanschauung  des  Copernicus,  nach  der  die  Sonne  im 
Mittelpunkt  der  ki'eisförmigen  Planetenbahnen  steht,  ist  in  den 
Dialogen  unbedenklich  festgehalten,  und  doch  hatte  Kepler  die 
Unmöglichkeit  dargetan,  bei  kreisförmigen  Bahnen  die  beobachteten 
Ungleichheiten  der  Planeten  zu  erklären.  Die  Dialoge  schweigen 
selbst  von  den  Problemen  und  den  Rätseln,  die  in  Keplers  Forschung 
ihre  Lösung  gefmiden  hatten.  Die  Beseitigung  dieser  Schwierigkeiten 
war  unerläßlich,  wenn  es  sich  darum  handelte,  die  copernicanische 
Lehre  zur  wahren  Astronomie  des  Sonnensystems  zu  erheben;  sie 
war  von  untergeordneter  Bedeutung,  wo  es  darauf  ankam,  der  über- 
lieferten AVeltanschauung  gegenüber  die  unermeßliche  Überlegenheit 
der  Vorstellung,  die  von  der  zweifachen  Bewegung  der  Erde  ausging, 
für  jeden  Denkenden  zur  Klarheit  zu  bringen.  Dies  und  nichts 
anderes  wollen  die  Dialoge,  um  dieser  Aufgabe  ^^illen  begreift  man, 
was  sie  ausführen,  wie  was  sie  übergehen;  sie  reden  nicht  von 
unerledigten  Schwierigkeiten;  es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  daß 
Galilei  Keplers  Lösung  nicht  als  Erledigung  anerkannte  —  aber  um 
der  mangelnden  Vollendung  willen  dem  Copernicus  widersprechen, 
das  hieß  ihm  das  Haus  niederreißen,  weil  der  Ofen  raucht.  Dagegen 
behandeln  die  Dialoge  in  voller  x\usführlichkeit  alles,  was  mensch- 
licher Verstand  und  Unverstand  zugunsten  der  alten  Anschauung 
ersonnen  hatte  und  ersinnen  konnte,   um  dann  in  triumphierender 


—     89     — 

Beweisführung  zunächst  die  Möglichkeit  der  andern  Lehre,  dann  die 
überw^ältigenden  Zeugnisse  für  ihre  Wahrheit  darzulegen. 

Für  Mathematiker  hatte  Copernicus  seine  Lehre  niedergeschrieben, 
als  die  wahre  Weltanschauung  für  alle  lehrt  sie  Galilei.  Nicht  daß 
sein  Buch  nur  die  Beweise  des  Copernicus  verdeutlichte  oder  der 
strengen  Form  entkleidete  —  darin  liegt  ein  nicht  zu  unterschätzen- 
des, aber  das  geringere  Verdienst  der  Dialoge;  ihre  wahre  Bedeutung 
liegt  in  der  Begründung  einer  Vorstellungsweise,  die  dem  coperni- 
canisch  Denkenden  den  Zusammenhang  der  natüi-üchen  Erscheinungen 
in  ähnlicher  Weise  verdeutlicht,  wie  die  Physik  des  Aristoteles  die 
Welt  erklärt  hatte,  in  deren  Mittelpunkt  die  Erde  ruht.  Selbst  der 
Mathematiker  bedurfte  als  denkender  Mann  dieser  neuen  Physik, 
wenn  das  Ergebnis  seiner  Rechnungen  für  ihn  zur  anschaulichen 
Wirklichkeit  werden  sollte.  Die  Fragen  nach  der  jN^atur  des  Himmels 
und  der  Himmelskörper,  nach  den  Ursachen  der  Bewegung,  ihrer 
Dauer  und  ihrer  Hemmungen,  ihrer  Form  und  ihrer  Geschwindigkeit 
—  sie  aUe  waren  seit  den  Zeiten  des  Altertums  erledigt  und  abgetan, 
wenn  die  Erde  ruhte ;  sie  aUe  bedurften  von  Grund  aus  neuer  Prüfung, 
wenn  die  Erde  sich  bewegte.  Man  braucht  nur  zu  hören,  was  ein 
Tycho  Brahe  als  Beweise  gegen  den  Copernicus  anführt,  um  zu  be- 
greifen, daß  für  die  neue  Lehre  die  Elemente  der  Physik  neu  zu 
begründen  waren.  Die  allbekannten  Tatsachen,  auf  die  er  sich  beruft, 
der  geradünige  Weg  der  fallenden  Körper,  das  Treffen  der  Kugeln, 
nach  welcher  Himmelsgegend  man  auch  schieße,  sind  zwar  für  Tycho 
schwerlich  der  Ausgangspunkt  des  Widerspruchs  gewesen;  ^^1e  andere, 
hätte  vermutlich  auch  der  dänische  Astronom  sich  mit  diesen  Be- 
denken abgefunden,  wenn  nicht  ge^^ichtigere  Gründe  ihn  bestimmt 
hätten;  aber  diese  abfindenden  Deutungen  der  Verteidiger  verraten 
nur  noch  mehr,  daß  eine  klare  Antwort  noch  nicht  zu  geben  war. 
Schon  Copernicus  sieht  sich  um  solcher  Fragen  willen  genötigt, 
manche  alte  Definition,  manche  hergebrachte  Vorstellung  zu  ver- 
werfen. 

William  Gilbert  und  Kepler  gingen  auf  demselben  Wege  weiter, 
weniger  noch,  als  ihr  großer  Lehrer,  erkannten  sie  in  den  überlieferten 
Lehren  eine  Fessel  für  die  freie  Forschung.  Der  Kampf  für  Copernicus 
forderte  vor  allem  übrigen  Lossagen  vom  Aristoteles;  mehr  oder 
minder  konsequent  unterzogen  die  Jünger  des  Copernicus  sich  dieser 
Forderung;  aber  wenn  sie  im  Widerspruch  einig  waren,  so  war  die 


—     90     — 

Mannigfaltigkeit  der  Lehren,  die  man  an  die  Stelle  der  aristotelischen 
Physik  zu  setzen  versuchte,  kaum  geringer,  als  die  Zahl  der  Schrift- 
steller, die  sich  dieser  Aufgabe  be\mßt  "«iirden.  Nur  wenige  unter 
diesen  Versuchen  verleugnen  die  Veranlassung,  der  sie  ihr  Dasein 
verdanken;  nur  um  des  bestinunten  Zweckes  willen,  die  coperni- 
canische  Anschauung  durchzuführen,  ersann  man  neue  Beziehungen 
und  Eigenschaften  der  Körper,  deren  sie  nicht  bedurften,  wenn 
Ptolemäus  Recht  behielt.  Galilei  dagegen  vernichtete  die  Physik 
des  Aristoteles  als  in  sich  unhaltbar  und  unmöglich;  die  Wahrheit 
der  neuen  Lehre,  die  er  ihr  gegenüberstellte,  war  an  die  Wahrheit 
der  copernicanischen  Lehre  nicht  gebunden,  und  eben  darum  war 
sie  geeignet,  über  die  Berechtigung  der  Gegengründe,  die  man 
physikalische  nannte,  ein  entscheidendes  Wort  zu  sprechen.  Was 
dieser  Lehre  gegenüber  jene  früheren  Versuche  bedeuten,  läßt  in 
unzweideutigem  Urteil  die  Geschichte  des  copernicanischen  Systems 
erkennen;  kaum,  daß  die  Geschichtsschreiber  sie  der  Aufzeichnung 
wert  gefunden  haben;  wer  sie  kennen  lernen  will,  hat  sie  mit  müh- 
samem Quellenstudium  zu  sammeln;  dagegen  erteilt  man  heute 
noch  auf  die  Fragen,  die  aus  physikalischen  Bedenken  hervorgehen, 
die  x\iitworten  der  Dialoge.  Alle  jene  älteren  Bemühungen  sind  für 
die  Entdeckung  der  Wahrheit  unfruchtbar  geblieben,  dagegen  -wurzelt 
fast  alles,  was  der  Gegenwart  an  augenscheinlichen  Beweisen  für  die 
Tatsache  der  Erdbewegung  bekannt  ist,  in  der  Physik  oder  doch  in 
der  Methode  Galileis;  nicht  wenige  dieser  Beweise  sind  dem  klaren 
Wortlaut  der  Dialoge  ohne  weiteres  zu  entnehmen.  Daß  der  außer- 
ordentliche Fortschritt,  der  auf  diese  Weise  für  die  Veranschaulichung 
der  copernicanischen  Lehre  gewonnen  war,  wiewohl  er  die  Lehre 
popularisiert,  doch  ein  rein  wissenschaftlicher  war,  bedarf  nicht  der 
Erläuterung. 

Liegt  in  dieser  Schöpfung  einer  neuen  Bewegungslehre  und  ihrer 
Anwendungen  auf  das  copernicanische  System  die  unvergängliche 
Bedeutung  des  Buchs,  so  hatten  dem  Zeitalter  Galileis  die  sehr  um- 
fassenden Untersuchungen,  die  der  Methode  und  der  Lehre  des 
Aristoteles  gelten,  kaum  geringere  Bedeutung.  Galilei  schrieb  für 
alle,  die  in  jenen  Tagen  dem  großen  Gegenstande  ihr  Interesse  zu- 
wandten. Um  dieser  Absicht  willen  durfte  er  sich  nicht  damit 
begnügen,  den  logischen  Argumenten  seiner  Gegner  mit  Erfahrungen 
zu  erwidern,  auch  wo  solche  Erfahrungen  unserer  Auffassung  gemäß 


—     91     — 

zur  Widerlegung  völlig  ausreichten;  denn  keine  Erfahrung  war  den 
Argumenten  der  Schulgelehrten  gewachsen.  Wie  konnte  Erfahrung 
über  die  Unwissenheit  oder  die  Unmöglichkeit  eines  Wissens  auf- 
klären, wo  die  Beweise  des  Aristoteles  Wissen  und  Klarheit  in  vollem 
Maße  gewährten,  wo  überdies  die  Autorität  seines  großen  Namens 
jeden  Zweifel  beseitigte! 

So  mußte  Galilei  den  Gegner  mit  seinen  eigenen  Waffen  be- 
kämpfen. Diese  gründlichen  Widerlegungen  auf  dem  Wege  logischer 
Zergliederung  nehmen  in  seinem  Buch  einen  breiten  Raum  ein,  um 
ihretwillen  zumeist  hat  man  die  Dialoge  weitschweifig  gefunden; 
aber  sie  entsprachen  dem  Raum,  den  noch  immer  die  Denkweise  der 
Schule  in  der  Welt  erfüllte,  zu  der  Galilei  reden  wollte. 

So  ist  der  erste  „Tag"  der  Dialoge  ausschließlich  der  Prüfung 
jener  aristotelischen  Lehre  bestimmt,  gegen  die  er  seit  mehr  als 
zwanzig  Jahren  vergeblich  den  Himmel  selbst  zum  Zeugen  angerufen 
hatte,  der  Lehre  von  der  völligen  Unvergieichbarkeit  irdischer  und 
himmlischer  Dinge.  Lag  doch  der  Kern  des  Buchs  in  dem  Gedanken, 
die  Erde  unter  die  Sterne  zu  erheben,  einer  Vorstellung,  die  jener 
große  Gegensatz  an  der  Schwelle  der  Erörterung  als  völlig  absurd 
zurückzuweisen  scheint. 

Mit  sicherer  Hand  zerreißt  er  das  Gewebe  von  Schlüssen,  in 
denen  Aristoteles  aus  der  Vorstellung  einer  vollkommenen  Welt  als 
notwendige  Folgerung  herzuleiten  vermeint,  was  uns  die  oberfläch- 
lichste Wahrnehmung  der  Sinne  darstellt.  Um  der  Vollkommenheit 
willen  teilt  Aristoteles  von  den  beiden  einfachen  Bewegungen  die 
Kreisbahn  dem  Himmel,  die  gerade  Linie  der  Erde  zu;  zwar  sieht 
er  nur  an  den  Teilen  das  Aufsteigen  und  Absteigen  in  geraden  Linien, 
aber  der  Satz:  das  Ganze  verhält  sich  wie  die  Teile,  reicht  ihm  aus, 
um  auch  der  Mutter  Erde  als  Ganzem  die  geradlinige  Bewegung  zu- 
zuweisen. GalUei  zeigt,  wie  er  nur  durch  Trugschlüsse  und  unklare 
Definitionen  den  Schein  zur  wahrhaft  naturgemäßen  Ordnung  erhebt, 
wie  das  Geheimnis  seiner  Beweisführung  darin  liegt,  daß  er  vorgibt, 
ein  Gebäude  nach  den  Regeln  der  Baukimst  aufzuführen,  aber  in 
Wahrheit  seine  Baukimst  nach  dem  Gebäude  einrichtet. 

Will  man  mit  Plato  von  dem  Bilde  einer  vollkommenen  Welt 
ausgehen,  so  findet  Galilei  in  dieser  für  die  geradlinige  Bewegung 
keinen  Raum,  denn  die  Körper,  denen  sie  zukommt,  ändern  unauf- 
hörlich ihren  Ort  und  ihr  Verhältnis  zu  den  anderen,  so  dient  sie  zur 


—     92     — 

Änderung,  nicht  zm*  Erhaltimg;  in  einer  wohlgeordneten  Welt  ist 
alle  Bewegung  der  einzelnen  Weltkörper  eine  kreisförmige,  nur  sie 
ist  zur  Erhaltung  geeignet,  denn  nur  in  ihr  ist  das  Streben  zum 
bestimmten  Ziel  und  das  Widerstreben  gegen  die  Entfernung  vom 
erreichten  in  stetem  Gleichgewicht.  Dagegen  ist  die  gerade  Linie 
die  Bahn,  die  die  Teile  mit  beschleunigter  Bewegung  zum  ganzen 
führt,  wenn  sie  von  ihm  getrennt  sind,  und  in  der  sie  mit  verzögerter 
sich  vom  ganzen  entfernen,  wenn  äußere  Kräfte  sie  zu  trennen  suchen. 

Die  Schwere,  die  das  eine,  wie  das  andere  bewirkt,  ist  für  Galilei, 
wie  für  Copernicus,  nichts  anderes,  als  das  Streben  der  Teile  zur  Ver- 
einigung mit  dem  Ganzen,  dem  sie  angehören.  Ein  ähnliches  Streben 
der  Teile  zur  Vereinigung  verrät  ihm  die  Kugelgestalt  der  Sonne 
und  des  Mondes,  und  so  scheint  ihm  nichts  im  Wege  zu  sein,  wenn 
man  in  der  geordneten  Welt,  nicht  nur  auf  der  Erde,  sondern  überall, 
die  geradlinige  Bewegung  den  Teilen  in  ihrem  Verhältnis  zum  Ganzen 
zuteilt.  Die  Weltkörper  als  ganze  aber  können  nur  entweder  ruhen 
oder  im  Kreise  bewegt  sein. 

Aber  der  Gegensatz  der  Bewegungen,  wie  ihn  Aristoteles  lehrt, 
ist  zugleich  die  feste  und  alleinige  Grundlage  seiner  Lehre  vom  Gegen- 
satz des  Irdischen  und  Hinmilischen;  aus  ihm  geht  insbesondere  das 
Entstehen  und  Vergehen  hier  —  die  ewige,  wandellose  Gleichheit 
dort  mit  logischer  jX^otwendigkeit  hervor;  so  fällt  denn  auch  mit  der 
willkürlichen  Verteilung  der  Bewegungen  das  ganze  Gebäude.  Aber 
Galilei  findet  darum  nicht  minder  unerläßlich,  die  inneren  Wider- 
sprüche und  logischen  Willkürlichkeiten  zu  enthüllen,  durch'  die  es 
mögüch  wurde,  jene  Verwandlungserscheinungen,  die  niemand  be- 
greift, auf  einen  Gegensatz  der  Bewegungen  im  Reich  der  irdischen 
Elemente  zurückzuführen. 

Erst  nachdem  sich  die  Beredsamkeit  der  Parteien  an  dieser 
Aufgabe  erschöpft  hat,  ist  von  Erfahrungen  die  Rede.  Der  Gewiß- 
heit ü'discher  Wandelbarkeit  gegenüber  vermißt  der  Peripatetiker  jede 
Kunde  vom  Anderswerden  im  Hinmiel.  —  ,,Ihr  wißt's  von  Italien, 
aber  woher  von  China  und  Amerika?"  fragt  Salviati.  „Sichere 
Berichte  verkünden  es",  entgegnet  Simplicio.  „So  bedarf's  des  Augen- 
scheins oder  der  glaubwürdigen  Berichterstatter;  da  uns  beides  für 
den  Mond  nicht  zu  Gebote  steht,  —  was  beweist  uns,  daß  auf  ihm 
nicht  ist  oder  geschieht,  was  wir  nicht  erfahren  können?"  „Die 
ältesten  Überlieferungen  besagen,  daß  einst  festes  Land,  wo  jetzt  die 


—     93     ~ 

Straße  von  Gibraltar  ist,  die  gegenüberliegenden  Erdteile  vereinigte, 
so  daß  erst  später,  als  der  Ozean  das  Festland  durchbrach,  das 
Mittelländische  Meer  entstand.  Veränderungen  so  gewaltiger  Art,  wenn 
sie  am  Monde  vorgekommen  wären,  könnten  uns  nicht  unbemerkt 
geblieben  sein."  ,,Wohl!  aber  wo  sind  auf  der  Erde  die  wißbegierigen 
Selenographen  gewesen,  die  uns  das  Bild  des  Mondes  aus  alter  Zeit 
bewahrt  hätten,  daß  wir  heute  vergleichen  könnten,  ob  in  der  Ver- 
teilung heller  und  dunlder  Stellen  eine  Änderung  eingetreten  sei? 
Was  sagt  man  uns  vom  Mond?  Der  eine  sieht  darin  ein  mensch- 
liches Gesicht,  der  andre  eine  Löwenschnauze,  der  dritte  Kain  mit 
einem  Reisigbündel  auf  der  Schulter.  Was  also  ist  damit  gesagt, 
wenn  man  den  Himmel  für  unveränderlich  erklärt,  weil  wir  am  Mond 
oder  anderen  Himmelskörpern  nicht  die  Veränderungen  sehen,  die  wir 
an  der  Erde  kennen?" ^ 

Nun  erst  führt  Salviati  aus,  was  in  Wahrheit  das  17.  Jahrhundert 
von  Veränderungen  im  Reich  der  Himmelskörper  weiß. 

Er  redet  von  den  neuen  Sternen  vom  Jahre  1572  und  1604  und 
von  den  Flecken  der  Sonne.  Für  die  Kometen,  die  andere  gleichfalls 
in  so  ferne  Regionen  erheben,  ist  er  noch  jetzt  nicht  abgeneigt,  einen 
irdischen  Ursprung  anzunehmen.  Ein  ausführlicher  Bericht  über 
den  Mond,  wie  ihn  das  Fernrohr  enthüllt  hat,  beschließt  die  erste 
Unterredung.  Mannigfache  Beobachtungen  aus  den  zwischenliegenden 
Jahren  vervollständigen  die  Schilderung  der  „Sternenbotschaft", 
Galilei  hat  inzwischen  entdeckt,  daß  infolge  der  Achsendrehung  des 
Mondes  etwas  mehr  als  die  HäKte  seiner  Oberfläche  von  uns  gesehen 
wird.  Aber  das  wichtigste  Ergebnis  für  die  gesamte  Himmelskimde, 
wie  Galilei  es  20  Jahre  zuvor  verkündet  hatte,  hat  sich  in  aller  späteren 
Forschung  bewährt. 

In  siebenfacher  Beziehung  weist  der  Bericht  der  Dialoge  an  dem 
einzigen  Himmelskörper,  der  bisher  eine  Vergleichung  gestattet  hat, 
die  Übereinstimmung  mit  der  Erde  nach.  Daß  in  aller  Ähnlichkeit 
wesentliche  Verschiedenheiten  stattfinden  und  stattfinden  müssen, 
will  Galilei  nicht  bezweifeln.  Aber  der  Wahn,  daß  die  Erde  als  un- 
vergleichlich außerhalb  der  Schar  der  Himmelskörper  stehen  muß, 
bleibt  nichtsdestoweniger  durch  den  Mond  widerlegt.  Ist  auf  diese 
Weise  die  Erde  „aus  der  Finsternis  ans  Licht  gezogen",  so  wird  nun 


1  Ed.  Naz.  VII  p.  74. 


—     94     — 

weiter  zu  prüfen  sein,  wie  weit  es  Wahrscheinlichkeit  hat,  sie  als 
ruhend,  wie  weit  sie  irgendwie  bewegt  zu  denken  ist.  Soll  dies  erkannt 
werden,  meint  Galilei,  so  muß  vor  allem  übrigen  begriffen  sein,  daß, 
wenn  die  Erde  sich  bewegt,  und  wie  immer  sie  sich  bewegen  möge, 
dies  nun  und  nimmermehr  auf  der  Erde  selbst  von  ihren  Bewohnern 
an  irdischen  Gegenständen  wahrgenommen  werden  kann,  sondern 
innner  nur  an  dem,  was  die  Bewegung  nicht  teilt,  und  zwar  muß 
eine  jede  Bewegung  der  Erde  sich  daran  erkennen  lassen,  daß  nicht 
etwa  ein  einzelner  Himmelskörper,  etwa  der  Mond  oder  Venus,  sich 
zu  bewegen  scheinen,  sondern  alles,  was  nicht  an  der  Bewegung  der 
Erde  teilhat,  muß  uns  diese  Bewegung  wiederspiegeln;  wenn  zunächst 
die  Erde  sich  in  24  Stunden  in  der  Richtung  von  Westen  nach  Osten 
um  ihre  Achse  di'eht,  so  kann  das  für  uns  auf  keine  andere  Weise 
erkennbar  werden,  als  daran,  daß  wir  den  ganzen  Sternenhimmel 
mit  der  Sonne  und  dem  Mond  in  24  Stunden  in  der  Richtung  von 
Osten  nach  Westen  gehen  sehen;  es  müßte  also,  wenn  der  Himmel 
ruht  und  die  Erde  sich  bewegt,  genau  dasselbe  wahrgenommen 
werden,  wie  wenn  in  Wirklichkeit  Sonne,  Mond  und  Sterne  sich  so 
bewegten,  ^vie  es  uns  erscheint.  Soviel  man  denken  mag,  wird  sich 
kein  Unterschied  erdenken  lassen,  an  dem  uns  offenbar  würde,  ob 
das  eine  oder  das  andere  Wirklichkeit  ist;  denn  alle  Bewegung,  sagt 
Galilei,  ist  nur  Bewegung  und  als  Bewegung  wirksam  in  bezug  auf 
etwas,  das  sich  nicht  bewegt.  Die  Waren,  mit  denen  ein  Schiff  be- 
laden ist,  bewegen  sich,  insofern  sie  Venedig  verlassen,  Korfu,  Kandia, 
Zypern  passieren  und  nach  Aleppo  kommen,  während  Venedig,  Korfu, 
Kandia  usw.  ruhen  und  sich  nicht  mit  dem  Schiff  fortbewegen;  aber 
für  die  Warenballen,  Kisten  usw.,  mit  denen  das  Schiff  befi'achtet 
ist  in  bezug  aufeinander  und  in  bezug  auf  das  Schiff  selbst,  ist  die 
Bewegung  von  Venedig  nach  Syrien  wie  nicht  vorhanden,  sie  ändert 
nichts  an  ihrer  wechselseitigen  Beziehung,  weil  sie  allen  gemeinsam 
ist,  und  wenn  ein  Ballen  während  der  Fahrt  auch  nur  um  einen 
Finger  breit  von  der  nächsten  Kiste  fortgerückt  wird,  so  wird  dies 
für  beide  in  bezug  auf  sich  selbst  eine  größere  Bewegung  sein,  als  der 
Weg  von  2000  Meilen,  den  sie  in  unveränderter  Lage  miteinander 
zurücklegen.  1 

So  ist  auch  alle  Bewegung  des  Himmels  nur  Bewegung,  insofern 
ein  Ruhendes  vorhanden  ist  oder  gedacht  wird.     Nehmt  die  Erde 

1  Ed.  Naz.  VII  p.  Ulf. 


—     95     — 

aus  der  Welt,  und  all  jener  Wechsel  der  Erscheinungen,  in  dem  wir 
die  gewaltigsten  Bewegungen  zu  erkennen  meinen,  ist  nicht  mehr; 
die  Welt  kennt  dann  weder  iVufgang  noch  Untergang  von  Sonne, 
Mond  und  Sternen,  weder  Tage  noch  Xächte;  all  dieser  Wechsel 
existiert  nur  in  bezug  auf  die  Erde. 

Wenn  aber  die  Erscheinungen  aufs  Haar  übereinstimmen  müßten, 
ob  die  Erde  oder  alles  außerhalb  der  Erde  sich  bewegt  —  was  ist 
dann  glaublicher:  daß  die  kleine  Erde  in  24  Stunden  ihre  Umdrehung 
vollendet,  oder  die  unermeßliche  Sphäre  der  Sterne  mit  Sonne  und 
Planeten  mit  einer  Geschwindigkeit,  die  aUe  Begriffe  übersteigt? 
Und  noch  dazu  nach  der  seltsamen  Regel,  daß,  je  ferner  der  Stern, 
desto  größer,  rasender  seine  Geschviindigkeit  sein  müßte,  um  den 
allgemeinen  Wirbel  mitzumachen,  während  sonst  alle  Himmelskörper 
ihre  Kreisbahn  um  so  langsamer  durchlaufen,  je  größer  ihre  Bahn 
ist;  daß  andrerseits  diese  Geschwindigkeit  bei  den  Fixsternen  vom 
Himmelsäquator  bis  zu  den  Hinmielspolen  abnimmt,  an  den  Polen 
völliger  Ruhe  gleichkommt  usw.,  und  dabei  auf  ein  Zentrum  Rück- 
sicht nimmt,  das  in  unermeßlicher  Entfernung  außerhalb  des  Zen- 
trums dieser  Kreisbahnen  ruht. 

Sagredo  erwidert,  daß  ihm  das  auf  den  ersten  Blick  noch  ungleich 
törichter  vorkomme,  als  wenn  man  einen  hohen  Turm  erstiege,  um 
die  Stadt  und  ihre  Umgebung  zu  überschauen,  und  dann  verlangte, 
daß  das  ganze  Land  den  Rundgang  machte,  damit  man  nicht  nötig 
hätte,  den  Kopf  zu  drehen. 

Aber  nun  kommen  die  Bedenken  in  Scharen.  Wenn  die  Erde 
sich  von  Westen  nach  Osten  bewegt,  wie  ist  es  möglich,  daß  die 
fallenden  Körper  in  gerader  Linie  senkrecht  gegen  die  Oberfläche 
fallen  und  nicht  vielmehr  weit  westlich  von  dem  Fußpunkt  der  Senk- 
rechten die  Erde  treffen,  da  doch  der  Fußpunkt  längst  nach  Osten 
enteilt  ist  ?  Sehen  wir  nicht,  daß  auf  dem  ruhenden  Schiffe  die  Kugel, 
die  von  der  Höhe  des  Mastkorbs  in  der  Senkrechten  herabfällt,  am 
Fuße  des  Mastbaums  ankommt,  während  dieselbe  Kugel,  wenn  das 
Schiff  sich  bewegt,  um  so  weiter  hinter  ihm  zurückbleibt,  je  größer 
die  Geschwindigkeit  der  Fahrt  ist? 

Wenn  man  dieselbe  Kugel  aus  demselben  Kanonenlauf  mit 
gleicher  Kraft  nach  Westen  abschießt,  so  müßte  sie  in  beträchtlich 
größerer  Entfernung  treffen,  als  wenn  man  nach  Osten  schießt,  denn, 
wenn  nach  Westen,  kommt  zum  eigenen  Weg  der  Kugel  noch  der 


—     96     — 

Weg,  um  den  die  Kanone  sich  mittlerweile  ostwärts  vom  Ziel  ent- 
fernt hat;  schießt  man  dagegen  nach  Osten,  so  rennt  die  Kanone 
ge^^•issermaßen  der  Kugel  nach;  es  müßte  die  Schußweite  um  das 
Stück  verringert  werden,  das  die  Kanone  gleichzeitig  in  derselben 
Richtung  zurücklegt.  Aber  nichts  der  Art  zeigt  die  Erfahrung;  man 
schießt  nach  Osten  genau  so  weit,  wie  nach  Westen,  also  steht  die 
Kanone  unbeweglich  fest,  und  demnach  auch  die  Erde.  Und  ebenso 
bestätigt  sich  die  Ruhe  der  Erde,  wenn  man  nach  Norden  oder  Süden 
schießt,  denn  wenn  die  Erde  sich  bewegt,  so  könnten  die  Kugeln 
das  Ziel  nicht  treffen,  sie  müßten  immer  in  westlicher  Richtung 
zurückbleiben,  was  nicht  beobachtet  vtird.  Auch  müßte  man  bei 
jedem  Schuß  nach  Osten  zu  hoch,  nach  Westen  zu  niedrig  treffen, 
da  das  Ziel  im  ersteren  Fall  durch  die  Umdrehung  der  kugelförmigen 
Erde  zu  rasch  unter  die  Schußlinie  gesunken  ist,  im  andern  sich  zu 
rasch  über  diese  Linie  hinaushebt. 

Wer  immer  den  Copernicus  vertreten  wollte,  hatte,  um  diese 
Bedenken  zu  beseitigen,  annehmen  müssen,  daß  die  Körper  der  Erde, 
gleichviel  ob  sie  in  Ruhe  oder  bewegt  sind,  mit  der  festen  Masse  der 
Erde  verbunden  oder  von  ihr  getrennt  sind,  die  Bewegung  der  Erde, 
wie  sie  ihnen  zu  irgendeiner  Zeit  mitgeteilt  ist,  in  unveränderter 
Yfeise  bewahren.  Kepler  hatte  den  Begriff  der  Trägheit  zu  Hilfe 
genommen;  aber  die  Form,  in  die  er  diesen  Begriff  gefaßt  hat, 
gestattete  ihm  nicht,  entsprechende  Erscheinungen  vorauszusagen 
oder  zu  erklären,  bei  denen  die  Bewegung  der  Erde  nicht  in  Betracht 
kommt;  er  schweigt  von  dem  Fall  der  Körper  auf  Schiffen;  ja  er 
macht  sich  selbst  den  Einwurf:  die  westwärts  abgeschossene  Kugel 
müsse,  gerade  weil  sie  die  östliche  Richtung  der  Erdbewegung  bei- 
behält, infolge  der  Trägheit  ihrer  Materie  die  gewaltsame  Bewegung 
durch  den  Schuß  weniger  leicht  annehmen,  als  die  ostwärts  geschossene, 
die  nur  in  derselben  Richtung  bewegt  wird,  die  ihr  ursprünglich  zu- 
kommt; und  Kepler  gesteht  unumwunden  zu,  daß  dieser  Unterschied 
stattfinde,  nur  der  Größe  der  bewegenden  Ursache  gegenüber  un- 
merklich werde.  Auch  wenn  er  wahrzunehmen  wäre,  fehle  die  Möglich- 
keit der  Untersuchung,  denn  wie  soll  man  sich  überzeugen,  daß  die 
Kraft  der  Explosion  bei  den  verschiedenen  Schüssen  dieselbe 
gewesen  ist.^ 

^  Keplers   Trägheitsbegriff   ergibt   also   eine  falsche   Konsequenz   oder 
Ruhe  der  Erde. 


—     97     — 

Das  Beispiel  verdeutlicht,  wieviel  vor  Galilei  erreicht  war,  wie- 
viel ihm  selbst  zu  leisten  übrig  blieb. 

Galilei  beginnt  mit  dem  geradlinigen,  senkrechten  Fall  der  Körper. 
Er  zeiht  zunächst  den  Gegner  des  logischen  Fehlers.  Wer  behauptet, 
daß  der  fallende  Körper  in  gerader  Linie  den  Fußpunkt  trifft,  und 
daraus  folgert,  daß  die  Erde  ruht,  der  setzt  die  Ruhe  der  Erde,  die 
er  beweisen  -svill,  voraus,  denn  wenn  die  Erde  nicht  ruht,  ist  die 
Bewegung  des  fallenden  Körpers  keine  gerade  Linie.  So  ist  der 
Gegner  genötigt,  den  Ai'istoteles  zu  verbessern  und  seinen  Einwand 
in  der  Sprache  der  Schule  dahin  auszusprechen:  daß,  wenn  die  Erde 
sich  bewegt,  der  Stein  nicht  längs  der  Senlvrechten  von  der  Spitze 
zum  Fuß  des  Turmes  fallen  könnte,  weil  er  alsdann  zugleich  eine 
geradlinige  und  eine  Ivreisförmige  Bewegung  haben  müßte,  was  un- 
möglich ist,  namentlich  bei  schweren  Körpern. 

Galilei  beweist  das  Gegenteil.  Als  Grundlage  seiner  Ausführung 
stellt  er  das  Prinzip  fest:  daß  die  Bewegung,  die  einem  Körper  mit- 
geteilt wird,  demselben  in  unzerstörbarer  Weise  übertragen 
wird.  Als  völlig  unhaltbar  erkennt  er  die  übliche  Deutung  der  Peri- 
patetiker,  nach  der  die  bewegende  Kraft  zunächst  auf  die  Luft  über- 
tragen und  von  dieser  dem  Körper,  den  sie  begleitet,  stets  von  neuem 
mitgeteilt  wird.  Galilei  begründet  eine  neue  Bewegungslehre  durch 
die  einfache  Annahme,  daß  es  keiner  Ursache  für  die  Erhaltung  der 
Bewegung  bedarf.  Der  Körper,  der  durch  irgendeine  Ursache  bewegt 
ist,  würde  sich  bis  ins  Unendliche  in  derselben  geraden  Linie  und  mit 
derselben  Geschwindigkeit  fortbewegen,  wenn  kein  Widerstand  seine 
Bewegung  verzögerte,  keine  andere  Ursache  sie  beschleunigte.  Aus 
der  Unzerstörbarkeit  der  übertragenen  Bewegung  folgt  dann  sofort 
die  weitere  Erkenntnis,  daß  eine  zweite  Bewegung,  die  dem  bereits 
bewegten  Körper  mitgeteilt  wird,  die  erste  nicht  beeinträchtigt  oder 
verändert;  in  der  Bewegung  des  Körpers  sind  in  diesem  Fall  beide 
einzelnen  Bewegungen  vollständig  erhalten;  sie  ist  aus  beiden  gemischt 
oder  zusammengesetzt.  Die  mannigfaltigsten  Beispiele  verdeutlichen 
diese  Zusammensetzung.  Die  Kugel,  die  der  Hand  des  Reiters  im 
schnellsten  Galopp  entfällt,  bleibt  nicht  hinter  ihm  zurück,  denn  sie 
bewahrt  die  Geschwindigkeit  des  Ritts,  auch  wenn  sie  fällt;  ja,  die 
Kugel  kann  ihm  noch  folgen,  wenn  er  sie  reitend  rückwärts  schleudert, 
und  nur,  wenn  die  Geschwindigkeit  der  Bewegung,  die  er  ihr  auf 
diese  Weise  erteilt,  größer  ist,  als  die  des  Pferdes,  wird  sie  in  Wirklich- 

Wohlwill,  Galilei.    II.  7 


—     98     — 

keit  sich  in  entgegengesetzter  Richtung  bewegen.  Man  hat  geglaubt, 
daß  der  Reiter,  der  den  Spieß  vor  sich  her  wirft,  imstande  sei,  im 
rascheren  Ritt  den  geworfenen  wieder  aufzufangen;  er  wii'd  es  ver- 
gebens versuchen,  denn  der  Spieß  hat  zur  Geschwindigkeit  des  Ritts 
noch  die  des  Wurfs  in  gleicher  Richtung  empfangen;  wohl  aber  wird 
er  bei  noch  so  großer  Geschmndigkeit  fangen  können,  was  er  im  Ritt 
aufwärts  geworfen  hat. 

So  ist  auch  der  Einwurf  vom  Fall  auf  ruhendem  und  bewegtem 
Schiff  einfach  dadurch  erledigt,  daß  der  Unterschied,  von  dem  man 
redet,  wie  so  manche  andere  Tatsache  der  alten  Physik,  vom  Einen 
behauptet  und  von  Tausend  nachgesprochen,  aber  nie  erprobt  ist; 
ein  solcher  Unterschied  findet  nicht  statt  und  kann  nicht  stattfinden. 
Das  Schiff  mag  ruhen  oder  segeln,  seine  Geschmndigkeit  groß  oder 
klein  sein,  immer  wd  die  Kugel  am  Fußpunkte  der  Senkrechten 
niederfallen,  in  der  der  Anfangspunkt  ihrer  Bewegung  liegt,  es  sei 
denn,  daß  der  Bewegungszustand  der  Luft  geringe  Abweichungen 
veranlasse.  Mannigfache  merkwürdige  Folgerungen  ergeben  sich 
ohne  weiteres,  sobald  man  nur  diese  Zusammensetzung  der  Bewegungen 
klar  begreift.  So  findet  man,  daß  die  wirkliche  Bahn  des  Körpers, 
der  auf  bewegtem  Schiffe  fällt,  je  nach  der  Geschwindigkeit  des 
Schiffs  eine  immer  andere,  größere,  mehr  gestreckte  Linie  wird, 
und  alle  diese  noch  so  verschiedenen  Bahnen  werden  in  derselben 
Zeit  zurückgelegt,  die  der  senkrechte  Fall  in  der  ungleich  kürzeren 
Bahn  auf  ruhendem  Schiffe  erfordert ;  dasselbe  würde  von  den  Bahnen 
der  Kanonenkugeln  gelten,  die  von  der  Höhe  eines  Turmes,  gleichviel 
mit  welcher  Kraft,  in  horizontaler  Richtung  abgeschossen  würden; 
wie  verschieden  auch  die  Schußweite,  die  die  Kraft  des  Pulvers 
bestimmt,  die  Dauer  ihres  Fluges  wäre  immer  der  Zeit  gleich,  in 
der  sie  durch  senkrechten  Fall  den  Fuß  des  Turmes  erreichten.  Um 
die  Form  dieser,  wie  immer  verschiedenen,  Bahnen  zu  verzeichnen, 
ist  nur  genaue  Kenntnis  der  Regel  erforderlich,  nach  der  die  Ge- 
schwindigkeit des  fallenden  Körpers  zunimmt.  Galilei  ist  der  erste, 
der  diese  Regel  erkannt  hat,  er  braucht  nur  mit  dieser  senkrechten, 
gleichförmig  beschleunigten  Bewegung  die  gleichförmige  in  der  Rich- 
tung des  Wurfs  oder  Schusses  zusammenzusetzen,  um  die  Form  der 
Wurflinie  zu  finden,  in  ihr  zugleich  die  wirkliche  Bahn  des  Körpers, 
der  vom  bewegten  Mäste  fällt,  denn  nicht  anders  als  der  horizontal 
gerichtete  Wurf  der  Hand  oder  Schuß  der  Kanone  wirkt  die  Bewegung, 


—     99     — 

die  das  Schiff  allen  mit  ihm  bewegten  Körpern  überträgt.  Was  bei 
den  Körpern  des  bewegten  Schiffs  noch  als  ein  Äußerliches,  der  Natur 
der  Körper  Fremdartiges  erscheinen  könnte,  das  ist  den  Körpern 
der  bewegten  Erde  als  unzerstörbarer,  von  ihrem  Wesen  nicht  trenn- 
barer Besitz  gegeben;  so  ist  die  Anwendung  der  Erläuterung  einfach 
genug.  Der  Stein,  der  von  der  Höhe  des  Turmes  fällt,  verliert 
dabei  die  ursprünglich  östlich  gerichtete  Bewegung  der  Erde  nicht, 
es  ist  also  kein  Grund,  warum  er  hinter  dem  Fußpunkt  des  Turms 
zurückbleiben  sollte,  der  diese  östliche  Bewegung  teilt. 

Von  dieser  gemischten  Bewegung  aber  erkennen  wir  nur  den 
Teil,  der  dem  fallenden  Körper  eigentümlich  ist;  unsrer  Wahrnehnumg 
entzieht  sich  der  andere,  den  der  Turm  und  alles,  was  ihn  umgibt, 
mit  ihm  gemein  hat.  Wenn  wir  bei  ruhiger  See  zu  Schiffe  von  Smyrna 
nach  Venedig  fahren  und  uns  die  Zeit  damit  vertreiben,  eine  Zeichnung 
anzufertigen,  so  teilt  die  zeichnende  Hand  die  Bewegung  über  das 
mittelländische  Meer;  sie  hat  also  in  Wirklichkeit  in  jedem  Augen- 
blick gleichzeitig  zwei  Bewegungen,  und  ihr  eigentlicher  AVeg  ist  ein 
unendliches  GewliT  von  Figuren;  von  alledem  aber  sehen  wir  sowohl 
w'ährend  der  Fahrt  als  bei  der  Ankunft  in  Venedig  nichts  als  die 
Zeichnung,  d.  h.  den  Teil  der  Bewegung  der  zeichnenden  Hand,  den 
das  Schiff  und  deshalb  das  Blatt,  auf  dem  wir  zeichnen,  nicht  teilt; 
die  Zeichnung  würde  uns  nicht  anders  erscheinen,  wenn  sie  auf 
ruhendem  Schiff  gefertigt  wäre.  Ebensowenig  würde  der  Beobachter 
bei  demx  fallenden  Körper  einen  Unterschied  wahrnehmen,  wenn  er 
während  des  Falls  zugleich  mit  dem  Turm  und  der  Erde  sich  ost- 
wärts fortbewegte;  es  kann  also  die  Wahrnehmung  des  senkrechten 
Falls  nicht  als  Beweis  gegen  die  Bewegung  der  Erde  gelten. 

Es  kommt  nur  darauf  an,  diese  Anschauungsweise  klar  zu  fassen 
und  zur  Anwendung  zu  bringen,  um  eine  Reihe  ähnlicher  Einwürfe 
zu  beseitigen.  Die  aufwärts  geschossenen  Kanonenkugeln  kehren  in 
den  senki-echt  gerichteten  Lauf  zurück,  ob  die  Erde  ruht,  oder  ob  sie 
sich  bewegt,  denn  aufwärts  fliegend  wie  niederfallend  w^ürden  sie 
die  östliche  Bewegung  der  Erde  ungeschwächt  bewahren,  der  Lauf 
eilt  ostwärts,  nachdem  die  Kugel  ihn  verlassen,  aber  die  Kugel  folgt 
ihm  mit  gleicher  Geschwindigkeit.  So  müssen  auch  die  Schüsse 
treffen,  ob  die  Erde  sich  bewegt  oder  nicht,  und  die  Himmelsgegend, 
nach  der  man  zielt,  ändert  die  Sicherheit  nicht,  denn  wenn  die  Erde 
sich  dreht,  w'ürde  zwar  das  Ziel,  bis  es  von  der  Kugel  erreicht  ist, 


—     100     - 

seinen  Weg  in  östlicher  Richtung  zurückgelegt  haben,  aber  diese 
östliche  Bewegung  wü'd  von  der  Kugel  geteilt;  die  Kugel  bewahrt 
sie,  ob  sie  im  Laufe  ruht  oder  die  Luft  durchfliegt,  und  gleichviel 
welche  Richtung  ihr  der  Schuß  erteilt,  sie  würde  darum  nicht  weniger 
treffen,  als  wenn  das  Ziel  und  der  Lauf  sich  auf  ruhender  Erde  befände. 

So  würden  auch  die  westwärts  gerichteten  Schüsse  nicht  zu 
niedrig,  die  östlich  gerichteten  nicht  über  das  Ziel  hinausschießen; 
richtig  ist,  daß  das  westlich  gelegene  Ziel  durch  die  Bewegung  der 
Erde  sich  über  eine  ruhend  gedachte  Tangente  mehr  und  mehr 
erhebt,  so  wie  das  östliche  sich  unter  eine  solche  Tangente  senkt; 
aber  ein  IiTtum  ist,  sich  die  Linie,  die  den  Zielenden  mit  dem  Ziel 
verbindet,  als  eine  ruhende  Tangente  zu  denken,  der  Zielende  ändert 
seinen  Ort,  wie  das  Ziel,  die  Tangente,  in  der  er  schießt,  hebt  sich 
und  senkt  sich  durch  die  Bewegung  der  Erde  genau  in  derselben  Weise 
wie  das  Ziel. 

So  würde  durch  das  Treffen  der  Kugel  die  Bewegung  der  Erde 
nicht  widerlegt  sein,  auch  wenn  die  Berufung  auf  diese  Tatsache 
sich  durch  Beobachtung  bekräftigen  ließe.  In  Wirklichkeit  nehmen 
die  Gegner  für  sich  in  Anspruch,  was  niemand  wahrgenommen  hat. 
Galilei  berechnet,  daß  bei  der  Wurfweite  der  Geschütze  und  der 
Zeitdauer,  die  ihrem  Weg  entspricht,  die  Hebung  und  Senkung  des 
Ziels  durch  die  Erdbewegung  nicht  einen  Zoll  (1/23  braccia)  betragen 
würde,  aber  die  Abweichungen  der  Kugel  aus  andern  Gründen  sind 
ungleich  größer.  Wer  möchte  beweisen,  daß  die  Erdbewegung  keinen 
Teil  daran  hat?  Größere  Schwierigkeiten  scheint  der  freie  Flug  der 
Vögel  zu  bieten.  In  tausendfältiger  Bewegung  durchstreichen  sie  die 
Luft;  oft  lange  genug,  ohne  die  Erde  unter  sich  zu  berühren;  wie 
soll  man  sich  vorstellen,  daß  in  dem  Hin  und  Her  der  Bewegungen 
ihnen  nicht  die  ursprüngliche  Bewegung  der  Erde  verloren  geht? 
wie,  daß  sie  die  verlorene  medererlangen,  um  im  Fluge  nicht  hinter 
den  Türmen  der  Erde  zurückzubleiben?  Der  Einwand  gehört  zu 
denen,  die  schon  den  Alten  die  Annahme  einer  Erdbewegung  wider- 
sinnig erscheinen  ließen.  Copernicus  hat  sich  auf  eine  Erörterung 
nicht  eingelassen:  den  Löwen,  sagt  Galilei^,  kümmerte  das  Bellen  der 
kleinen  Hunde  nicht.  Galilei  zeigt,  daß  die  Ki'aft  des  lebenden  Tiers 
als  Ursache  seiner  \^'illkürlichen  Bewegung,  das  einzige,  wodurch  der 


1  Ed.  Naz.  \^T  p.  194. 


—     101     — 

Fall  der  fliegenden  Vögel  von  dem  Fall  der  geworfenen  Geschosse 
sich  unterscheidet,  einen  Unterschied  der  Erldärung  nicht  bedingt. 
Es  ist  unzweifelhaft,  daß  die  innere  Kraft  den  lebenden  Vögeln 
Bewegungen  gestattet,  die  den  toten  Vögeln  sowohl  wie  den  geworfenen 
Kugeln  unmöglich  sind;  aber  die  Bewegung  des  lebenden  Vogels, 
die  nicht  aus  dieser  Innern  Ursache  stammt,  ist  in  ihm  ganz  so  wie 
in  der  geworfenen  Kugel  vorhanden.  Galilei  sieht  auch  hier  keine 
Schwierigkeit.  ,,Ist  die  Geschwindigkeit  des  Vogels  =1,  die  Ge- 
schwindigkeit der  Erde  =  9,  so  hat  der  Vogel,  wenn  er  ostwärts  fliegt, 
die  vereinigte  Gesch\\indigkeit  10  und  kommt  mit  dieser  genau  so 
weit,  als  wenn  er  auf  ruhender  Erde  mit  der  Geschwindigkeit  1 
geflogen  wäre;  fliegt  er  westwärts,  also  der  Erdbewegung  entgegen, 
so  bleiben  ihm  in  der  Richtung  der  Erdbewegung  nur  8  Grade, 
während  die  Erde  mit  9  nach  Osten  geht,  er  bleibt  also  westwärts 
zurück,  und  zwar  genau  so  weit,  als  er  mit  der  Geschwindigkeit  1 
auf  ruhender  Erde  gekommen  wäre.  Die  Erdbewegung  hindert  ihn 
und  hilft  ihm  ebensowenig  in  seinem  Flug,  er  sei  gerichtet,  wie  er 
wolle,  wie  sie  die  fliegende  Kugel  in  ihrer  Bewegung  fördert  oder 
hemmt.  Den  Flug  nach  Westen  richten,  heißt  nichts  anderes,  als 
von  der  täglichen  Bewegung,  die  9  Gesch^indigkeitsgrade  betragen 
mag,  etwa  einen  Grad  in  Abzug  bringen,  so  daß  dem  Vogel  deren  8 
verbleiben,  so  lange  er  fliegt;  und  kehrt  er  zur  Erde,  so  hat  er  alsbald 
die  gemeinsamen  9;  fliegt  er  gen  Osten,  so  kann  er  dadurch  ihnen 
einen  zehnten  hinzufügen  und  mit  diesen  10  zu  seinem  Turm  zurück- 
kehren. 

Um  den  letzten  Zw^eifel  zu  beheben,  fordert  Galilei^,  daß  man 
mit  all  den  Gegenständen,  lebenden  und  toten,  deren  Bewegung  auf 
bewegter  Erde  man  prüfen  wiU,  sich  auf  einem  rasch  segelnden  Schiff 
so  vollständig  abschließe,  daß  eine  Fortbewegung  des  Schiffs  an 
äußern  ruhenden  Gegenständen  nicht  wahrzunehmen  ist;  man  wii-d 
alsdann  durch  den  Augenschein  gewahren,  daß  der  Bewegung  der 
Teile  nicht  zu  entnehmen  ist,  ob  das  Ganze  ruht,  oder  ob  es  in 
Bewegung  ist,  so  vollständig  werden  in  beiden  Fällen  die  Bewegungs- 
erscheinungen an  den  Teilen  übereinstimmen. 

Aber  die  Lehre  von  der  Zusammensetzung  der  Bewegungen, 
die  den  Erfolg  dieses  Versuches  voraussehen  läßt,  gewährt  noch  mehr. 


1  Ed.  Naz.  VII  p.  2]2f. 


—     102     — 

Sie  weist  statt  jener  Folgen,  die  der  Gegner  in  unklarer  Berechnung 
erwartet,  tatsächliche  Verschiedenheiten  der  Bewegungserscheinungen 
auf  ruhender  und  bewegter  Erde  nach;  sie  bezeichnet  demnach  Ver- 
suche, die  eine  Entscheidung  für  oder  wider  Copernicus  ergeben 
müssen.  Galilei  ist  sich  dieser  Konsequenzen  wohl  be\^aißt  gewesen. 
Er  sieht,  daß,  wenn  die  Erde  sich  bewegt,  die  Kugeln,  die  auf  der 
nördlichen  Erdhälfte  nordwärts  geschossen  werden,  nicht  allein  nicht 
westlich  zurückbleiben,  sondern  ostwärts  vorauseilen  müssen, 
denn  sie  kommen  mit  der  größeren  Geschwindigkeit  des  größeren 
Parallelkreises  in  die  höheren  Breiten.  Galilei  glaubt  jedoch,  daß 
bei  der  geringen  Schußweite  der  Kanonen  der  Unterschied  der 
Geschwindigkeit  zu  gering  sein  wird,  um  solche  Abweichung  erkennen 
zu  lassen.  Eine  späte  Folgezeit  hat  seine  Vorstellung  bestätigt,  und 
in  der  Abweichung  der  Kanonenkugeln  je  nach  der  Richtung  des 
Schusses  hat  sich  ein  bestimmter  Beweis  für  die  Rotation  der  Erde 
ergeben. 

Galilei  hat  ebensowenig  übersehen,  daß  aus  ähnlichem  Grunde 
der  fallende  Körper  in  Wirklichkeit  ostwärts  vom  Fußpunkt  der 
Senkrechten  den  Boden  treffen  müsse;  er  redet  davon,  als  er  dem 
Jesuiten  Scheiner  die  seltsame  Rechnung  revidiert,  nach  der  ein 
Körper,  um  vom  Mond  zum  Zentrum  der  Erde  zu  fallen,  mehr  als 
sechs  Tage  gebrauchen  sollte.  Scheiner  hält  für  ganz  undenkbar, 
daß  eine  Kugel  bei  solchem  Fall  stets  über  dem  Punkte  bleibe,  der 
an  der  Erdoberfläche  in  der  Senkrechten  unter  ihr  liegt;  er  läßt  sie 
in  verwickelten  Spiralen  zur  Erde  gelangen.  Galilei  berechnet  nach 
den  einfachen  Annahmen  seiner  Fallgesetze  für  denselben  Fall  nur 
eine  Zeit  von  wenig  mehr  als  drei  Stunden;  auch  diese  kürzere  Fall- 
zeit müßte  nach  der  Denkweise  des  Gegners  eine  starke  westliche 
Abweichung  der  fallenden  Kugel  bewirken;  ein  solches  Zurückbleiben 
erwartet  auch  Galüei,  wenn  der  Ort,  von  dem  die  Kugel  kommt, 
an  der  24  stündigen  Bewegung  der  Erde  keinen  Anteil  hat ;  bewegt 
er  sich  dagegen  mit  der  Erde,  wie  dies  der  Voraussetzung  der 
Berechnung  entspricht,  so  nmß  der  fallende  Körper  vielmehr  dem 
Fußpunkt  der  Senki-echten  ostwärts  vorauseilen,  da  er  mit  der 
Geschwindigkeit  der  höheren  Kreise  der  Luft  die  Erde  treffen  würde. 
Auch  hier  hat  Galilei  es  seinen  Nachfolgern  überlassen,  aus  der 
klaren  Folgerung  die  Aufforderung  zum  entscheidenden  Versuch  zu 
entnehmen. 


—     103     — 

Nicht  ganz  so  glücklich,  aber  dennoch  bahnbrechend,  ist  seine 
Erläuterung  einem  EimA^rf  gegenüber,  auf  den  die  alten  Philosophen 
besonderes  Gewicht  gelegt  hatten,  Sie  kannten  die  Schleuderkraft 
des  rasch  gedrehten  Rades  und  der  rasch  geschwungenen  beschwerten 
Schnur.  Sie  sahen  diese  Kraft  mit  der  Geschwindigkeit  der  Kreis- 
bewegung wachsen  —  so,  schlössen  sie,  müssen  bei  einer  Geschwindig- 
keit, wie  sie  für  die  Erdrotation  anzunehmen  wäre,  mit  ungeheurer 
Gewalt  die  Körper  der  Erdoberfläche,  Menschen,  Tiere,  Gebäude 
ins  Weltall  geschleudert  werden.  Daß  dies  nicht  geschieht,  schien 
ihnen  ein  ausreichender  Beweis  gegen  jede  Bewegung  der  Erde. 

Scherzend  verbessert  Galilei  zugunsten  der  Gegner  die  Form 
ihres  Einwurf s^;  sie  reden,  als  komme  es  darauf  an,  eine  Bewegung 
zu  widerlegen,  die  plötzlich,  etwa  zur  Zeit  des  ersten,  der  sie  behauptet, 
ihren  Anfang  genommen  hätte,  denn  eine  von  Anbeginn  bewegte 
Erde  würde  nach  ihrer  Schlußweise  weder  die  Aufführung  von 
Gebäuden,  noch  die  Entstehung  von  Menschen  und  Tieren  dulden. 
Galilei  unternimmt  zum  erstenmal,  die  Verhältnisse  zu  bestimmen, 
unter  denen  infolge  rascher  Ki-eisbewegung  Teile  der  Peripherie  sich 
von  dem  geschwungenen  Körper  lösen  müssen;  zum  erstenmal  ist 
hier  von  einem  Bestreben  der  kreisförmig  bewegten  Körper,  in  der 
Tangente  zu  entweichen,  die  Rede.  Dies  Bestreben  äußert  sich, 
solange  der  Körper  in  der  Kreisbahn  bleibt,  als  Druck  gegen  die 
Peripherie;  wd  die  Verbindung  aufgehoben,  so  wiü'de  Entfernung 
in  gerader  Linie  stattfinden,  wenn  keine  andere  Kraft  den  Körper 
wieder  zur  Peripherie  zurückführte.  Dies  letztere  müßte  an  der 
bewegten  Erde  früher  oder  später  durch  das  Gewicht  des  fort- 
geschleuderten Körpers  bewirkt  w^erden.  Eine  Abschleuderung  könnte 
daher  nur  dann  stattfinden,  wenn  die  Geschwindigkeit  in  der  Tangente 
die  des  Falls  überträfe;  aber  je  größer  der  Kreis,  um  so  mehr  müßte 
die  Geschwindigkeit  in  der  Tangente  überwiegen,  denn  je  größer  der 
Kreis,  um  so  langsamer  entfernt  sich  die  Tangente  von  der  Peripherie, 
um  so  kleiner  ist  also  der  FaUraum,  durch  den  der  Körper  zur  Peri- 
pherie zurückkehrt.  Es  müßte  also,  damit  ein  Körper  von  der  Erde 
losgerissen  würde,  die  Zeit,  in  der  er  sich  durch  Tangentialbewegung 
mehr  als  tausend  Ellen  vom  Berührungspunkt  entfernt,  nicht  aus- 
reichen, um  ihn  der  Erde  einen  Finger  breit  zu  nähern.    Ein  solches 


1  Ed.  Naz.  VII  p.  215f. 


—     104     — 

Verhältnis  findet  aber  nicht  statt.  Galilei  beweist  allgemein,  daß  sich 
vom  Zentrum  an  die  Tangente  immer  eine  Sekante  der  Ai't  ziehen 
läßt,  daß  der  Abschnitt  der  Sekante  zwischen  Tangente  und  Peri- 
pherie in  jedem  beliebigen  Verhältnis  kleiner  gemacht  werden  kann, 
als  das  Stück  der  Tangente  zwischen  dem  Berührungspunkt  und  der 
Sekante.  Er  scheint  so  jedes  Abschleudern  von  Teilen,  die  zum 
Zentrum  gezogen  werden,  widerlegen  zu  wollen.  ^ 

Daß  die  alten  Denker  zu  den  ungeheuerHchsten  Annahmen  über 
die  Schleuderkraft  der  rotierenden  Erde  gelangen,  liegt  nur  in  der 
irrigen  Vorstellung,  die  eine  Zunahme  dieser  Schleuderkraft  schlecht- 
hin von  der  Geschwindigkeit  der  Ki-eisbewegung  abhängen  läßt. 
Galilei  zeigt,  daß  diese  Annahme  nur  für  die  Bewegung  im  gleichen 
Kreis  oder  in  Kreisen  von  gleichem  Durchmesser  Gültigkeit  hat; 
haben  die  Kreisbahnen  verschiedene  Halbmesser,  so  ist  keineswegs 
das  Bestreben,  in  der  Tangente  zu  entweichen,  bei  gleicher  Anfangs- 
geschwindigkeit das  gleiche,  bei  größeren  größer.  Denn  je  kleiner 
der  Kreis,  um  so  mehr  entfernt  sich  in  gleichen  Zeiten  die  Tangente 
von  der  Peripherie,  um  so  größer  muß  daher  die  Kraft  sein,  die  den 
Körper  hindert,  in  der  Tangente  zu  entweichen;  je  größer  der  Kreis, 
um  so  schwächer,  sagt  Galilei,  kann  der  Zügel  oder  Leim  sein,  der 
den  Körper  an  die  Peripherie  zu  fesseln  vermag;  es  nimmt  also  bei 
gleicher  Geschwindigkeit  die  Schleuderki-aft  ab,  wie  das  Kad  an 
Größe  zunimmt,  und  so  könnte  es  vielleicht  nötig  sein,  daß  man, 
um  dem  größeren  Rad  die  gleiche  Schleuderkraft  zu  erteilen  wie 
dem  kleinen,  seine  Geschwindigkeit  im  gleichen  Verhältnis  vergrößern 
müßte,  wie  den  Durchmesser;  das  aber  würde  geschehen,  wenn  das 
kleine  und  das  große  Rad  ihre  Umdrehung  in  gleichen  Zeiten  voll- 
endeten, und  so  könnte  man  glauben,  daß  die  Umdi-ehung  der  Erde 
die  Steine  nicht  mehr  noch  weniger  abzuschleudern  vermögen  würde, 
als  irgendwelches  kleine  Rad,  das  sich  in  24  Stunden  einmal  umdreht. 

Gahlei  läßt  seinen  Sagredo  die  kühne  Vermutung  hinstellen^, 
ohne  bei  dieser  Gelegenheit  prüfen  zu  wollen,  ob  in  der  Tat  das  Ver- 
hältnis der  Schleuderkräfte  durch  den  Vergleich  getroffen  sei.  Salviatis 
Worte  deuten  den  Zweifel  an^.    In  der  Tat  trifft  die  Rechnung  nicht 


^  Galilei  zeigt  die  Ursache  des  Irrtums,  aber  er  irrt  dabei  selbst. 
2  Ed.  Naz.  VII  p.  224f. 

^  Sagredo  läßt  die  Zentrifugalkräfte  bei  gleichem  Halbmesser  im  gleichen 
Verhältnis  wie  die  Geschwindigkeiten  wachsen. 


—     105     — 

zu;  aber  den  Fehler  zu  erkennen  und  zu  berichtigen,  genügte  eine 
konsequente  Durchführung  der  klaren  geometrischen  Methode,  durch 
die  Galilei  eine  neue  Lehre  von  der  Tangentialkraft  in  den  Dialogen 
begründet  hat.  Der  Irrtum  berührt  die  Kraft  des  Beweises  nicht, 
durch  den  eins  der  wertvollsten  Argumente  der  alten  Physik  gegen 
die  Bewegung  der  Erde  für  immer  beseitigt  war. 

Mit  nicht  geringerer  Gründlichkeit  prüft  Galilei  die  zahlreichen 
Einfälle,  logische  Deduktionen  wie  vermeintliche  Erfahrungstatsachen, 
die  einzelne  Gelehrte  seiner  Zeit  den  von  alters  her  überlieferten 
Gründen  für  die  Ruhe  der  Erde  hinzugefügt  hatten.  So  verschmäht 
er  nicht,  dem  Manne  zu  antworten,  der  vergebens  erwartet,  aus  der 
Tiefe  eines  Brunnens  die  Sterne  in  raschem  Fluge  über  sich  dahin- 
eilen zu  sehen,  und  stattdessen  stundenlang  denselben  Stern  über 
seinem  Haupte  sieht.  So  geht  er  mit  dem  Jesuiten  Scheiner  in  langer 
Untersuchung  auf  die  Frage  ein,  was  und  welcher  Art  das  Prinzip 
der  Erdbewegung  sein  könne.  ^  Nach  der  Weise  der  Schule  bewies  der 
gelehrte  Jesuit,  daß  das  Prinzip  der  Bewegung  weder  ein  äußeres  noch 
ein  inneres  sein  könne;  ist  aber  beides  unmöglich,  so  kann  eine  Erd- 
bewegung nicht  sein.  Galileis  Entgegnung  will  keinen  Zweifel  darüber 
lassen,  daß  es  Fragen  gibt,  auf  die  dem  Copernicaner  die  Antwort 
fehlt,  und  die  der  Gegner  nur  darum  so  leicht  erledigt,  weil  ihn  die 
Schule  gelehrt  hat,  Worte  für  Begriffe  zu  nehmen.  Er  weiß  nicht, 
ob  es  ein  inneres  oder  äußeres  Prinzip  ist,  das  die  Erde  bewegt,  aber 
sein  Nichtwissen  vermag  nicht,  ihr,  was  sie  hat,  zu  nehmen.  Aber 
das  eine  weiß  er:  wenn  man  ihm  sagen  kann,  was  es  ist,  das  den 
übrigen  Himmelskörpern  den  Ursprung  der  Bewegung  gibt,  so  will 
er  sagen,  was  die  Erde  bewegt.  Ja,  mehr  als  das  erkennt  das  Auge 
des  Genius:  man  soll  ihn  nur  belehren,  was  die  Teile  der  Erde  nach 
unten  gehen  läßt,  so  wird  auch  das  ihm  genügen,  um  zu  sagen,  was  die 
Erde  bewegt. 

Der  Peripatetiker  zweifelt  nicht:  „ein  jeder  weiß,  es  ist  die 
Schwere,  die  die  Körper  fallen  macht." 

„Ihr  irrt",  entgegnet  Salviati,  „Ihr  hättet  sagen  sollen:  ein  jeder 


^  „Wie  ist  ein  Prinzip  der  Bewegung  möglich",  meint  Scheiner,  „das 
dem  Allerverschiedensten,  den  vier  Elementen,  dem  Toten  wie  dem  Lebenden 
gemeinsam  wäre?"  „Wenn  das  nicht  möglich  ist  —  entgegnet  Sagredo  —  so 
kann  eine  lebende  Katze  nicht  aus  dem  Fenster  fallen,  weil  die  tote  aus  dem 
Fenster  fällt." 


—     106     — 

weiß,  daß  man  es  Schwere  nennt;  aber  nicht  nach  dem  Namen  frage 
ich,  sondern  nach  dem  Wesen  der  Sache,  und  von  diesem  Wesen 
^^-ißt  Ihr  nicht  mehr,  als  von  dem  Wesen  dessen,  was  die  Sterne 
bewegt.^" 

C.   Jährliche  Bewegung. 

Der  dritte  Tag  der  Dialoge^  hat  die  jährliche  Bewegung  der  Erde 
zum  Gegenstand.  Wer  nicht  zufrieden  ist,  in  dem  Buche  zu  lesen, 
was  es  geben  will,  nuiß  hier  zumeist  Gelegenheit  zum  Tadel  finden; 
hier  scheint  der  Ort,  an  dem  von  Keplers  neuer  Astronomie  zu  reden 
war,  von  dem  entscheidenden  Beweis,  daß  es  unmöglich  sei,  durch 
kreisförmige  Bahnen  und  gleichförmige  Bewegungen  die  Erscheinungen 
zu  erklären,  oder,  wenn  Galilei  diese  Erkenntnis  seines  großen  Genossen 
nicht  als  hinlänghch  begründet  ansah,  so  hätte  man  doch  an  dieser 
Stelle  zum  mindesten  einen  Hinweis  auf  die  ungelösten  Schwierig- 
keiten der  copernicanischen  Lehre  als  auf  die  Aufgabe  einer  künftigen, 
fortschreitenden  Wissenschaft  erwarten  sollen. 

Oft  genug  findet  Galilei  in  den  Dialogen  Gelegenheit,  den  ab- 
geschlossenen Formeln  der  Schule  gegenüber  die  wahre  Wissenschaft 
als  eine  immer  werdende,  als  das  Werk  der  aufeinander  folgenden 
Generationen  darzustellen;  aber  hier,  wo  die  Veranlassung  zu  solchen 
Betrachtungen  unmittelbar  gegeben  war,  erscheint  das  Unvollendete 
als  ein  völlig  abgeschlossenes  Werk.  Nicht  einmal  von  den  In- 
konsequenzen, zu  denen  Copernicus  sich  genötigt  sah,  ist  die  Rede. 
Niemand  könnte  diesen  Dialogen  entnehmen,  daß  die  einfache-  Kreis- 
bahn nicht  genügt,  die  wirklichen  Bewegungen  der  Planeten  und  des 
Mondes  zu  deuten. 

Man  hat  das  auffallend,  selbst  tadelnswert  gefunden,  aber  man 
mag  die  Tatsache  beurteilen,  wie  man  vnll,  ohne  Zweifel  entsprach 
sie  einer  bestimmten  Absicht  des  Verfassers:  nicht  die  Ausführung 
des  copernicanischen  Systems,  sondern  die  Beweise  für  die  jährliche 
Bewegung  der  Erde  um  die  Sonne  und  die  Widerlegung  der  Gegen- 
gründe bilden  den  Gegenstand  des  dritten  Dialogs.  Es  handelte 
sich  liier  um  den  Teil  der  neuen  Lehre,  der  zumeist  der  Auffassung 


I 


^  Hier  waren  vom  Verf.  Ausführungen  über  den  Wert  dieses  ersten 
Teils,  das  Dauernde  in  ihm,  die  Anschaulichkeit  der  Beweise  und  wie  weit 
diese  für  uns  noch  heute  aufklärend  sind,  geplant.  D.  Herausgeber. 

2  Ed.  Naz.  VEI  p.  299-441. 


—     107     — 

der  Laien  Schwierigkeiten  bot;  in  vollem  Maße  macht  sich  denn  auch 
bei  diesem  Teil  die  seltene  Gabe  des  Meisters,  zu  verdeutlichen  und 
zu  lehren,  geltend.  Er  geht  davon  aus,  daß  eine  Bewegung  der  fünf 
Planeten  Merkur,  Venus,  Mars,  Jupiter  und  Saturn  um  die  Erde 
nicht  anzunehmen,  daß  vielmehr  notwendig  die  Sonne  in  den  Mttel- 
punkt  ihrer  Bahnen  zu  setzen  sei.  Für  Merkur  und  Venus  genügt 
zum  Beweise,  daß  ihre  Entfernung  von  der  Sonne  immer  nur  eine 
geringe  ist  und  daß  sie,  von  der  Erde  gesehen,  immer  nur  auf  der- 
selben Seite  wie  die  Sonne  stehen,  daß  sie  größer  erscheinen,  wenn 
sie  rückläufig,  als  wenn  sie  rechtläufig  sind.  Die  übrigen  erscheinen 
sowohl  in  der  Opposition  wie  in  der  Konjunktion,  aber  daß  sie  in 
der  Opposition  der  Erde  näher,  in  der  Konjunktion  ihr  ferner  stehn, 
geht  aus  der  Verschiedenheit  der  scheinbaren  Größe  in  diesen  ver- 
schiedenen Stellungen  hervor;  so  kann  die  Erde  nicht  im  Mittel- 
punkt ihrer  Bahnen  stehen;  daß  aber  der  Unterschied  der  Erdabstände 
in  den  entgegengesetzten  Stellungen  so  viel  betrüge  wie  der  doppelte 
Abstand  der  Erde  von  der  Sonne,  diese  Forderung  der  copernicanischen 
Annahmen,  konnte  durch  die  Beobachtungen  vor  der  Erfindung  des 
Fernrohrs  nicht  als  "Wahrheit  erwiesen  werden. 

Galileis  Entdeckungen  rechtfertigen  die  kühne  Zuversicht  des 
großen  Mannes,  den  der  scheinbare  Widerspruch  der  Beobachtung 
nicht  irremachte.  Sie  zeigen,  daß  durchs  Fernrohr  beobachtet,  der 
scheinbare  Größenwechsel  der  Berechnung  entspricht,  sie  zeigen  die 
Phasen  der  Venus,  die  gefordert  waren,  wenn  die  Planeten  nicht  im 
eigenen  Licht  leuchteten,  sie  geben  endlich  Aufschluß  über  die 
gesonderte  Stellung,  die  nach  Copernicus  dem  Mond  allein  als  Tra- 
banten der  Erde  zugewiesen  war.  Demi  wie  nach  Copernicus  der 
Mond  nicht  nur  die  Erde  umkreisen  sondern  im  Jahreslaufe  an  sie 
gefesselt  erscheinen  sollte,  so  sah  Galilei  in  den  vier  Mediceischen 
Sternen  vier  Monde  ihre  Bahnen  um  den  Jupiter  und  mit  ihm  um 
die  Sonne  vollführen. 

So  sind  durch  die  Hilfe  des  Fernrohrs,  wie  Galilei  sagt,  die  drei 
ersten  Saiten,  die  anfangs  zu  dissonieren  schienen,  mit  dem  coperni- 
canischen System  in  ^^^Inderbarer  Weise  in  Einklang  gebracht. 

Ein  Zweifel  über  die  Stellung  der  Sonne  im  Mttelpunkt  der 
fünf  Planetenbahnen  ist  demnach  nicht  zulässig;  es  bleibt  nur  zu 
entscheiden,  ob  die  scheinbare  jährhche  Bewegung  der  Sonne  in 
Wirklichkeit  der  Erde  oder  der  Sonne  zukommt.   Die  Wahrscheinlich- 


—     108     — 

keit  spricht  zunächst  dafür,  daß  das  Zentrum  jener  fünf  Bahnen 
und  nicht  ein  Punkt  außerhalb  derselben  der  ruhende  sei.  Die  Erde 
steht  zwischen  der  Venus  mit  ihrem  neunmonatlichen  und  dem  Mars 
mit  dem  zweijährigen  Umlaufe,  es  ist  glaublicher,  daß  sie  selbst, 
als  daß  das  Zentrum  des  Planetensystems  in  jährlichem  Umlauf  sich 
bewegt.  Ist  aber  die  jährliche  Bewegung  der  Erde  zugeteilt,  so  folgt 
die  tägliche  von  selbst,  denn  ohne  die  Umdrehung  um  die  Achse 
würde  das  Erdenjahr  nur  in  einen  Tag  und  eine  jS^acht  von  je  sechs 
Monaten  zerfallen.  Mt  diesen  kurzen  Andeutungen  und  ohne  den 
I^amen  zu  nennen,  fertigt  Galilei  die  Hypothese  Tycho  Brahes  ab. 

Es  ist  seine  weitere  Aufgabe,  wie  die  tägliche,  nun  auch  die 
jährliche  Bewegung  an  allem  nachzuweisen,  was  an  ihr  nicht  teil- 
nimmt. Zunächst  an  der  Bewegung  der  Planeten.  Es  ist  der  Glanz- 
punkt der  copernicauischen  Lehre,  von  dem  er  hier  zu  reden  hat; 
der  Teil,  „der  allein  genügen  könnte,  jeden,  der  nicht  mehr  als  trotzig 
und  verstockt  ist,  zur  Anerkennung  alles  übrigen  zu  bewegen".  Denn 
alle  jene  verwickelten  Erscheinungen  der  Rückläufe  und  Stillstände, 
der  seltsam  schleifenförmigen  Bildungen  der  Planetenbahnen  —  das 
große  Problem  aller  Astronomie  —  erklärt  sich  durch  die  jährliche 
Bewegung  der  Erde.  „Nichts  braucht  an  der  dreißig jähi'igen  Be- 
wegung des  Saturn,  an  der  zwölfjährigen  des  Jupiter,  der  zweijährigen 
des  Mars,  der  neunmonathchen  der  Venus  und  der  etwa  achtzig- 
tägigen des  Merkur  geändert  zu  werden,  um  durch  diese  eine  Bewegung 
der  Erde  zwischen  den  Bahnen  des  Mars  und  der  Venus,  das  heißt: 
durch  die  jährliche  Bewegung  des  ii'dischen  Beobachters  die  schein- 
baren Ungleichheiten  in  den  Bewegungen  aller  fünf  Planeten  hervor- 
zurufen. Je  ferner  und  langsamer  der  Planet,  um  so  häufiger  holt 
ihn  die  Erde  ein,  um  so  öfter  muß  der  Schein  des  Rücklaufs  sich 
wiederholen,  also  häufiger  behn  Saturn  als  beim  Jupiter,  häufiger 
beim  Jupiter  als  beün  Mars  —  genau  so  nimmt  in  Wirklichkeit  die 
Zahl  der  Rückläufe  und  Stillstände  mit  der  Entfernung  von  der 
Erde  zu." 

So  treten  an  die  Stelle  aller  Ver\\icklungen  und  Ungenauigkeiten 
in  den  scheinbaren  Bahnen  der  fünf  Planeten  gleichförmige  und 
regelmäßige  Bewegungen,  wenn  man  die  jährliche  Bewegung  der 
Erde  zu  Hilfe  nimmt. 

Es  ist  der  eigentliche  Kern  der  copernicanischen  Lehre,  der 
Hauptinhalt  des  großen  Werks  „Über  die  Bewegungen  der  Hmimels- 


—     109     — 

körper",  den  Galilei  hier  in  der  Kürze  und  klar  verbildlicht  zur  Dar- 
stellung bringt. 

Ein  weiteres  Zeugnis  für  die  Bewegung  der  Erde  hat  ihm  selbst 
die  Sonne  enthüllt.  Galilei  hatte  seinen  früheren  Beobachtungen 
der  Sonnenflecken^  die  Vorstellung  entnommen,  daß  die  Achse  der 
Sonnenrotation  senkrecht  zur  Ekliptik  stehe,  daß  demnach  die  Be- 
wegung der  Flecken,  soweit  sie  durch  diese  Drehung  bedingt  war, 
dem  irdischen  Beobachter  jederzeit  als  eine  geradlinige  erscheinen 
müsse;  alle  Abweichungen  schrieb  er  auf  Rechnung  der  unregel- 
mäßigen Bewegungen,  die  den  Flecken  eigentümlich  waren. 

Galilei  erzählt^,  er  habe  diese  Forschungen  als  abgeschlossen 
betrachtet  —  da  habe  bei  einem  Sommeraufenthalt  in  Salviatis  Villa 
deUe  Selve  der  Wunsch  des  Freundes  zu  neuen  Beobachtungen  die 
Veranlassung  gegeben.  Ein  ungewöhnlicher,  großer  Sonnenfleck 
wurde  auf  seiner  ganzen  Bahn  verfolgt,  täglich,  wenn  die  Sonne  im 
Meridian  stand,  sein  Ort  verzeichnet;  man  erkannte,  daß  die  Bahn 
nicht  geradlinig,  sondern  etwas  gekiiimmt  war  —  weitere  Beob- 
achtungen bestätigten  die  Vermutung,  die  sich  alsbald  an  diese  erste 
wichtige  Wahrnehmung  knüpfte:  die  Achse  der  Sonnenrotation  steht 
nicht  senki-echt  zur  Ekliptik,  sondern  ist  gegen  diese  Senkrechte 
geneigt.  Entsprach  die  Bewegung  der  Sonne  der  ursprünglichen 
Annahme,  so  war  ein  Einfluß  der  jährlichen  Erdbewegung  auf  die 
Erscheinungen  an  der  Sonnenoberfläche  nicht  zu  erwarten;  war 
dagegen  die  Achse  der  Sonnenrotation  gegen  die  Achse  der  Ekhptik 
geneigt,  so  ergab  sich  aus  der  jährlichen  Bewegung  ein  regelmäßiger 
Wechsel  der  Erscheinungen,  nur  an  zwei  Tagen  des  Jahres,  in  einem 
Abstand  von  je  sechs  Monaten,  konnten  die  Bahnen  der  Flecken 
als  gerade  Linien  erscheinen;  dies  mußte  eintreten,  wenn  die  Achse 
der  Sonnenrotation  in  die  Ebene  des  Kreises  fiel,  der  für  den  Beob- 
achter die  sichtbare  Sonnenhälfte  begrenzte;  alsdann  mußten  aber 
auch  die  Flecken  das  eine  Mal  von  der  Linken  zur  Rechten  aufsteigen, 
sechs  Monate  später  von  der  Linken  zur  Rechten  absteigen.  Der 
Kreis  aber,  der  die  sichtbare  Sonnenhälfte  begrenzt,  wird  infolge  der 
jährlichen  Bewegung  der  Erde  mit  jedem  Tage  ein  anderer;  hat  also 
die  Rotationsachse  eine  unveränderliche  Lage,  so  muß  ihre  Lage  zu 


1  Vergl.  Bd.  I,  Kap.  13,  S.  438£f. 
-  Ed.  Naz.  VII  p.  374 f. 


—     110     — 

diesem  begrenzenden  Kreis  sich  mit  jedem  Tage  ändern.  Drei  Monate 
nach  jener  ersten  Stellung  fällt  die  Achse  in  eine  Ebene  senkrecht 
zum  begrenzenden  Ki'eis,  also  in  den  Meridian  des  Beobachters; 
auch  diese  Stellung  wiederholt  sich  nach  je  sechs  Monaten,  aber  das 
eine  Mal  ist  der  Nordpol,  das  andre  Mal  der  Südpol  der  Achse  dem 
Beobachter  zugewandt,  und  da  die  Kreise,  in  denen  die  Flecke  sich 
bewegen,  immer  senkrecht  gegen  diese  Achse  sind,  so  erscheinen  in 
beiden  Fällen  die  Bahnen  der  Flecken  gekrümmt,  der  Punkt  des 
Erscheinens  und  der  des  Versch^vdndens  liegen  in  gleicher  Höhe, 
dagegen  muß  die  Erscheinung  in  beiden  Fällen  insofern  verschieden 
sein,  als  die  Krümmung  im  ersten  nach  unten,  im  andern  nach  oben 
gerichtet  erscheint.  Bei  allen  zwischenliegenden  Stellungen  der  Achse 
sind  die  Bahnen  der  Flecken  gekrümmt  und  die  Punkte  des  Er- 
scheinens und  Verschwindens  liegen  nicht  in  gleicher  Höhe:  in  der 
einen  Hälfte  des  Jahres  ist  der  erste,  in  der  zweiten  der  andere  der 
höherliegende.  Die  Krümmung  nüimit  zu,  wenn  die  Achse  von  der 
Ebene  des  begrenzenden  Kreises  aus  sich  der  Ebene  des  Meridians 
nähert  und  erreicht  in  dieser  ihr  Maximum,  um  dann  wieder  abzu- 
nehmen; dagegen  nimmt  von  dieser  Stellung  aus  der  Unterschied  in 
der  Höhe  der  beiden  Endpunkte  zu,  um  sein  Maximum  zu  erreichen, 
wenn  die  Achse  der  Rotation  "bieder  in  die  Ebene  des  begrenzenden 
Kreises  fällt. 

Alle  diese  Erscheinungen,  wde  sie  wahrgenommen  werden  müssen, 
wenn  die  Erde  sich  um  die  Sonne  bewegt  und  die  Achse  der  Sonnen- 
di-ehung  gegen  die  Erdbahn  geneigt  ist,  sind  in  Wirklichkeit  bei 
länger  fortgesetzter  Beobachtung  der  Sonnenflecken  wahrgenommen. 
Diese  Entdeckung  eines  regelmäßigen  Verlaufs  der  Erscheinungen, 
der  sich  in  allen  Einzelheiten  als  notwendige  Folge  der  Erdbewegung 
voraussehen  ließ,  mußte  für  Galilei  die  Bedeutung  eines  starken 
Beweises  für  die  Tatsache  der  Erdbewegung  gewinnen.  „Die  Sonne 
selbst",  sagt  er,  ,,hat  bei  der  Bestätigung  des  großen  Schlusses  nicht 
fehlen,  vielmehr  als  Zeugnis  über  allen  Widerspruch  erhaben,  dafür  mit 
eintreten  wollen."  Schwieriger  als  selbst  die  Deutung  der  Ungleich- 
heit der  Planetenbewegungen  scheint  ihm  der  Knoten  zu  lösen  zu 
sein,  mit  dem  dies  neue  hohe  Wunder  den  menschlichen  Verstand 
nötigt,  die  jährliche  Bewegung  der  Erde  zu  übertragen.  Galilei  über- 
sah dabei  eine  naheliegende  Entgegnung  nicht.  Auch  wenn  die  Sonne 
sich  bewegte,  die  Erde  ruhte,  waren  diese  Erscheinungen  zu  erklären. 


—    111    — 

man  hatte  nur  der  Sonne  zu  den  übrigen  Bewegungen  eine  weitere 
zu  geben;  so  hatte  Scheiner,  der  sorgfältigste  Beobachter  der  Sonnen- 
flecken, der  dieselben  Tatsachen  verfolgt  und  aufs  genaueste  ver- 
zeichnet hatte,  den  jährlichen  Wechsel  der  Erscheinungen  durch  eine 
jährliche  Bewegung  der  Rotationsachse  um  die  Achse  der  Ekliptik 
gedeutet.  Galilei  führte  im  Sinne  der  Gegner  dieselbe  Erklärungs- 
weise aus.  Freilich  mußten  diese  Gegner  dabei  anerkennen,  was  sie 
zumeist  als  Einwurf  gegen  die  copernicanische  Lehre  benutzten: 
daß  demselben  Körper  gleichzeitig  mehrere  Bewegungen  zukommen 
konnten;  um  die  di-ei  Bewegungen  des  Copernicus  zu  beseitigen, 
nmßten  sie  nun  der  Sonne  deren  vier  zuteilen.  Allerdings  hatte 
Galilei  schon  in  früheren  Werken  gezeigt,  daß,  was  Copernicus  die 
dritte  Bewegung  der  Erde  genannt  hatte,  in  Wirklichkeit  keine 
Bewegung  sei,  er  hatte  gezeigt,  daß  ein  im  Kreis  gedrehter  Körper 
während  der  Umdrehung  die  Richtung  seiner  Achse  bewahrt,  die 
deshalb  immer  anderen  Punkten  zugewandt  erscheint  und  auf  diese 
Weise  den  Schein  einer  eigenen  Bewegung  hervorruft.  Dieselbe 
Erläuterung  mußte  er  für  die  Sonne  gelten  lassen;  auch  hier  war  die 
eigene  Bewegung  der  Achse  um  die  Achse  der  Ekliptik  auf  eine  Er- 
haltung der  Achsenstellung  zurückzuführen.  Aber  aus  dieser  Auf- 
fassung gehen  für  die  Sonne  nur  um  so  größere  Schwierigkeiten 
hervor.^  Denn  für  die  Gegner  des  Copernicus  hat  die  Sonne  nicht 
nur  in  der  Zeit  eines  Jahres  die  Ekliptik  zu  durchlaufen,  sondern 
überdies  in  je  24  Stunden  sich  in  Ej-eisen  und  Spiralwindungen 
parallel  dem  Äquator  zu  bewegen;  bleibt  nun  bei  der  Bewegung 
der  Sonne  die  Achsenstellung  unverändert,  so  ist  kein  Grund  zu 
erkennen,  weshalb  die  Periode  der  daraus  hervorgehenden  schein- 
baren Drehung  der  Achse  eher  in  Abhängigkeit  von  der  Bewegung 
in  der  Ekliptik  ein  Jahr  umfassen  sollte,  als  bedingt  durch  die  vier- 
undzwanzigstündige  Bewegung  parallel  dem  Äquator  einen  Tag. 

So  müssen  auf  der  einen  Seite  die  Anhänger  der  alten  Lehre 
eine  vierfache  Bewegung  der  Sonne  anerkennen,  bei  klarerer  physi- 
kalischer Anschauung  ein  ungelöstes  Rätsel;  auf  der  andern  ver- 
schwindet für  den  Anhänger  des  Copernicus  alle  Verwicklung  der 
Erscheinungen,  wenn  man,  ohne  das  geringste  an  den  anderweitig 

^  Ich  glaube,  daß  meine  Ausführungen  treffen,  was  Galilei  durch  seine, 
wie  er  selbst  sagt,  etwas  dunkeln  Andeutungen  ausdrücken  will.  Vergl. 
Scheiner,  Riccioli,  Delambre. 


—     112     — 

geforderten  Bewegungen  der  Erde  zu  ändern,  der  Sonne  nur  die  eine, 
überaus  einfache  zuweist:  die  Drehung  um  eine  unveränderlich  gegen 
die  Erdbahn  geneigte  Achse. 

Aber  dem  außerordentlichen  Gewinn  an  Einfachheit  und  Klar- 
heit der  Vorstellungen  stand  ein  Bedenken  gegenüber,  das  für  be- 
schränkte Geister  leicht  den  Aufschhiß  über  die  Ungleichheit  der 
Planeten  und  die  vierfache  Sonnenbewegung  aufwog.  Es  war  die 
Vorstellung  einer  unermeßlichen  Entfernung  des  Fixsternhinimels, 
einer  nie  geahnten  Größe  der  Welt,  die  als  unvermeidliche  Konse- 
quenz der  copernicanischen  Lehre  für  viele  ihre  Unmöglichkeit  klar 
zu  erweisen  schien.  Zwar  hatte  als  Gegenstand  des  philosophischen 
Streits  die  Frage,  ob  die  Welt  endlich  oder  unendlich  sei,  die  Denker 
alter  und  neuer  Zeit  beschäftigt,  aber  die  wahrnehmbaren  Himmels- 
körper dachte  man  sich  allgemein  in  verhältnismäßig  geringen  Ab- 
ständen und  in  symmetrischer  Verteilung  die  Erde  umgebend,  wenn- 
gleich, soweit  bestimmte  Messungen  versucht  waren,  man  Zahlen 
gefunden  hatte,  die  bei  aller  Abweichung  von  den  wirklichen  Ent- 
fernungen als  faßbare  Größen  nicht  bezeichnet  werden  konnten. 

Vor  allem  dachte  man  sich  die  Sphären  der  Planeten  in  symme- 
trischer Folge  die  Erde  umgebend,  über  der  Sphäre  des  Saturn  die 
Sphäre  der  Fixsterne,  und  diese  von  ersterer  etwa  so  weit  entfernt, 
wie  nach  innen  die  Sphäre  des  Jupiter. 

Eine  solche  Symmetrie  war  in  dem  System  des  Copernicus  nicht 
zu  erkennen.  Mit  der  Entfernung  der  Planeten  sah  man  die  schein- 
baren Veränderungen  in  ihrer  Bewegung,  die  von  der  Bewegung  der 
Erde  herrühren,  wie  diese  Annahme  forderte,  kleiner  und  kleiner 
werden;  bei  den  Fixsternen  waren  solche  Veränderungen  nicht  mehr 
wahrzunehmen;  der  ganze  jährliche  Umlauf  der  Erde  und  der  dadurch 
bedingte  außerordentliche  Wechsel  in  dem  Abstand  des  ü'dischen 
Beobachters  von  den  Sternen  war  durch  keinerlei  Änderung  in  den 
Abständen  der  Fixsterne  zu  erkennen;  zwar  dachte  man  sich  den 
Halbmesser  dieser  jährlichen  Bahn  beträchthch  geringer,  als  er  in 
Wirklichkeit  ist;  man  berechnete  den  Abstand  der  Erde  von  der 
Sonne  nach  den  älteren  Messungen  zu  3'  (Aristarch)  und  selbst  nach 
den  besten  Bestimmungen  nur  zu  2'  50"  (Ptolemäus).  Aber  die 
Forderung,  eine  Bahn  von  solchem  Halbmesser  für  die  Entfernung 
der  Sterne  als  verschwindend,  als  Punkt  zu  denken,  schien  darum 
nicht  weniger  unerhört,  die  unfaßbare  Höhe  der  Fixsternsphäre  über 


—     113     — 

der  Sphäre  dej^  Saturn,  die  sich  daraus  ergab,  vernichtete  die  ver- 
meintliche Symmetrie  des  Weltbaus, 

Jene  gleichen  Abstände  der  Planetensphären  hatte  man  dem 
Bedürfnis  der  Planetenbewegung  entsprechend  gedacht  —  die  Mög- 
lichkeit, solche  Zwecke  zu  erdenken,  hatte  dazu  geführt,  sie  überall 
vorauszusetzen  und  selbst  die  Anerkennung  der  Tatsachen  davon 
abhängig  zu  machen,  ob  man  imstande  war,  ihren  Zweck  zu  erdenken. 
So  redete  man  von  dem  ungeheuren  Raum  zwischen  den  Sphären 
des  Saturn  und  des  Fixsternhinmiels  als  von  einer  Absurdität,  da 
sich  kein  Zweck  eines  solchen  x\bstandes  erfinden  lasse. 

An  die  Vorstellung  von  der  Erde  und  dem  Menschen  im  Mittel- 
punkt der  Welt  knüpften  sich  dann  weitergehend  die  Ansichten  über 
die  Beziehungen  der  Hinmieiskörper  zm*  Erde.  Der  ?sutzen  des 
Menschen  erschien  als  Zweck  und  Ausgangspunkt  für  alle  räumliche 
Anordnung  des  Weltalls.  Von  diesem  Standpunkte  aus  war  man 
nur  konsequent,  wenn  man  die  Copernicaner  fragte:  was  die  unermeß- 
liche Lücke  bezwecken,  was  die  Sterne  in  solcher  Höhe  für  die  Erde 
bedeuten,  wie  sie  zu  \virken  imstande  sein  sollten. 

Galilei  sucht  zunächst  die  Vorstellungen  über  die  Größe  dieser 
Entfernungen  auf  das  nötige  Maß  zurückzuf ühi-en.  ^  Tycho  Brahe 
hatte  die  Zweifelnden  durch  die  Berechnung  erschreckt,  daß  nach 
der  Annahme  des  Copernicus  der  körperliche  Inhalt  mancher  Fix- 
sterne größer  sein  müßte,  als  die  Sphäre  der  Erdbahn,  bei  andern 
sogar  größer  als  die  Sphäre  der  Saturnsbahn.  Galilei  zeigt  den  Ur- 
sprung seines  Irrtums.  Er  hatte  bei  der  Bestimmung  der  scheinbaren 
Größe  der  Sterne  keine  Rücksicht  auf  die  Vergrößerung  durch 
Irradiation  genommen  und  so  außerordentlich  übertriebene  Zahlen 
erhalten.  Galilei  zeigt,  wie  man  auch  ohne  Hilfe  des  Fernrohrs  dazu 
gelangen  kann,  diese  durch  die  ?satur  des  menschüchen  Sehens 
bedingte  Vergrößerung  zu  beseitigen;  auf  diese  Weise  hat  er  den 
Durchmesser  eines  Sterns  erster  Größe  zu  fünf  Bogensekunden 
bestinunt.  Dem  Stern  sechster  Größe  gibt  er  einen  Durchmesser  von 
Ve  Sekunden;  dann  braucht  er  seine  \\irkliche  Größe  nur  der  der 
Sonne  gleichzusetzen,  um  (auf  Grund  der  damaligen  Bestunmungen 
von  Größen  und  Entfernungen)  zu  berechnen,  daß  in  einem  Abstand 
von  2160  Halbmessern   der  großen   Erdbahn   der   Stern  erscheinen 


1  Ed.  Naz.  ^^I  p.  386  f. 

Wohlwill,  Galilei.    Bd.  II. 


—     114     — 

müßte,  wie  er  in  Wirklichkeit  erscheint.  In  dieser  Entfernung  aber 
würde  für  den  Fixstern  der  Durchmesser  der  großen  Erdbahn  nicht 
mehr  bedeuten,  als  ein  Abstand  gleich  dem  Halbmesser  der  Erde  für 
die  Entfernung  der  Sonne. 

Aber  Galilei  sieht  kein  Hindernis  darin,  noch  ungleich  größere 
Entfernungen  für  die  Fixsterne  anzunehmen.  Er  geißelt  die  ^Mischung 
von  Beschränktheit  und  Vermessenheit,  die  dazu  fühlt,  Entfernungen 
und  Größen  als  allzugroß  und  undenklich  zu  verwerfen.  „Ich  frage 
dich,  törichter  Mensch",  ruft  er  aus^,  „begreifst  du  in  deiner  Ein- 
bildungskraft die  Größe  des  Weltalls,  die  du  zu  groß  nennst?  Wenn 
du  sie  begreifst  —  glaubst  du,  daß  deine  Fassungskraft  weiter 
reicht  als  die  göttliche  Macht?  Willst  du  behaupten,  daß  du 
Größeres  denkst,  als  Gott  zu  erschaffen  vermag?  Aber  wenn  du  sie 
nicht  begreifst,  wie  wiUst  du  über  Dinge  urteilen,  die  du  nicht  gefaßt 
hast?"  —  Den  Irrtum  dieser  Urteilsweise  fülirt  Galilei  darauf  zurück, 
daß  man  die  Ausdrücke  absolut  gebrauche,  die  nur  relativ  zu  nehmen 
sind;  nichts  kann  groß  oder  klein  genannt  werden,  als  im  Vergleich 
mit  etwas  anderen  derselben  Gattung,  so  sei  die  Sphäre  der  Fix- 
sterne etwa  mit  der  des  Mondes,  des  Jupiter  oder  Saturn  zu  ver- 
gleichen; wolle  man  sie  in  diesem  Sinne  zu  groß  nennen  und  darum 
ihre  Existenz  in  dieser  Größe  leugnen,  so  müsse  man  ebenso  zu  groß 
nennen  und  verleugnen,  was  in  ähnlichem  Verhältnis  Dinge  der 
eigenen  Gattung  an  Größe  übertrifft,  es  müßten  danach  Elefanten 
und  Walfische  als  Geburten  der  Phantasie  betrachtet  werden^  wenn 
man  sie  mit  Ameisen  und  Stichlingen  vergleicht.  Beobachtet  man 
andrerseits,  wie  große  Teile  des  Weltraums  kleinen  Teilen,  wie  den 
Planeten,  zum  Behälter  und  Aufenthaltsort  angewiesen  sind,  und 
denkt  man,  daß  jedem  Stern  nach  gleichem  Verhältnis  seine. Sphäre 
zukäme,  so  müßte  man  für  jene  unzählige  Menge  von  Fixsternen 
eine  Sphäre  abmessen,  die  viele  und  viele  tausendmal  an  Umfang 
die  übertreffen  würde,  die  für  den  Bedarf  des  copernicanischen 
Systems  genügt. ^ 

Auf  die  Frage  nach  dem  Zw-eck  der  ungeheuren  Leere  über  dem 
Saturn  und  auf  die  andern  geistesverwandten  Zweifel  antwortet 
Galilei  mit  einer  Abfertigung  der  ganzen  kleingeistigen  Denkweise, 


1  Ed.  Naz.  VII  p.  394. 
-  Ed.  Naz.  VII  p.  396. 


~     115     — 

die  uns  den  großen  Mann  auf  der  Höhe  der  copernicanischen  Welt- 
anschauung zeigt. 

„Allzu  anmaßend",  sagt  er^,  „scheint  mir  die  Ansicht,  daß  nur 
die  Sorge  für  uns  das  zugemessene  Werk  und  die  Grenze  sei,  über 
die  hinaus  die  göttliche  Weisheit  und  Macht  nichts  anderes  tut  und 
anordnet;  aber  ich  möchte  nicht,  daß  wir  den  Arm  Gottes  so  ver- 
kürzen; geben  wir  uns  vielmehr  mit  dem  sicheren  Bewußtsein  zu- 
frieden, daß  Gott  und  Xatur  sich  derart  um  die  Lenkung  mensch- 
licher Dinge  bekümmern,  daß  keine  größere  Fürsorge  walten  könnte, 
auch  wenn  für  nichts  anderes  zu  sorgen  wäre  als  für  das  Menschen- 
geschlecht allein.  Ich  glaube  das  mit  einem  sehr  geeigneten  und 
erhabenen  Beispiel  belegen  zu  können :  es  handelt  sich  um  das  Wirken 
des  Sonneiüichtes,  welches  hier  wässerige  Dünste  anzieht  oder  da 
eine  Pflanze  erwärmt,  und  zwar  so  jene  anzieht,  so  diese  erwärmt, 
als  hätte  es  sonst  nichts  zu  tun.  Ja  wenn  eine  Traube  oder  auch 
nur  eine  einzige  Beere  zur  Reife  gebracht  werden  soll,  so  macht  es 
sich  daran,  wie  es  mit  größerem  Erfolge  nicht  möglich  wäre,  wenn 
das  Endziel  alles  seines  Tuns  bloß  die  Reifung  dieser  Beere  wäre. 
Da  nun  diese  Beere  von  der  Sonne  alles  empfängt,  was  sie  empfangen 
kann,  da  ihr  nicht  das  ^Mindeste  davon  entzogen  mrd,  weil  die  Sonne 
gleichzeitig  tausend  und  abertausend  andere  Wirkungen  ausübt,  so 
müßte  man  jene  des  Neides  und  der  Torheit  zeihen,  wenn  sie  glaubte 
oder  verlangte,  daß  das  Wirken  der  Sonnenstrahlen  bloß  um  ihr 
Wohl  sich  bekümmern  solle.  Ich  bin  überzeugt,  daß  die  göttliche 
Vorsehung  bei  der  Lenkung  der  Menschengeschicke  das,  was  man 
von  ihr  erwarten  kann,  nicht  ungetan  läßt.  Daß  aber  darum  nicht 
noch  andere  Ausflüsse  ihrer  unendlichen  Weisheit  im  Weltall  vor- 
handen sein  könnten,  möchte  ich  nach  den  Eingebungen  meiner 
Veniunft  mich  nicht  bequemen  zu  glauben;  sollte  jedoch  die  Sache 
in  Wirklichkeit  sich  anders  verhalten,  so  würde  ich  mich  nicht 
sträuben,  an  die  Gründe  zu  glauben,  welche  mir  von  höherer  Einsicht 
entgegengehalten  würden. 

Muß  es  darum  als  Verwegenheit  erscheinen,  wenn  man  unnütz 
und  zwecklos  die  ganze  Welt  nennen  wollte,  sofern  sie  uns  nicht 
nützt,  so  scheint  es  größere  Torheit  noch,  als  überflüssig  und  darum 
nicht  vorhanden  die  Dinge  zu  bezeichnen,  deren  Xutzen  uns  unbekannt 

1  Ed.  Naz.  VII  p.  394 f. 


—     116     _ 

ist?  Wissen  wir  doch  den  Zweck  der  nächstliegenden  Dinge,  der 
Teile  des  eigenen  Körpers  nicht,  nnd  wollen  Jnpiter  oder  Saturn  aus 
der  Katiir  verbannen,  weil  \\ir  nicht  wissen,  wozu  sie  uns  dienen? 

Und  wissen  vdr  denn  nur,  daß  jener  ungeheure  Raum,  dessen 
Leere  man  zwecklos  findet,  in  Wirklichkeit  keine  andern  Weltkörper 
enthält?  Etwa  weil  wir  sie  nicht  sehen?  So  sind  also  die  vier  medi- 
ceischen  Planeten  und  die  Genossen  des  Saturn  erst  in  den  Himmel 
gekommen,  als  wir  anfingen  sie  zu  sehen?  Und  waren  die  andern 
zaMlosen  Fixsterne  nicht  da,  ehe  wir  sie  durch  das  Fernrohr  erkannten  ? 
0!  über  die  anmaßende,  verwegene  Unwissenheit  der  Menschen!" 

Der  Gegenstand  führt  liier  den  Denker  weit  über  die  Grenzen 
der  astronomischen  Betrachtung  hinaus;  er  enthüllt  die  niedere 
Stufe  der  Anschauungen,  an  die  der  Mensch  in  den  Grenzen  der  alten 
Weltansicht  gebannt  war;  er  läßt  den  Leser  erkennen,  daß  mit  der 
Veränderung  des  Standpunkts  im  Weltall,  wie  sie  Copernicus  fordert, 
nur  der  Schein  einer  höheren  Stellung  gefallen,  in  Wirklichkeit  aber 
die  Befreiung  der  Gedanken  von  unwürdigen  Schranken  gewonnen  ist. 

Galilei  ist  der  erste  Copernicaner,  der  diese,  schon  vonBruno^ 
mehr  intuitiv  erkannten,  Konsequenzen  der  neuen  Lehre  in  voller 
Klarheit  begriffen  und  ausgesprochen  hat,  so  daß  ihm,  wie  Bruno, 
die  Fixsterne  Sonnen  hießen,  und  er  in  dem  Sonnensystem,  dem  die 
Erde  angehört,  nur  eine  von  zahllosen  Welten  sah. 

So  wenig  ihm  von  diesem  Standpunkt  aus  eine  unmeßbare  Ent- 
fernung der  Fixsterne  bedenldich  erscheinen  konnte,  so  spricht  er 
doch  in  zuversichtlichen  Worten  die  Überzeugung  aus,  daß  Copernicus 
in  dieser  Beziehung  mehr  zugestehe,  als  er  ge^iißt  hat.  Daß  die  An- 
näherung und  Entfernung  der  Erde  um  den  Durchmesser  der  jähr- 
lichen Bahn  eine  Verschiedenheit  in  der  Stellung  der  Sterne  nicht 
hervorrufe,  betrachtet  er  als  keineswegs  festgestellt,  ja,  er  hält  es 
für  gewiß,  daß  der  Versuch,  solche  Verschiedenheiten  nachzuweisen, 
bisher  von  niemand  unternommen  sei;  und  es  sei  das  nicht  zu  ver- 
wundern, da  man  Grund  zum  Zweifel  habe,  ob  die  meisten  Beobachter 
wissen,  in  welcher  Weise  dergleichen  zu  erwarten  und  wahrzunehmen  sei. 

Er  zeigt  nun,  in  welcher  Weise  man  hoffen  dürfe,  das  Gesuchte 
zu  finden.  Bei  einzelnen  Sternen,  die  in  der  Ebene  der  Erdbahn 
liegen,   würde  die  Annäherung  und  Entfernung  der  Erde  eine  Zu- 


1  S.  Bd.  I,  S.  23f.  und  S.  363. 


—     117     — 

und  Abnahme  der  scheinbaren  Größe  i)ewirken,  während  für  die 
Höhe  im  Meridian  eine  Änderung  durch  die  jährliche  Bewegung  nicht 
zu  erwarten  wäre.  Dagegen  ist  ein  Erfolg  von  der  Beobachtung 
zweier  einander  sehr  naheliegender  Sterne  zu  erwarten.  Galilei 
glaubte  nicht,  daß  die  Sterne  auf  einer  Kugelschale  liegen,  er  hielt 
vielmehr  für  durchaus  wahrscheinlich,  daß  ihre  Entfernungen  außer- 
ordentlich verschieden  sind,  daß  die  einen  uns  zwei  und  dreimal 
ferner  liegen  als  die  andern.  Fände  sich  nun  durchs  Fernrohr  ein  sehr 
kleiner  Stern  in  der  Nähe  eines  größeren,  und  der  kleine  stände  in 
beträchtlich  größerer  Entfernung,  so  wäre  es  denkbar,  daß  eine 
Änderung  in  der  Stellung  der  beiden  infolge  der  jährlichen  Bewegung 
sich  beobachten  ließe,  in  ähnlicher  Weise,  wie  eine  Änderung  im  Ort 
der  oberen  Planeten  am  festen  Hintergrund  des  Fixsternhimmels 
wahrgenommen  wird.  Anders  bei  den  Sternen  außerhalb  der  Ebene 
der  Ekliptik.  Hier  würde  auch  der  einzelne  Stern,  sofern  seine  Ent- 
fernung nicht  unendlich  groß  ist,  von  zwei  um  den  Durchmesser  der 
Erdbahn  entfernten  Punkten  aus  gesehen,  eine  verschiedene  Meridian- 
höhe haben;  und  der  Unterschied  der  beiden  Beobachtungen  würde, 
wie  er  in  der  Ebene  der  Ekliptik  verschwindet,  so  mit  der  Annäherung 
an  den  Pol  der  Ekliptik  zunehmen,  in  diesem  Pol  am  beträchtlichsten 
sein. 

Beide  Ai-ten  von  Veränderungen  würden  um  so  eher  in  die  Wahr- 
nehmung treten,  je  näher  der  Stern  dem  Beobachter  läge.  Galilei 
wundert  sich  nicht,  daß  Beobachtungen  der  einen,  wie  der  andern 
Art  bisher  nicht  gemacht  sind.  Die  Änderungen  der  scheinbaren  Größe 
werden  so  geringfügig  sein,  daß  sie  sich  der  Wahrnehmung  entziehen, 
schon  die  des  Saturn  sind  kaum  zu  erkennen.  Auch  Änderungen  in 
der  Meridianhöhe  können  ausbleiben,  wo  sie  erwartet  werden,  wenn  die 
Entfernungen  zu  groß  und  jene  deshalb  für  die  Mittel  des  Beobachters 
unmerklich  sind.  Mit  den  bisher  angewandten  Mitteln  sind  noch 
Ungenauigkeiten  der  Messung  im  Umfang  von  mehreren  Minuten 
möglich;  denn  um  so  viel  weichen  die  Angaben  verschiedener  Beob- 
achter für  dieselben  Fixsterne  von  einander  ab.  Auch  bei  den  besten 
Instrumenten  zur  Messung  der  Winkel  sind  die  Schenkel  zu  klein 
und  dadurch  die  Änderung  ihres  Abstands  für  sehr  kleine  Winkel 
verschwindend;  Galilei  fordert  Instrumente,  deren  Schenkel  4,  6,  ja 
20—50  (italienische)  Meilen  Länge  haben,  so  daß  der  Abstand  für 
den  Grad  eine  Meile,  für  die  Minute  50  Ellen  beträgt,  und  solche 


—     118     — 

Instrumente  sollen  bei  höchster  Genauigkeit  mit  geringsten  Kosten 
herzustellen  sein.  Er  zeigt,  wie  der  Lichtstrahl  selbst,  der  auf  dem 
Wege  zum  Auge  einen  festen  Punkt  in  größerer  Entfernung  trifft, 
den  Schenkel  von  beliebiger  Größe  gibt;  wie  dann  weiter  mit  Hilfe 
des  befestigten  Fernrohrs,  das  auf  solche  AVeise  durch  Luftlinien 
verlängert  zu  denken  wäre,  ein  einfaches  Beobachtungsverfahren 
dazu  führen  müßte,  die  geringsten  Änderungen  in  der  Meridianhöhe 
passend  gewählter  Fixsterne  zu  entdecken.  Würde  es  auf  diesem 
Wege  gelingen,  eine  jährliche  Parallaxe  solcher  Fixsterne  nach- 
zuweisen, so  wäre  damit  nicht  allein  ein  unwidersprcchlicher  Beweis 
für  die  Wahrheit  der  copernicanischen  Lehre  gegeben,  sondern  zu- 
gleich die  Entfernung  der  Sterne  gemessen. 

Die  Zuversicht  auf  nahes,  entscheidendes  Gelingen  spricht  aus 
Galileis  klarer  Auseinandersetzung. 

jN'och  zwei  Jahrhunderte  hindurch  mußte  bei  stetig  zunehmender 
Vervollkommnung  der  Beobachtungsmittel  der  hingebende  Eifer  der 
Astronomen  ohne  Erfolg  dem  gleichen  Ziele  nachstreben,  immer 
kleiner  wurden  die  meßbaren  Veränderungen,  in  immer  weitere  Ent- 
fernungen rückten  die  Fixsterne,  aber  als  die  niemals  aufgegebene 
Hoffnung  sich  endlich  verwirklichte,  da  waren  es  die  beiden  Wege, 
die  Gahlei  der  Aufmerksamkeit  der  Astronomen  zuerst  empfohlen 
hatte,  auf  denen  die  Forscher  des  19.  Jahrhunderts  das  Ziel  erreichten. 

Den  Beweisen  für  die  jährliche  Bewegung  schließt  sich  im  dritten 
Dialog  eine  anschauliche  Darstellung  der  copernicanischen  Lehre  von 
der  Entstehung  der  Jahreszeiten  an.i  Die  ursprüngliche  copernicanische 
Erklärung  hat  hier,  wie  bei  Kepler,  wesentlich  an  Einfachheit  und 
Klarheit  gewonnen  durch  die  Erkenntnis,  daß  es  für  diesen  Zweck 
nicht  einer  dritten  Bewegung  der  Achse  in  Jahresfrist  bedarf,  daß 
dieser  Schein  der  Bewegung  in  bezug  auf  nahegelegene  Punkte  viel- 
mehr durch  ein  Kühen,  eine  unveränderliche  Richtung  der  Erdachse 
während  des  jährlichen  Umlaufs  hervorgerufen  wird. 

Galilei  verdeutlicht  diese  Erhaltung  der  Achsenstellung  durch 
den  Versuch,  den  er  schon  vor  längeren  Jahren  in  Rom  den  Freunden 
zum  gleichen  Zwecke  vorgeführt  und  im  Saggiatore  beschrieben  hatte. 
Zugleich  gedenkt  er  dabei  der  Ansicht  Gilberts^,  der  die  bestimmte 


1  Ed.  Naz.  VII  p.  416  f. 

2  Ed.  Naz.  VII  p.  426 f. 


—     119     — 

unveränderliche  Kiditung  wesentlich  durch  die  magnetische  iN'atur 
der  Erde  bedingt  glaubt.  Kr  freut  sich  der  Veranlassung,  von  den 
Forschungen  des  großen  Mannes,  den  er  bewundert  und  beneidet, 
in  einer  Kpisode  über  den  p]rdmagnetisnuis  umständlich  zu  reden. 
Nur  will  er  nicht  folgen,  wenn  Gilbert  eine  selbstäiulige  Magnet- 
kugel rotieren  läßt. 

D.  Ebbe  und  Flut. 

Der  vierte  Tag  der  Dialoge^  enthält  die  Beweise,  die  den  Er- 
scheinungen an  der  Erdoberfläche  zu  entnehmen  sind;  insbesondere 
die  Lehre  von  Ebbe  und  Flut.  Galileis  Ansichten  waren  seit  dem 
Jahre  1616  dieselben  geblieben;  der  größere  Teil  jener  kurzen  Skizze, 
die  er  damals  für  den  Kardinal  Orsini^  niedergeschrieben  hatte, 
findet  sich  wörthch  in  den  Dialogen  wieder;  zuversichtlich  wie  damals, 
stellt  er  an  die  Spitze  seiner  Ausfühmngen  die  beiden  Sätze:  ist  die 
Erdkugel  unbeweglich,  so  kann  Flut  und  Ebbe  des  Meeres  nicht  auf 
natürlichem  Wege  entstehen;  gibt  man  der  Erde  die  Bewegungen, 
die  Copernicus  ihr  zuerteilt,  so  muß  notwendigerweise  das  Meer  der 
Flut  und  Ebbe  unterliegen,  genau  so,  wie  diese  Erscheinungen  in 
der  Wirklichkeit  wahrgenommen  werden.  Einzelne  tatsächliche 
Irrtümer  des  Entwurfs  sind  in  den  Dialogen  beseitigt;  zwar  das 
rote  Meer  läßt  Galilei  auch  jetzt  noch  der  Flut  entbehren,  dagegen 
spricht  er  nicht  mehr  von  einem  zwölfstündigen  Wechsel  der  Er- 
scheinungen in  Lissabon  und  anderen  Häfen  des  atlantischen  Ozeans; 
ohne  Zweifel  hatte  er  inzwischen  in  Erfahrung  gebracht,  daß  die 
Periode  des  atlantischen  Meeres  von  der  des  mittelländischen  nicht 
abweiche;  seine  Ansicht,  daß  die  Periode  wesentlich  durch  die  Tiefe 
und  Länge  des  Meeresbeckens  bedingt  sei,  verlor  damit  den  schein- 
baren Anhaltspunkt  in  der  Erfahrung,  aber  er  gibt  darum  die  Ansicht 
nicht  auf;  er  wiederholt  sogar  die  Äußerung  dos  Entwurfs,  daß  der 
sechsstündige  Wechsel  nicht  der  vorzugsweise  naturgemäße,  sondern 
nur  der  meist  beobachtete  sei,  weil  er  dem  mittelländischen  Meere 
eigentümlich  sei.  Xur  wenn  man  tlie  ähnlich  lautenden  Sätze  in  der 
Skizze  und  in  der  Ausführung  genau  vergleicht,  nimmt  man  eine 
Milderung  im  Ausdruck  wahr,  die  der  früheren  Sicherheit  gegenüber 

1  Ed.  Naz.  VII  p.  442—489. 

-  Vergl.  Bd.  I,  Kap.  18,  S.  587  ff. 


—     120     — 

•wie  der  Anfang  des  Zweifels  Idingt  (Hinzufügung  eines  „vielleicht"- 
u.  dgl.  m.).  Aber  wenn  ihm  ein  Zweifel  vielleicht  gegen  die  Voll- 
ständigkeit der  früher  genannten  mitwirkenden  Ursachen  aufstieg  — 
die  ursprüngliche  Ursache  berührte  er  nicht.  Deutlicher  als  in  dem 
ersten  Entwurf  tritt  in  den  Dialogen  der  Ursprung  des  Irrtums  zutage. 
Es  ist  dieselbe  ängstliche  Abneigung  gegen  dunkle  Begriffe,  die  alle 
seine  mechanischen  Untersuchungen  kennzeichnet,  die  ihn  nun  auch 
bei  den  Fluterscheinungen  eine  direkte  Einwu'kung  des  Mondes  von 
vornherein  zu  den  Absurditäten  einer  überwimdenen  Wissenschaft 
zählen  läßt;  sein  Widerwille  gegen  alle  derartigen  Versuche  war 
so  stark,  daß  er  ihn  gegen  die  Bedeutung  der  Tatsachen  verblendete, 
die  so  unwiderstehlich  denkende,  wie  phantasierende  Beobachter 
aller  Zeiten  auf  den  Mond  verwiesen  hatten.  In  der  Tat  hatte  die 
Lehre  von  der  Wirkung  des  Mondes  auf  das  Meer  der  Erde  in  jener 
Zeit  noch  keineswegs  die  Form  angenommen,  in  der  sie  den  Schöpfer 
einer  neuen  Mechanik  befriedigen  konnte,  ja,  eine  befriedigende 
Theorie  war  bei  dem  Mangel  klarer  Begriffe  über  die  Natur  der 
Anziehungswirkungen  kaum  möglich.  William  Gilbert  sah  hier  wie 
überall  eine  magnetische  Wirkung,  er  ließ  den  magnetischen  Mond 
den  magnetischen  Erdkern,  mit  ihm  den  Boden  des  Meeres  heben 
und  so  die  Flut  aus  dem  verengten  Gefäß  sich  ergießen.  Dagegen 
trug  Kepler  kein  Bedenken,  eine  Anziehungskraft  des  Mondes  un- 
mittelbar auf  die  Gewässer  des  Meeres  wirken  zu  lassen,  derart,  daß, 
wenn  die  Erde  aufhörte,  ihre  Gewässer  anzuziehen,  diese  zum  Mond 
aufsteigen  würden.  ^ 

Wie  diese  Anziehungski'aft  eine  Erhebung  des  Wassers  auch  auf 
der  Seite  der  Erde  bewirken  körnie,  die  dem  Mond  abgewandt  war, 
versuchte  er  nicht  zu  erklären. 

Eine  ähnliche  Deutung  gab  in  Italien  der  Erzbischof  von  Spalatro 
de  Dominis.-  Er  ging  einen  Schritt  weiter  und  übertrug  die  Wirkung 
dem  Kreise,  über  dem  auf  der  einen  Seite  der  Mond  stand;  so  war 
dann  ohne  besondere  Mühe  auch  die  Wükimg  auf  der  Gegenseite  erklärte 


1  Vergl.  Keplers  Bemerkungen  zu  Plutarclis  „De  facie  in  orbe  Lunae" 
(Johannis  Kepler!  Opera  ed.  Frisch,  Vol.  8  p.  118,  Note  90),  ferner  seineu 
Brief  an  Herwart  vom  2.  Januar  1607  (a.a.O.  Vol.  3  p.  455);  ausfuhrfich. 
berichtet  über  diese  Lehren  Keplers  S.  Günther,  J.  Kepler  u.  der  tellur.- 
kosm.  Magnetismus  p.  56  ff. 

-  Euripus  sive  sententia  de  fluxu  et  refluxu  maris  (Romae  1624). 


—     121     — 

AVenn  Kepler  liiiizulügte,  die  Wirkung  sei  unmerklich  in  kleinen 
Gewässern,  so  entsprach  das  zwar  den  allbekannten  Tatsachen,  aber 
als  notwendige  Folge  einer  direkten  Anziehungskraft  des  Mondes 
konnte  es  nicht  einleuchten. 

Galilei  konnte  in  allen  derartigen  Erklärungen  nur  die  niedere 
Stufe  der  Forschung  erkennen,  auf  der  dies  Zusammentreffen  der 
Erscheinungen  unbedenklich  zum  Verhältnis  von  Ursache  und  Wirkung 
umgedeutet  wird;  daß  in  Wirklichkeit  Sonne  und  Mond  bei  diesen 
Erscheinungen  eine  unmittelbare  Wirkung  ausüben,  w^ar  seinem 
Verstände  durchaus  widerstrebend;  er  fand  es  undenkbar,  diese 
Bewegungen  ungeheurer  Wassermassen  dem  Licht,  der  Wärme,  der 
Macht  verborgener  Qualitäten  und  ähnlichen  leeren  Phantasien  zu- 
zuschreiben, dergleichen  könne  so  wenig  als  die  Ursache  der  Flut 
gelten,  daß  man  vielmehr  umgekehrt  annehmen  müsse,  es  sei  die 
Flut,  die  derartige  Vorstellungen  in  Köpfen  verursache,  die  mehr 
zum  Wortemachen  und  zur  Prahlerei  taugen  als  zum  Denken  und 
zum  Erforschen  der  geheimsten  Werke  der  Natur,  die,  ehe  sie  sich 
herbeilassen,  das  kluge,  offene  und  bescheidene  Wort:  ,,ich  weiß 
es  nicht"  —  auszusprechen  oder  niederzuschreiben,  lieber  das  Un- 
geheuerlichste zutage  fördern. 

Am  meisten  AAnmdert  sich  Galilei  ^  über  Kepler,  daß  er,  der  ihm 
als  Mann  von  freiem  und  scharfem  Geist  bekannt  ist,  dem  überdies 
die  Bewegungen  der  Erde  zu  Gebote  standen,  einer  Gewalt  des  Mondes 
über  das  Wasser,  verborgenen  Eigenschaften  und  dergleichen 
Kindereien  habe  zustimmen  können.  Er  empfand  offenbar  intensiv 
das  Bedenkliche,  das  darin  liegt,  für  eine  unverstandene  Wirkung 
direkt  die  Kraft  zu  schaffen,  die  danach  eingerichtet,  wirken  zu 
können,  wie  man  sie  braucht.  Daß  Kepler  später  seine  Ansicht  auf- 
gab, beweist,  daß  diese  keineswegs  jene  zwängende  Gewalt  hatte. 

Je  sicherer  Galilei  in  dieser  Verurteilung  der  gegenüberstehenden 
Ansichten  war,  je  zuversichtlicher  er  als  Täuschung  und  Irrtum  ober- 
flächlich Denkender  die  Bemühungen  verwarf,  denen  die  Ahnung 
des  wahren  Zusammenhangs  zugrunde  lag,  um  so  mehr  bestärkte 
er  sich  in  der  Überzeugung,  daß  nur  auf  seinem  Wege  Licht  zu 
finden  sei. 

In  der  Skizze  von  1616  war  die  monatliche  und  die  jährliche 


1  Ed.  Naz.  VII  p.  486 f. 


—     122     — 

Periode  der  Fluterscheinungen  niclit  erwähnt;  es  scheint,  daß  Galilei 
damals  noch  nicht  imstande  war,  die  Veränderungen,  die  im  Laufe 
des  Mondmonats  und  dann  wieder  mit  dem  Wechsel  der  Jahreszeiten 
eintreten,  mit  seiner  Theorie  in  Einklang  zu  bringen.  Die  Lösung 
dieser  weiteren  Aufgabe  war,  wie  Salviati  erzählt  ^,  das  Ergebnis  müh- 
samer, langwieriger  Überlegungen,  oft  habe  er  dabei,  am  Erfolg  ver- 
zweifelnd, sich  mit  der  Täuschung  des  unglücklichen  Orlando  zu 
beruhigen  versucht:  es  könne  nicht  wahr  sein,  was  doch  das  Zeugnis 
so  vieler  glaubwürdiger  Männer  verbürgte. 

Aber  auch  hier  gewährte  tieferes  Eindiingen  in  die  Natur  der 
Erdbewegung  glücklichen  Aufschluß.  Der  Abschnitt  des  vierten 
Dialogs,  in  dem  diese  weitere  Entdeckung  mitgeteilt  wird,  ist  einer 
der  merkwürdigsten  des  ganzen  Buchs. 

Galilei  benutzt  die  Gelegenheit,  um  nochmals  aufs  ent- 
schiedenste eine  unmittelbare  Einwirkung  der  beiden  Himmelskörper 
abzuweisen,  mit  deren  wechselnder  Stellung  zur  Erde  der  Wechsel 
in  diesen  Erscheinungen  unzweifelhaft  zusammenhängt,  isicht  anders 
kann  dieser  Wechsel  der  Stellungen  wirken,  als  durch  eine  Steigerung 
und  Schwächung  der  ursprünglichen  Ursache  der  Fluten;  denn  nur 
in  einer  Steigerung  und  Schwächung  der  Wii'kung  liegt  das  Wesen 
dieser  periodischen  Veränderungen.  Die  Ursache  der  Fluten  liegt 
nach  Galileis  Deutung  in  der  Ungleichförmigkeit  der  Bewegung,  die 
aus  der  Veränderung  der  jährlichen  Bewegung  durch  die  tägliche 
hervorgeht.  Diese  Ungleichförmigkeit  muß  also  (infolge  einer  ver- 
änderten Stellung  der  drei  Körper)  einer  periodischen  Änderung 
unterliegen.  Man  sieht  leicht,  daß  dies  in  dreifacher  Weise  geschehen 
kann,  entweder  die  jährliche  Geschwindigkeit  nimmt  periodisch  ab 
oder  zu,  während  die  Beschleunigung  und  Verzögerung  durch  die 
hinzukommende  tägliche  unverändert  bleibt,  oder  die  jährliche 
Geschwindigkeit  bleibt  unverändert,  während  die  Beschleunigung  und 
Verzögerung  durch  die  tägliche  Umdi'ehung  periodisch  verändert 
wird,  oder  endlich  beide  Änderungen  finden  gleichzeitig  statt. 

Nach  Galileis  Ansicht  ist  eine  regelmäßige  Veränderung  der 
Gesch'SNindigkeit  in  der  jährlichen  Bahn  die  Ursache  der  monat- 
lichen Periode,  Offenbar  muß  die  scheinbare  jährliche  Bewegung 
der  Sonne  und  des  Mondes  davon  Kunde  geben.    Daß  dies  nach  den 


1  Ed.  Xaz.  VII  p.  472. 


(I 


—     123     — 

bisherigen  Beobachtungen  nicht  der  Fall  ist,  kann  Galilei  nicht  als 
ein  Hindernis  für  seine  Anschauung  betrachten.  Die  Astronomie 
steht  noch  auf  einer  Stufe,  bei  der  unzählige  Dinge  unentschieden 
und  vielleicht  noch  viele  andere  völlig  unbekannt  sind.  Die  Ge- 
schwindigkeitsänderungen, die  hier  in  Betracht  kommen,  sind 
jedenfalls  nur  gering,  und  was  das  Wichtigste  ist:  man  hat  sie  nicht 
wahrgenommen,  weil  man  nicht  gesucht  hat.  Man  wird  sie  wahr- 
nehmen, sobald  man  sich  davon  überzeugt  hat,  daß  sie  notwendig 
stattfinden  müssen.  Daß  dies  der  Fall  ist,  beweist  Galilei  durch  eine 
überraschende  Vergleichung  irdischer  Erscheinungen  mit  den  Vor- 
gängen am  Himmel.  Es  ist  seine  Forschung  über  die  Pendel- 
schwingungen, auf  der  die  Deutung  der  monathchen  Periode  beruht. 
Er  hat  gezeigt,  daß  die  Dauer  der  Pendelschwingungen  nicht  von  der 
Weite  der  Schwingungen,  sondern  nur  von  der  Länge  des  Pendels 
abhängt,  je  geringer  der  Abstand  zwischen  dem  Aufhängepunkt  und 
dem  schwingenden  schweren  Körper,  um  so  gi'ößer  ist  die  GeschAvindig- 
keit,  um  so  kürzer  die  Dauer  der  Schwingung. 

Galilei  verallgemeinert  diese  Beobachtung:  er  betrachtet  es  als 
wahr,  natürlich,  ja  notwendig,  daß  derselbe  bewegKche  Körper,  von 
derselben  bewegenden  Ki'aft  in  kreisförmiger  Bahn  getrieben,  in 
längerer  Zeit  einen  größeren  als  einen  kleineren  Kreis  durchläuft. 
Daß  diese  Wahrnehmung  in  der  Tat  auch  auf  die  Himmelskörper 
Anwendung  findet,  dafür  sieht  er  den  Beweis  in  den  Bewegungen  der 
Planeten,  bei  denen  die  Dauer  des  Umlaufs  mit  der  Entfernung  von 
der  Sonne  zunimmt;  aufs  beste  läßt  sich  das  Wirken  derselben  Kegel 
der  kurzen  Umlaufszeiten  wegen  bei  den  vier  Jupiterstrabanten  wahr- 
nehmen. So  hält  es  Galilei  für  sicher  und  gewiß,  daß  die  Umlaufszeit 
des  Mondes  kürzer  und  kürzer  werden  müßte,  wenn  ohne  Veränderung 
der  bewegenden  Ej-aft  der  Halbmesser  seiner  Bahn  sich  mehr  und 
mehr  verkürzte  und  demnach  seine  Bewegung  in  immer  kleineren 
Kreisen  stattfinden  müßte  ^.  Was  hier  als  Annahme  gesetzt  ist, 
geschieht  in  der  Tat;  der  Mond  ist  nach  der  Lehre  des  Copernicus 
mit  der  Erde  untrennbar  verbunden,  er  teilt  demnach  ihre  jährliche 
Bewegung  in  der  großen  Bahn,  in  derselben  Zeit  aber  legt  er  beinahe 
13  Umläufe  um  die  Erde  zurück,  er  muß  dabei  der  Sonne  bald  näher, 
bald  ferner  stehen,  und,  wenn  die  Regel  Geltung  hat,  w^nn  in  Wirklich- 


Ed.Naz.  VII  p.477f. 


—     124     — 

keit  die  Kraft,  die  den  Mond  bewegt,  bei  seinem  Umlauf  dieselbe 
bleibt,  so  folgt  daraus,  daß  der  Mond  notwendig  in  der  Sonnennähe 
größere  Geschwindigkeit  haben  muß,  als  wenn  die  Erde  zwischen 
ihm  und  der  Sonne  steht,  aber  dieselbe  Änderung  der  Geschwindigkeit 
trifft  auch  die  Erde  in  ihrer  jährlichen  Bewegung.  Galilei  erläutert 
seine  Ansicht  durch  den  Hinweis  auf  ein  bekanntes  Mittel,  in  den 
Räderuhren  die  Geschwindigkeit  zu  regulieren  i;  am  Ende  eines 
horizontal  schwingenden  Stabes  befestigen  die  Uhrmacher  zwei  Blei- 
gewichte; geht  die  Uhr  zu  langsam,  so  nähern  sie  die  Gewichte  der 
befestigten  Mitte  des  Stabes.  Alsbald  werden  die  Schwingungen 
rascher.  Wollen  sie  den  Gang  verlangsamen,  so  schieben  sie  die 
Ge^vichte  mehr  dem  Ende  zu.  Zöge  man  dementsprechend  eine 
gerade  Linie  von  dem  Zentrum  der  Sonne  durch  das  Erdzentrum 
bis  zur  Mondbahn,  so  wäre  das  der  Halbmesser  des  großen  Ki-eises, 
den  die  Erde  gleichförmig  durchlaufen  würde,  wenn  sie  allein  wäre; 
brächten  wir  aber  auf  demselben  Halbmesser  einen  zweiten  Körper 
an,  der  bald  zwischen  Erde  und  Sonne,  bald  jenseits  der  Erde  stände, 
so  müßte  je  nach  diesen  Veränderungen  die  Geschwindigkeit  in  der 
gemeinsamen  Bewegung  beider  bald  zu-  bald  abnehmen.  Der  heutige 
Leser  wird  in  diesem  Vergleich  trotz  der  fremdartigen  Ausdi'ucksweise 
die  Ahnung  des  großen  Gedankens  einer  Himmelsmechanik  nicht 
überhören,  der  Glaube  an  die  Allgemeingültigkeit  der  Bewegungs- 
gesetze kann  nicht  bestimmter  ausgedi'ückt  werden,  als  es  durch 
diese  einfache  Übertragung  der  Pendelgesetze  auf  die  Bewegung  der 
Erde  geschieht.  So  wenig  zweifelt  Gahlei,  ob  er  der  Analogie  der 
bekannten  Erscheinungen  vertrauen  darf,  daß  er  aus  ihr  allein  Be- 
wegungen herleitet,  die  niemand  beobachtet  hat.  Es  steht  ihm  fest, 
daß  unter  dem  Einfluß  des  Mondes  die  jährliche  Bewegung  der  Erde 
in  periodischem  Wechsel  ihre  Geschwindigkeit  ändern  muß;  bleibt 
nun  die  tägliche  Bewegung  gleichförmig,  so  muß  die  Ungleichförmig- 
keit  der  Bewegung,  die  im  Zusammenwirken  beider  entsteht,  mit 
den  Mondphasen  in  regelmäßigen  Perioden  ab-  und  zunehmen;  es 
ist  also  die  Ursache  und  darum  die  Erscheinung  der  Fluten  selbst 
einem  regelmäßigen  monatlichen  Wechsel  unterworfen. 

Eine  zweite  Veränderung  dieser  Ursache  ergibt  sich  ohne  weiteres 
aus   der  Lehre   des   Copernicus,  nach   der  während   der  jährlichen 


1  Ed.  Naz.  VII  p.  474f. 


—     125     — 

Bewegung  die  Neigung  der  Flrdachse,  also  auch  der  Winkel,  den  die 
Ebene  des  Äquators  mit  der  Erdbahn  bildet,  unverändert  bleibt. 
Es  genügt  eine  einfache  Zeichnung,  die  die  Erde  in  ihren  verschiedenen 
Stellungen  zur  jährlichen  Bahn  erkennen  läßt,  um  zu  verdeuthchen, 
daß  die  täghche  und  die  jährliche  Bewegung  sich  an  diesen  ver- 
schiedenen Punkten  in  verschiedener  Weise  zusammensetzen,  daß 
die  Vermehrung  und  Verminderung  durch  die  tägliche  beispielsweise 
an  den  Solstitialpunkten  am  größten,  an  den  Äquinoktialpunkten 
am  kleinsten  ist.  Allerdings  werden  infolge  der  täglichen  Umdi'ehung 
die  Punkte  der  einen  Erdhälfte  inmier  eine  verzögerte,  die  der  andern 
eine  beschleunigte  Bewegung  haben,  aber  der  Erddurchmesser,  durch 
den  z.  B.  die  beschleunigte  und  die  verzögerte  Hälfte  des  Äquators 
abgeschnitten  werden,  fällt  nur  an  den  Solstitialpunkten,  wo  er 
zugleich  Tangente  der  Erdbahn  ist,  in  die  Ebene  dieser  Bahn;  denkt 
man  an  andern  Stellen  der  Erde  Tangenten  an  die  große  Bahn  gelegt, 
so  fällt  der  betreffende  Durchmesser  überall  in  eine  senki-echt  zur 
Erdbahn  gelegte  Ebene  und  bildet  mit  dieser  Tangente  Winkel,  die 
bis  zu  den  Äquinoktialpunkten  an  Größe  zunehmen;  je  größer  aber 
dieser  Winkel,  also  die  Abweichung  von  der  Ebene  der  Erdbahn, 
um  so  kleiner  wird  der  Teil  der  täglichen  Bewegung,  den  man  an  den 
verschiedenen  Punkten  der  jährlichen  hinzufügen  oder  von  ihr  in 
Abzug  zu  bringen  hat.  In  den  Solstitialpunkten  ist  die  Länge  des 
Erddurchmessers  das  Maß  der  Beschleunigung  auf  der  einen  und  der 
Verzögerung  auf  der  andern  Seite,  an  jeder  andern  Stelle  wird  dies 
Maß  durch  die  Projektion  des  Durchmessers  auf  die  Ebene  der  Erd- 
bahn gegeben  sein,  diese  ist  offenbar  in  den  Äquinoktialpunkten 
am  kleinsten. 

So  ist  denn  auf  der  ersten  Grundlage  ein  vollständiges  System 
der  Flutbewegungen  aufgebaut;  wie  das  Widerstreben  gegen  eine 
unmittelbare  Wirkung  des  Mondes  auf  das  Meer  die  Veranlassung 
zur  Aufstellung  der  neuen  Theorie  gegeben,  so  liegt  auch  für  Galilei 
ein  besonderer  Triumph  darin,  daß  er  es  möglich  gefunden  hat,  eine 
Änderung  der  Erscheinungen  unter  dem  Einfluß  der  Mondphasen 
und  der  Jahreszeiten  zu  erklären,  ohne  darum  dem  Mond  und  der 
Sonne  einen  Einfluß  auf  das  Wasser  zuzugestehen,  der  für  ihn  ins 
Reich  der  Fabel  gehört.  Während  niemand  vor  ihm  eine  Erklärung 
gegeben  hatte,  die  nicht  mit  völlig  unbekannten,  unbegreiflichen 
Kräften  rechnete,  glaubte  er,  das  ganze  Gebiet  der  Erscheinungen 


—     126     — 

auf  die  einfachen  Sätze  seiner  Bewegungslehre  zurückgeführt  zu 
haben.  Selbst  in  der  einfachen  Übertragung  der  Pendelgesetze  auf 
die  Bewegung  der  Himmelskörper  schien  ihm  keine  Hypothese  zu 
liegen,  die  der  Rechtfertigung  bedürfe.  Je  weiter  er  auf  dem  ein- 
geschlagenen Wege  fortschritt,  um  so  mehr  schienen  die  Erfolge  den 
AVeg  zu  rechtfertigen,  um  so  sicherer  verhüllten  sie  ihm  den  Fehler 
in  der  Grundlage,  der  das  ganze  Gebäude  zur  luftigen  Schöpfung  der 
Phantasie  gestaltete.  Daß  ein  System  der  Flutbewegungen  mit  Not- 
wendigkeit aus  der  Bewegung  der  Erde  sich  ergeben  müsse,  galt  ihm 
zm*  Evidenz  ermesen;  die  siegesgewisse  Überzeugung  macht  ihn 
taub  gegen  jeden  Einwurf  aus  der  Erfahrung.  In  der  Tat  hat  es 
Galilei  nicht  übersehen  können,  daß  die  monatliche  wie  die  jährhche 
Periode,  die  er  folgerte,  mit  den  wklichen  Perioden  der  Flut- 
erscheinungen durchaus  nicht  zu  vereinen  waren.  Nach  seiner  Lehre 
hätten  die  Fluten  zur  Zeit  des  Neumonds  die  höchste,  zur  Zeit  des 
Vollmonds  die  geringste  Höhe  erreichen  müssen;  in  Wirklichkeit 
fallen  die  höchsten  Fluten  gleichmäßig  auf  Voll-  und  Neumond 
und  die  niedrigsten  in  die  Zeit  des  ersten  und  letzten  Viertels.  Ebenso- 
wenig entspricht  die  jährliche  Periode,  die  sich  ihm  als  einfache 
Konsequenz  der  copernicanischen  Lehre  ergibt,  dem  AAirklichen  Ein- 
fluß der  Jahreszeiten.  Nach  Galileis  Lehre  müßte  in  den  Solstitial- 
punkten  eine  Steigerung  stattfinden,  aber  die  Erfahrungen  wissen 
von  einer  solchen  Steigerung  nichts;  sie  lassen  viehnehr  die  höchsten 
Fluten  eintreten,  wenn  Voll-  und  Neumond  in  die  Zeit  der  Tag-  und 
Nachtgleiche  fallen,  also  in  einer  Zeit,  wo  für  Galilei  die  Ursache  der 
Fluten  am  schwächsten  wken  muß.  Gahlei  schweigt  von  diesen 
Widersprüchen;  er  redet  ebensowenig  von  der  wichtigen  Tatsache, 
die  am  meisten  auf  eine  Abhängigkeit  der  Flut  vom  Monde  hinweist: 
von  der  tägHchen  Verspätung  der  Flutzeit  um  etwa  48  Minuten  gegen 
die  des  vorhergehenden  Tages,  also  dieselbe  Zeit,  um  die  der  Eintritt 
des  Mondes  in  den  Meridian  sich  von  einem  Tag  zum  andern  ver- 
spätet. 

Die  übliche  Kritik  geht  mit  Bedauern  an  dieser  VerÜTung  des 
großen  Mannes  vorüber,  man  scheut  sich  nicht,  sein  Schweigen  über 
jene  ernsten  Schwierigkeiten  als  bewußte  Unwahrheit  zu  deuten. 
Ich  glaube,  daß  eine  solche  Beurteilungsweise  einem  großen  Forscher 
gegenüber  von  wissenschaftlicher  Auffassung  ebenso  weit  entfernt  ist 
wie  die  älteren  Fluttheorien,  die  in  der  feuchten  Natur  des  Mondes 


—     127     — 

oder  in  ähnlichen  Formen  der  Sympathie  die  Ursache  der  Meeres- 
bewegungen suchen. 

Es  war  in  der  Tat  ein  seltsames  Zusammentreffen,  daß  Galilei 
in  dem  großen  Kampf  für  die  copernicanische  Lehre  seine  besten 
Hoffnungen  auf  ein  Trugbild  setzte;  aber  es  heißt  nicht  erklären, 
sondern  auf  Erklärung  verzichten,  wenn  man,  um  alles  Befremdende 
zu  beseitigen,  anninmit,  er  selbst  habe  seine  Lehre  als  Täuschung 
erkannt  oder  doch  an  ihrer  Möglichkeit  gezweifelt,  bei  vollständiger 
Beherrschung  der  Einzelheiten  aus  ihr  die  ganze  Mannigfaltigkeit 
der  wirklichen  Erscheinungen  abzuleiten.  Galilei  hatte  vor  allen 
Dingen  eine  völlig  klare  Vorstellung  von  der  fortschreitenden  Wissen- 
schaft; er  wußte,  daß  seine  Arbeit  nur  ein  Anfang,  ein  Versuch  zur 
Erforschung  der  Wahrheit  sei,  daß  die  Vollendung  den  kommenden 
Generationen  zufalle;  wer  so  denkt,  kann  darum  nicht  minder  ver- 
meinen, im  Irrtum  die  volle,  fertige  Wahrheit  zu  besitzen,  aber  nie 
wü'd  er  fähig  sein,  der  künftigen  Forschung  als  Grundlage  und 
Ausgangspunkt  aller  weiteren  Erkenntnis  darzubieten,  was  er  als 
unzureichend  selbst  erkannt  hat,  was  er  selbst  vor  dem  ersten  scharfen 
Forscherblick  in  Trug  zerinnen  sieht. 

Nichts  rechtfertigt  den  Verdacht,  daß  Galilei,  als  er  die  Dialoge 
schrieb,  über  den  Grundfehler  seiner  Fluttheorie  nicht  mehr  im  Un- 
klaren gewesen  wäre ;  mit  derselben  Siegesgewißheit,  ^^ie  in  der  Skizze 
von  1616,  setzt  er  in  den  Dialogen  auseinander,  ^ne  aus  der  Zu- 
sammensetzung der  gleichförmigen  täglichen  und  der  gleichförmigen 
jährlichen  Bewegimg  als  L^rsache  der  Fluten  die  ungleichförmige 
Bewegung  der  einzelnen  Punkte  der  Erde  hervorgeht.  Salviati 
spricht  seine  Ver^^'lmderung  darüber  aus,  daß  einzelne  Forscher, 
die  einsichtsvoll  genug  waren,  die  Bewegung  der  Erde  zu  Hilfe  zu 
nehmen,  in  ihrer  Erklärung  völlig  gescheitert  seien,  weil  sie  über- 
sahen, daß  für  ihren  Zweck  eine  gleichförmige  Bewegung,  wie  die 
tägliche  der  Erde,  unbrauchbar  sei,  daß  es  vor  allem  darauf  ankomme, 
eine  Ungleichförmigkeit  nachzuweisen. 

So  lange  kein  Zweifel  die  Grundlage  dieser  Theorie  berührte, 
mußte  sie  ihm  als  notwendige  Wahrheit  erscheinen.  Er  hatte  bewiesen, 
daß  eine  Flut  entstehen  müsse,  wenn  die  Erde  sich  bewegt;  daß  nun 
in  Wirklichkeit  die  Meere  fluten  und  ebben,  schien  ihm  himeichend 
zu  bestätigen,  daß  er  richtig  gefolgert;  wenn  er  dann  in  der  wirklichen 
Welt  statt  der  Fluterscheinungen,   die  er  forderte,  andere  fand,  die 


—     128     — 

in  hervorragenden  Einzelheiten  seiner  Lehre  nicht  entsprachen  — 
so  waren  diese  Einzelheiten  doch  nimmermehr  ansreichend,  die 
Richtigkeit  der  ersten  Folgerung  zweifelhaft  zu  machen,  vielmehr 
war  —  wo  so  Großes  bereits  gewonnen  schien  —  die  Zuversicht 
gerechtfertigt,  daß  die  Widersprüche  sich  lösen,  die  Tatsachen  der 
Theorie  sich  fügen  würden,  wenn  nur  erst  die  Theorie  in  alle  ihre 
Konsequenzen  verfolgt  wäre,  das  tatsächliche  Material  zuverlässiger 
und  vollständiger  vorläge. 

Aber  auf  diesem  Wege  lag  hart  neben  dem  Zweifel  an  den  Tat- 
sachen der  Überlieferung  die  Vernachlässigung  der  Tatsachen  der 
wirklichen  Welt;  die  Selbsttäuschung,  die  dem  einen  wie  dem  andern 
zugrunde  lag,  war  vermutlich  die  Ursache,  wenn  er  sich  damit  begnügt, 
eine  monatliche  und  eine  jährliche  Periode  auch  aus  seiner  Theorie 
zu  folgern,  und  kein  Wort  darüber  verliert,  daß  diese  Perioden  denen 
nicht  entsprechen,  von  denen  die  Küstenbewohner  reden.  Je  weniger 
die  bekannten  Einzelheiten  sich  seiner  Deutung  fügten,  um  so  mehr 
verloren  fiur  Galilei  die  Einzelheiten  der  Erfahrung  an  GcAncht; 
die  Theorie,  deren  ursprüngHche  Aufgabe  die  Deutung  der  Tatsachen 
war,  wurde  ihm  mehr  und  mehr  eine  Wahrheit,  die  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  von  dem  Zeugnis  der  Erfahrung  unabhängig  war. 
Wenigstens  überredete  er  sich,  daß  es  für  ihn  genug  getan  sei,  der 
Welt  nach  so  viel  Verirrungen  den  einzigen  richtigen  Weg  der  Lösung 
gezeigt  zu  haben;  ausdiiicklich  verzichtet  er  in  den  Dialogen  auf  die 
Erklärung  der  einzelnen  Erscheinungen.  Er  gefällt  sich  in  dem  Gegen- 
satze, daß  die  andern  Untersucher  mit  vielen  Details  eine  unmögliche 
Deutung  verbinden,  während  er  zunächst  eine  rationelle  Deutung  ge- 
winnt und  vorsichtig  die  Deutung  des  Einzelnen  der  Zukunft  überläßt. 

So  kennzeichnet  die  ganze  Abhandlung  eine  überraschende 
Ai'mut  an  Erfahrungstatsachen;  von  den  wenigen,  die  er  erwähnt, 
gehört  die  größere  Zahl  den  Erscheinungen  des  IVIittelländischen 
Meeres  an.  Wenn  es  noch  einer  weiteren  Erklärung  für  die  Ent- 
stehung und  dauernde  Befestigung  seines  Irrtums  bedürfte,  würde 
man  sie  vielleicht  in  dieser  lokalen  Beschi'änkung  finden,  an  die 
seine  eigenen  Beobachtungen  gebunden  sind.  Selbst  in  Venedig,  wo 
die  Fluten  am  bedeutendsten  sind,  erreichen  sie  nicht  die  Großartig- 
keit wie  auf  dem  Ozean. 

Galileis  Flutlehre  ist  eins  der  merkwürdigsten  Beispiele  einer 
Erscheinung,  die  in  der  Geschichte  der  AVissenschaft  zu  allen  Zeiten 


—     129     — 

sich  wiederholt,  vorzugsweise  aber  in  den  Perioden  lebhafter  wissen- 
schaftlicher Entwicklung  und  in  dem  AVirken  bahnbrechender  Geister 
eine  Rolle  spielt. 

In  solchen  Perioden  und  bei  solchen  Männern  ist  das  Verlangen, 
Licht  zu  schaffen,  wo  bis  dahin  Dunkelheit  war,  ein  gesteigertes, 
leicht  genug  täuscht  es  über  die  Möglichkeit.  Der  neue  Gedanke, 
der  Licht  zu  geben  scheint,  verführt  dann  leicht  genug,  geleistet  zu 
sehen,  was  zu  leisten  ist;  eine  Lösung,  die  im  einzelnen  genügt,  muß 
dann  die  allgemeine  Lösung  sein;  alle  Lehren  über  die  Ausschließung 
einer  Deutung,  die  nicht  überall  genügt,  alle  Warnungen,  sich  auf 
ein  übersehbares  Gebiet  zu  beschränken,  die  Erfahrung  zur  Richterin 
zu  nehmen,  sind  verloren,  wenn  über  die  Phantasie  die  Aussicht 
Macht  gewinnt,  eine  neue  geistige  Welt  zu  erobern. 

Der  ängstliche  Forscher  im  kleinen,  der  feinste  Beobachter  legt 
dann  seine  Vorsicht  ab,  tut  der  Natur  Zwang  an,  ist  unwahr  gegen 
sich  selbst  und  andere,  ohne  es  zu  wissen  oder  zu  gestehen,  will  nicht 
sehen  und  hören,  was  ihn  widerlegt. 

Je  mehr  Raum  dann  durch  scheinbare  oder  wirkliche  Erfolge 
die  falsche  Vorstellung  gewinnt,  um  so  fester  wurzelt  sie;  die  Dauer 
ist  allein  eine  Ursache  weiterer  Befestigung;  wenn  dann  die  wider- 
sprechenden Tatsachen  zudringlicher  sich  geltend  machen,  dann 
kommt  es  dazu,  daß  man  sie  leugnet,  nicht  sehen,  lesen,  hören  will, 
und  Forscher  niederen  Ranges  können  dann  dem  großen  Manne  mit 
Recht  vorwerfen,  daß  er  den  Tatsachen  Zwang  antut,  seine  Worte 
gewinnen  den  Anschein,  als  ob  er  täuschen  wolle,  da  er  doch  nur  in 
Selbsttäuschung  befangen  ist.^ 

Der  Lehre  von  Ebbe  und  Flut  fügt  Galilei  auch  hier  ^vie  in  der 
Skizze  von  1616^  eine  Erörterung  über  die  Passatwinde  hinzu;  die 
Erklärung  ist  wieder  fast  wörtlich  dem  früheren  Entwurf  entnommen, 
so  gelten  ihm  auch  hier  die  Passatwinde  als  reine  Ost\\ände  und 


^  Alberi  irrt,  wenn  er  in  der  Abhandlung  gegen  Arago  meint,  daß  die 
Briefe  von  1638  Rückkehr  zum  Monde  bedeuten,  im  Gegenteil  bestätigen 
diese  Briefe,  daß  er  seiner  Theorie  treu  bleibt;  er  spricht  nur  von  Neu-  und 
Vollmond  und  scheint  hier  allerdings  nach  einer  Bestätigung  seiner  Theorie 
durch  die  Erfahrung  zu  verlangen,  die  nach  bekannten  Tatsachen  nicht 
stattfindet.  Keinesfalls  denkt  er  an  Wirkung  des  Mondes  in  Keplerschem 
Sinne. 

2  s.  Bd.  I,  Kap.  18,  S.  604 ff. 

Wohlwill    Galilei.    Bd.  II.  9 


—     130     - 

darum  als  unmittelbare  Wirkung  der  Erdbewegung.  Die  Luft  über 
den  großen  Meeren  nimmt  an  dieser  Bewegung  nicht  oder  doch  nur 
in  unvollkommener  Weise  Teil,  und  ihre  Ruhe  wird  von  den  Beob- 
achtern und  Seefahrern  der  Erde  als  Wind  empfunden. 

Die  Tatsachen,  auf  die   Galilei  bei  seiner  Erläuterung  Bezug 
nimmt,  beschränken  sich  auf  das  spärliche  Material  der  früheren 
Sckrift.   Auch  hier  war  seine  Vorstellung  abgeschlossen.   Von  anderer 
Seite  gab  es  kaum  einen  Versuch  der  Deutung.    Die  Schulgelehrten 
freilich,  die  durch  nichts  in  Verlegenheit  zu  setzen  waren,  ließen  über 
den  großen  Meeren  den  allgemeinen  24  stündigen  Wirbel  des  Primum 
mobile  zur  Erde  hinabreichen  und  die  Luft  mit  fortreißen.     Dem- 
gegenüber schien  Galileis  Lehre  eine  so  klare  mechanische  Anschauung 
zu  gewähren,  wie  die  tägUche  Bewegung,  die  Copernicus  lehrte,  im 
Vergleich  mit   dem   24  stündigen  ITmschwung   des   Sternenhimmels. 
Aber  Galilei  überhörte  auch  hier,  in  der  Sicherheit  des  Erfolgs  be- 
fangen,   den    Widerspruch    der    Erfahrung.      Er    selbst   hatte   von 
Buonamici   nähere  Auskunft  über  diese  Gegenstände   erbeten,   er 
hatte  hinzugefügt:  Erfahrungen  sind  die  Grundlage  der  Wissenschaft, 
und  Buonamici^  berichtet  ihm,    daß  in  den  Tropen  die  Seefahrer 
zuweilen  unter  der  Linie  von  völliger  Windstille  überrascht  werden, 
so  daß  die  Schiffe  unbeweglich  fest  liegen;  dies  sei  im  Jahre  1625 
Don  Federigo  von  Toledo  begegnet,  als  er  mit  der  königlichen  Armada 
nach  Bahia  (de  Todos  Santos)  in  Brasilien  gesegelt  sei,  um  die  Hol- 
länder, die  es  in  Besitz  genommen  hatten,  zu  vertreiben;  er  habe 
südwärts  fahren  wollen,  um  die  Höhe  des  Cap  Augustin  zu  erreichen, 
sei  dabei  aber  mehrere  Tage  wie  festgepflanzt  auf  der  Linie  liegen 
geblieben.    Durch  eine  ähnliche  Veranlassung  sei  einmal  eine  portu- 
giesische Flotte  zugrunde  gegangen,  da  die  Windstillen  (calme)  so 
lange  dauerten,  daß  die  Lebensmittel  ausgingen  und  die  Mannschaft 
Hungers  starb.    Man  sei  deshalb  jetzt,  um  die  Gefahr  zu  vermeiden, 
auf  die  Erfindung  von  Fahrzeugen  bedacht,  die,  wenngleich  hoch- 
bordig,  auch  ohne  Hilfe  des  Windes  sich  bewegen  lassen.    Buonamici 
fügt  verständig  hinzu,  daß  diese  Tatsachen  die  Erklärung  durch  das 
Primum  mobile  als  nichtig  erscheinen  lassen,  denn  in  diesem  habe 
man  eine  beständige  und  unveränderiiche  Ursache,  die  demnach,  was 
sie  gestern  bewkt  habe,  heute  und  morgen  und  immer  bewirken  raüsse^ 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  73—76. 


—     131     — 

Salviati  benutzt  genau  dasselbe  Arj^ument,  um  den  Simplicio 
zu  widerlegen,  der  die  Fluterscheinungen  durch  das  Primum  mobile 
erklären  möchte;  auf  diese  Weise,  meint  er,  lieJ3e  sich  nur  eine 
beständig  westwärts  gerichtete  Bewegung  der  Flut  begreifen;  eine 
solche  müßte  dann  beispielsweise  ein  Meer  wie  das  Mittelländische 
längst  trocken  gelegt  haben. 

Daß  aber  die  Erscheinung  der  Windstillen  unter  den  Tropen 
in  gleicher  Weise  die  neue  Deutung  der  Passat^^inde  unmöglich 
macht,  sieht  oder  sagt  Galilei  nicht,  die  merkwürdige  Tatsache,  von 
der  ihm  Buonamici  nach  dem  spanischen  Schriftsteller  Cespedes  und 
den  Erzählungen  erfahrener  Männer  berichtet,  findet  in  den  Dialogen 
keine  Erwähnung. 

Dagegen  führt  auch  dieses  Mal  Sagredo  ^  die  Erfahrung  der  vene- 
tianischen  Kaufleute  an,  nach  der  die  Seefahrt  im  ^Mittelländischen 
Meer  durchschnittlich  von  kürzerer  Dauer  sei,  wenn  sie  westwärts, 
als  wenn  sie  ostwärts  gerichtet  sei,  und  Salviati  ^  sieht  diese  Tatsache 
als  „eine  nicht  geringe  Bestätigung  der  Erdbewegung"  an;  allerdings, 
meint  er,  könne  man  sagen,  die  ganze  Wassermasse  des  Mittehneers 
habe  eine  westliche  Strömung,  um  ins  Weltmeer  zu  entladen,  was 
ihm  die  großen  Ströme  zuführen;  er  glaubt  jedoch  nicht,  daß  dieser 
Zufluß  eine  Strömung  erzeugen  könnte,  die  für  sich  allein  genügte, 
einen  Geschwindigkeitsunterschied  von  25%  bei  Hin-  und  Rückfahrt 
zu  erklären;  auch  sieht  man  in  der  Meerenge  von  Messina  das  Wasser 
ebensowohl  ost-  als  westwärts  fluten. 

So  bieten  sich  von  allen  Seiten  her  dem  aufmerksamen  Forscher 
Erscheinungen,  die  auf  die  Bewegung  der  Erde  zum  mindesten  hin- 
deuten; Galilei  unterscheidet  sie  wohl  von  den  entscheidenden  Be- 
weisen ;  als  solche  hebt  Sagredo  ^  schließlich  nur  die  drei  hervor :  die 
Rückgänge  und  Stillstände  der  Planeten  in  Verbindung  mit  der 
Änderung  ihres  Abstands  von  der  Erde,  die  scheinbare  Veränderung 
in  der  Bewegung  der  Sonnenflecken  und  die  Flut  und  Ebbe  des 
Meeres.  „Vielleicht",  fügt  Salviati  hinzu*,  „wird  sich  den  dreien  in 
der  Kürze  der  vierte  anschließen,  wenn  es  nämlich  bei  einer  genaueren 
Beobachtung  der  Fixsterne  geläuge,  jene  überaus  geringe  Änderung 

1  Ed.  Naz.  VII  p.  466. 

2  Ed.  Naz.  VII  p.  466  f. 

3  Ed.  Xaz.  VII  p.  487. 
*  Ed.  Xaz.  VII  p.  487. 


—     132     — 

der    Stellungen   zu   erkennen,    die   Copernicus   für   unwahrnehmbar 
gehalten  hat.^ 

„Ganz  kürzlich",  fährt  Salviati  fort,  „ist  dann  eine  Entdeckung 
bekannt  geworden,  die  vielleicht  als  fünfter  Beweis  für  die  Bewegung 
der  Erde  gelten  kann.  Es  macht  nämlich  der  Herr  Caesar  aus  dem 
edlen  Haus  der  Marsili  in  einer  gelehrten  Schrift^  die  Mitteilung, 
daß  er  eine  beständige,  weimgleich  überaus  langsame  Veränderung 
der  Meridianlinie  beobachtet  hat."  GaUlei  benutzt  die  Gelegenheit, 
um  den  Freund  als  wahren  Beschützer  der  Wissenschaft  zu  ehren, 
von  dem  sich  nur  Vortreffliches  erwarten  lasse. 


1  Vergl.  oben  Galileis  Vorstellungen  über  die  Entfernung  und  die  Art 
dieser  Beobachtungen. 

»  Ed.  Naz,  XIV  p.  225—226. 


Fünftes  Kapitel. 

Zum  viertenmal  in  ßom. 


Das  Buch  war  geschrieben,  von  neuem  durchgesehen  und  ab- 
geschrieben, nun  konnte  Gahlei  die  Stunde  nicht  erwarten,  es  nach 
Rom  zu  bringen.  In  Rom  mußte  sich  entscheiden,  ob  es  leben  und 
wirken  sollte,  nur  in  Rom  konnte  es  gedruckt  werden.  Dieses  Mal 
hatte  er  nicht,  wie  vor  sechs  Jahren,  den  eigentlichen  Zweck  seiner 
Reise  verschwiegen;  nicht  nur  die  gleichgesinnten  Freunde,  auch  der 
Großherzog  und  der  Hof  wußten  von  dem  Buche  und  sahen  mit 
S])annung  seiner  Aufnahme  bei  den  römischen  Autoritäten  entgegen. 
So  durfte  auch  Galileis  Auftreten  in  Rom  der  sichtbare  Schutz  seines 
Fürsten  nicht  fehlen.  Eine  großherzogliche  Sänfte  erwartete  ihn 
vor  dem  Kloster,  in  dem  er  sich  von  seinen  Töchtern  verabschiedete. 
Wie  in  den  Jahren  1611  und  1615  wurde  ihm  der  Palast  des  großherzog- 
lichen Gesandten  zur  Wohnung  angewiesen.  Am  3,  Mai  1630  traf  er 
in  Trinitä  de  Monti  ein.  Als  Gesandter  war  hier  seit  1621  jenem 
übelwollenden  Guicciardini  Francesco  Niccolini  gefolgt.  Anders  als 
in  den  schweren  Tagen  von  1616  gestaltete  sich  in  den  Wochen  seines 
Aufenthalts  das  Verhältnis  des  berühmten  Gastes  zu  seinen  Wirten 
in  der  Villa  Medici.  Man  empfindet  den  Zauber  seiner  Persönlichkeit 
in  den  Worten,  mit  denen  Xiccolini  dem  Florentiner  Minister  ant- 
wortet, als  dieser  gemeint,  daß  Galilei  ihm  unerw^ünscht  gekommen 
sei:  „Wir  alle  in  diesem  Hause",  schreibt  er,  „haben  größte  Freude 
an  seiner  geistreichen  und  überaus  liebenswwdigen  Unterhaltung, 
und  sehr  merkwürdig  wird  es  uns  vorkommen,  wTun  er  uns  wieder 
verläßt,  um  nach  Florenz  zurückzukehren."  Zu  wahren  Freunden 
wurden  Galilei  in  diesen  Wochen  der  Gesandte  und  seine  feinsinnige 
Gattin.     Es   bedurfte  kaum   noch  der  Weisungen  aus  Florenz,  um 


—     134     — 

beide  zu  eifrigem  Bemühen  um  die  Förderung  der  Angelegenheit, 
die  ihn  nach  Rom  geführt  hatte,  anzuregen. 

Xur  dürftige  Mitteihmgen  sind  uns  über  den  Verlauf  der 
Verhandlungen  erhalten,  durch  die  im  Mai  und  Juni  1630  eine 
vorläufige  Erledigung  erzielt  wurde.  Von  den  Briefen,  die  Galilei 
in  jenen  Tagen  in  die  Heimat  gesandt  hat,  ist  keiner  erhalten,  von 
den  übrigen  nur  zwei  Ivurze  Zuschriften  an  Michelangelo  Buonarotti 
in  Rom,  von  denen  nur  der  eine  zwar  nicht  das  Buch  „über  Ebbe 
und  Flut",  aber  Verleumdungen  betrifft,  durch  die  man  den  Papst 
und  den  Kardinal-Nepoten  zuungunsten  des  Verfassers  zu  beein- 
flussen versucht  hatte.  Es  hatten  nämlich  in  jenen  Tagen  eifrige 
Astrologen  in  den  Sternen  gelesen,  daß  der  Tod  des  regierenden  Papstes 
noch  im  Jahre  1630  zu  erwarten  sei;  von  anderer  Seite  war  die  Deutung 
bestritten;  zum  ^Mißbehagen  des  Papstes  und  seiner  Angehörigen 
bildete  bald  die  Prophezeiung  und  der  Widerspruch,  zu  dem  sie  Ver- 
anlassung gab,  den  Gegenstand  der  öffentlichen  Gespräche;  je  nach- 
dem man  der  spanischen  oder  der  französischen  Partei  am  römischen 
Hofe  angehörte,  knüpfte  man  hier  Hoffnungen,  dort  Befürchtungen 
an  die  Berechnungen  der  Astrologen.  Zu  dem  namhaftesten  unter 
diesen,  dem  Abt  Orazio  Morandi^,  stand  Galilei  in  persönlichen 
Beziehungen.  War  es  die  Kunde  von  diesem  Verhältnis,  die  zu  Ver- 
dächtigungen Anlaß  gab,  war  es  Galileis  astronomischer  Beruf,  der 
immer  auf  der  Lauer  liegenden  Feinden  genügte,  gewiß  ist,  daß  sie 
das  ihre  taten,  ihn  als  beteiligt  an  den  bedenklichen  Prophezeiungen 
erscheinen  zu  lassen.  So  konnte  am  18.  Mai  Antonio  Badelli  nach 
Modena  berichten  ^r  der  berühmte  Mathematiker  und  Astrolog  Galilei 
sei  in  Rom  eingetroffen,  er  beabsichtige,  ein  Buch  drucken  zu  lassen, 
in  dem  er  viele  von  den  Jesuiten  vertretene  Meinungen  bekämpft. 
Auch  habe  er  sich  vernehmen  lassen,  daß  Frau  Anna,  die  Gattin 
des  Herrn  Thadeo  Barberini  einen  Knaben  gebären  werde,  daß  zu 
Ende  Juni  in  Italien  der  Friede  hergestellt  sein  und  bald  darauf  der 
Herr  Thadeo  Barberini  und  der  Papst  sterben  werden. 

Das  also  verbreitete  man  in  jenen  Tagen  in  Rom.  Die  Intrigue, 
die  aus  den  Worten  hervorleuchtet,  erwies  sich  als  unwirksam.  Als 
Michelangelo  Buonarotti  die  Gelegenheit  einer  Unterredung  mit  dem 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  107,  134,  135. 

2  Ed.  Naz.  XIV  p.  103,  XV  p.  115.  16A.  168,  173. 


—     135     — 

Kardinal  Francesco  Barberini  walu-nahni,  um  von  den  verleumderisch 
verbreiteten  Erzählungen  zu  sprechen,  ließ  ihn  der  Kardinal  nicht 
ausreden:  es  sei  jemand  bei  ihm  gewesen,  sagte  er,  der  in  solcher 
verdächtigenden  Weise  von  Galilei  gesprochen  habe;  er  aber  habe 
ihm  das  Wort  abgeschnitten  und  ihm  gesagt,  Galilei  habe  keinen 
größeren  Freund  als  ihn  und  den  Papst  selbst,  er  wisse,  wer  er  sei, 
und  wisse,  daß  er  solche  Dinge  nicht  im  Kopfe  habe,  worauf  dann 
der  Denunziant  beschämt  verstummt  sei.  Als  Buonarotti  sich  dann 
über  die  Nichtswürdigkeit  solcher  elender  Zuträger  äußerte,  ließ  der 
Kardinal  keinen  Zweifel,  daß  er  die  Intrigue  vollständig  durchschaue. 
Nicht  für  Galilei,  sagt  er,  sei  ein  solches  Vorgehen  beleidigend,  sondern 
für  ihn  selbst,  wenn  man  boshaften  Sinnes  darauf  rechnete,  daß  er 
den  Schluß  ziehen  würde:  da  ist  ein  großer  Mathematiker  nach  Rom 
gekommen,  folglich  ist's  ein  großer  Astrolog,  und  so  auf  ihn  die 
Konstruktion  seiner  Fabel  basierte.  Er  wolle  den  Böswilligen  zeigen, 
fügte  er  hinzu,  daß  er  solchen  Dingen  keinen  Glauben  schenke,  er 
habe  gerade  deshalb  die  Absicht  gehabt,  Galilei  zum  Mittagessen 
einzuladen,  was  verschiedener  Umstände  halber  noch  nicht  ge- 
schehen sei. 

Mit  Befriedigung  las  Galilei,  was  ihm  der  Freund  über  seine 
Unterredung  berichtete.  „Euer  Brief",  erwiderte  er,  „gibt  mii*  die 
Gewißheit,  daß  mein  Glück  nicht  aus  der  Art  schlägt,  denn  es  ist 
immer  so  gewesen,  daß  mir  Nutzen  und  Ehre  aus  den  Verleumdungen 
böswilliger  Gegner  hervorging." 

In  diesen  siegesgewissen  Worten  klingt  zugleich  die  Genug- 
tuung über  die  Aussichten  auf  einen  vollen  Erfolg,  den  ihm  die  Ver- 
handlungen über  die  Veröffentlichung  seines  Buches  eröffnet  hatten. 

Über  die  Natur  dieser  entscheidenden  Verhandlungen  sind  viel- 
fach irrtümliche  und  unklare  Darstellungen  verbreitet.  Verbürgt  ist 
durch  unzweideutige  Äußerungen  in  Galileis  Korrespondenz,  daß  er 
den  größten  Wert  darauf  gelegt  hat,  sich  im  voraus  einer  günstigen 
Stimmung  des  Mannes  zu  versichern,  dem  kraft  seines  Amtes  die 
Beurteilung  der  „Dialoge"  zufallen  mußte,  und  daß  in  gleicher  Rich- 
tung die  Freunde  in  Rom,  wie  die  Gönner  in  Florenz  ihren  Einfluß 
zu  üben  bemüht  gewesen  sind.  Trotzdem  diese  Bemühungen  im 
ferneren  Verlauf  der  Verhandlungen  über  den  Druck  des  Buches 
eine  große  Rolle  spielen  und  auch  in  des  Zensors  eigenem  späteren 
Bericht  Erwähnung  finden,  darf  man  doch  nicht  glauben,  daß  es  auf 


—     136     — 

den  guten  "Willen  zu  wohlwollender  Handhabung  des  Richteramts 
in  Galileis  Fall  in  erster  Linie  angekommen  wäre.  AVcder  Galilei  noch 
seine  Freunde  sind  darüber  im  Zweifel  gewesen,  daß  der  Beurteilung 
des  Zensors  die  Entscheidung  eines  Höheren  darüber  vorhergehen 
mußte,  ob  eine  Verteitigung  der  copernicanischen  Lehi-e  in  der 
eigentümlichen  Fassung,  wie  Galilei  sie  zu  geben  wagte,  gestattet 
sein  sollte.  Ohne  Zw^eifel  lag  in  seinem  Bemühen,  außer  Frage  zu 
stellen,  daß  die  als  falsch  gekennzeichnete  Lehre  als  ,,wahr  in  der 
Philosophie"  betrachtet  werden  dürfe,  ein  Versuch,  die  Grundlagen 
der  Index-Kongregation  zu  erschüttern,  der  dem  Ungehorsam  gegen 
dieses  Dekret  außerordenthch  nahe  kam.  A'ur  der  Papst  in  Person 
komite  eine  solche  —  wenn  auch  verhüllte  —  Abweichung  von  den 
Entscheidungen  seines  Vorgängers  für  zulässig  erklären,  nur  er  die 
Bedingungen  bezeichnen,  an  die  in  solchem  Falle  die  Zustimmung 
des  Zensors  gebunden  sein  sollte. 

Dementsprechend  sagt  auch  Riccardis  später  erstatteter  Bericht, 
daß  er,  als  Galilei  mit  seinem  Buch  nach  Rom  gekommen,  um  das- 
selbe re\ädieren  zu  lassen,  zunächst  dem  Papst  davon  Mitteilung 
gemacht  und  dessen  Befehle  empfangen  habe.^  Eine  Weisung  des 
Papstes  ist  also  für  seine  Handhabung  der  Zensur  maßgebend  gew^esen. 
Der  Weisung  aber  w^ar  die  Unterredung  Urbans  mit  Galilei  voraus- 
gegangen, in  der  dieser  zum  erstenmal  Gelegenheit  hatte,  den  Papst 
über  den  Plan  seines  Buches  aufzuklären. 

Den  Hauptpunkt  dieses  Planes  bildete  der  Gedanke,  der  an  der 
Spitze  des  Briefs  an  Monsignor  Ingoli  steht,  die  Einführung  der 
Beweise  für  die  copernicanische  Lehre  nicht  als  solcher,  sondern  als 
Inbegriff  dessen,  was  man  in  Rom  bei  der  Verdammung  dieser  Lehre 
über  ihren  wissenschaftlichen  Wert  gewußt  habe,  also  die  Verwertung 
dieser  Beweise  zur  Verteidigung  der  Kongregationen  gegen  die  Be- 
schuldigung, verurteilt  zu  haben,  was  sie  nicht  kannten. 

Mußte  Galilei  nach  den  Erfahrungen  des  Jahres  1624  darauf 
verzichten,  als  guter  Katholik  in  unverhüllter  Darstellung  von 
Copernicus  zu  reden,  wie  er  dachte,  so  durfte  er  doch  hoffen,  einen 


''■  An  der  betreffenden  Stelle  wird  weder  der  Papst  noch  der  Maestro 
di  Sacro  Palazzo  genannt.  Es  heißt  nur:  Communicato  il  negotio  et  havuto 
ordine  (vergl.  v.  Gebier,  Die  Acten  des  Galilei' sehen  Processes,  Stuttgart  1877, 
S.  54).  Es  kann  aber  ein  Zweifel  darüber,  wer  hier  einen  Befehl  erteilt,  ganz, 
ebensowenig  Raum  finden,  wie  über  die  Person  des  Mitteilenden, 


—     137     — 

Papst,  der  gegen  den  Vorwurf  der  Unwissenschaftlichkeit  nicht  gleich- 
gültig war,  für  eine  Vermittlung  zu  gewinnen,  die  das  Ansehen  der 
kirchlichen  Entscheidungen  unangetastet  ließ.  ])aß  Urban  in  der 
langen  ersten  Audienz,  die  er  Galilei  am  18.  Mai  1630  gewährte, 
seinem  Plan  im  wesentlichen,  wenn  auch  unter  Bedingungen  und 
Vorbehalten,  seine  Zustimmung  erteilt  hat,  lassen  lebhafte  Äußerungen 
der  Befriedigung,  zu  denen  Galileis  Bericht  den  Florentiner  Freunden 
Veranlassung  gab,  als  höchst  wahrscheinlich  ansehen;  in  unzwei- 
deutigen Worten  zeugt  für  ein  solches  Ergebnis  ein  amtliches  Schreiben 
des  Palastmeisters  Riccardi,  das  in  Abschrift  unter  den  Akten  des 
Galileischen  Prozesses  erhalten  ist  und  in  gleichlautendem  Original 
im  Archiv  der  Florentiner  Inquisition  bewahrt  wird.  ..Es  ist  der 
Wille  unseres  Herrn",  so  schreibt  am  21.  Mai  1631  P.  Riccardi  an  den 
Inquisitor  von  Florenz^,  „daß  als  Titel  und  Gegenstand  (des  Buches) 
nicht  angegeben  werde:  ,,von  Flut  und  Ebbe",  sondern  durchaus 
„von  der  mathematischen  Betrachtung  der  copernicanischen  An- 
nahme über  die  Bewegung  der  Erde",  ausgeführt  in  der  Absicht  zu 
beweisen,  daß,  wenn  nicht  Rücksicht  genommen  wird  auf  die  Offen- 
barung Gottes  und  die  heilige  Lehre  —  die  Erscheinungen  bei  dieser 
Annahme  erklärt  werden  könnten,  unter  Widerlegung  aller  entgegen- 
stehenden Argumente,  die  aus  der  Erfahrung  und  der  peripatetischen 
Philosophie  sich  vorbringen  ließen,  so  daß  niemals  die  absolute 
Wahrheit  dieser  Meinung  zugestanden  wd,  sondern  nur  die  hypo- 
thetische und  ohne  Rücksicht  auf  die  Schriften,  Es  soll  auch  darauf 
hingewiesen  werden,  daß  der  alleinige  Zweck  dieser  Arbeit  sei,  zu 
beweisen,  daß  man  alle  Gründe  wisse,  die  für  diese  Ansicht  sich  an- 
führen lassen,  und  daß  nicht,  weil  man  sie  nicht  weiß,  in  Rom  dieses 
Urteil  erlassen  worden  ist." 

Eben  diese  Absicht  des  Buches  sollte  in  der  Vorrede  zur  Sprache 
gebracht,  auf  sie  auch  in  der  Schlußbetrachtung  zurückgekommen 
werden,  in  der  letzteren  hätte  überdies  Galilei  die  ihm  vom  Papst 
namhaft  gemachten  Gründe  von  der  göttlichen  Allmacht  hinzu- 
zufügen, „die  den  Verstand  beruhigen  müssen,  wenn  man  auch  sich 
den  pythagoreischen  Argumenten  nicht  entziehen  könnte". 

Wie  immer  im  einzelnen  Urbans  Weisungen  gelautet  haben 
mögen,  ihr  Inhalt  ist  durch  diese  Instruktion,  in  der  Riccardi  dem 


'  Ed.  Naz.  XIX  p.  .327. 


—     138     — 

Florentiner  Inquisitor  zu  \^issen  gibt,  was  ihm  selbst  zur  Pflicht 
gemacht  war,  in  ausreichender  Weise  angegeben.  Vor  allem  war 
Galilei  seinem  Vorschlage  gemäß  gestattet,  zu  beweisen,  daß  man 
in  Rom  „alle  Gründe  füi*  die  copernicanische  Lehre  kenne." 

Alle  Gründe  —  das  konnte  für  ihn  nichts  anderes  bedeuten, 
als  alles,  was  er  selbst  als  Beweis  für  die  Überlegenheit  und  Wahr- 
heit der  copernicanischen  Lehre  erkannt  hatte,  mit  Einschluß  auch 
des  eigentümlichen  Beweises,  der  Urban  ein  Dorn  im  Auge  war,  der 
Folgerung,  daß  die  Erde  sich  bewegen  muß,  weil  nur  durch  die  Be- 
wegung die  Fluterscheinungen  begreiflich  werden,  denn  daß  auch 
dieser  unter  den  Gründen,  die  man  in  Rom  gekannt,  genannt  und 
ausgeführt  werden  sollte,  darf  der  Anordnung  über  die  Einfügung 
des  päpstlichen  Arguments  entnommen  werden.  Die  Forderung, 
daß  im  Schlußwort  Urbans  Widerlegung  zur  gebührenden  Geltung 
gebracht  werde,  hatte  zur  Voraussetzung,  daß  im  vorhergehenden 
der  Beweis,  gegen  den  die  Widerlegung  sich  richtete,  in  ausreichender 
Weise  zu  Worte  gekommen  war. 

Dem  Zugeständnis  aber,  das  dem  Denker  und  Forscher  weitesten 
Spielraum  zu  gewähren  schien,  standen  zwei  Beorderungen  gegenüber, 
die  ihm  Schranken  auferlegten.  Von  geringerer  Bedeutung  war,  daß 
durch  die  Anordnung  über  den  Titel  des  Buches,  die  der  Abneigung 
des  Papstes  gegen  den  Flutbeweis  scharfen  Ausdruck  gab,  Galileis 
Absicht  durchkreuzt  wurde.  Was  im  Titel  und  in  der  Einführung  der 
Dialoge  zurücktreten  mußte,  blieb  darum  nicht  weniger  im  Buche 
bedeutsam  und  nach  Galileis  Vorstellung  uuAviderstehlich-  über- 
zeugend. 

Ernsteres  forderte  die  Vorschrift,  die  den  Vortrag  der  coperni- 
canischen Lehre  in  den  Grenzen  der  mathematischen  Hypothese 
gehalten,  ihre  Verwendung  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  ge- 
stattet, aber  jede  Verteidigung  ihrer  absoluten  Wahrheit  aus- 
geschlossen A\'issen  wollte.  Das  war  die  Forderung  der  Dela-ete  von 
1616  und  1620,  die  Beschränkung,  in  der  auch  Bellarmin  die  Be- 
nutzung der  copernicanischen  Lehre  für  erlaubt  gehalten  hatte.  Es 
war  derselbe  Anspruch,  in  dem  Galilei  schon  damals  eine  unerträg- 
liche Belastung  des  Gewissens  für  den  wissenschaftlich  Denkenden 
gesehen,  und  dem  er  dennoch,  nachdem  die  Entscheidung  gefallen 
war,  in  nie  ganz  unterdi'ücktem  Widerstreben  sich  unterworfen  hatte. 
Also   wäre  kein  L^nt erschied  für  den  gewissenhaft  nach  Wahrheit 


—     139     — 

Strebenden  gewesen  zwischen  dem  wissenschaftsfeindlichen  Regiment 
eines  Paul  V.  und  dem  des  mit  Jubel  begrüßten  Beschützers  der 
Wissenschaft,  des  Mannes,  der  Galileis  Entdeckungen  besungen,  an 
jedem  seiner  Werke  sich  erfreut,  und  der  gesagt  hatte,  daß  mit  seinem 
AVillen  jene  Dekrete  nicht  erlassen  worden  wären?  Es  schien  so, 
aber  doch  nur  nach  dem  Klang  der  Worte,  denn  der  Sinn  der  Forderung 
mußte  ein  anderer  sein,  nachdem  der  Papst  seine  Zustimmung  dazu 
gegeben  hatte,  daß  Galileis  Buch  in  voller  Ausführung  zur  Sprache 
bringe,  was  man  zugunsten  der  copernicanischen  Lehre  zu  sagen 
\dsse.  Er  sollte  beweisen  dürfen,  daß  —  wenn  nicht  die  Worte  der 
Schrift  und  die  übliche  Weise,  sie  auszulegen  —  im  Wege  ständen, 
nichts  Stichhaltiges  gegen  die  Annahme  einer  Bewegung  der  Erde 
spreche,  sollte  also  alle  Schwierigkeiten,  die  sie  dem  Verständnis 
der  Zeitgenossen  boten,  in  klarer  Darstellung  und  mit  Hilfe  all  seiner 
neuen  Erkenntnis  aus  dem  Wege  räumen  dürfen,  sollte  in  jeder  seiner 
vergleichenden  Ausführungen  die  ungeheure  Überlegenheit  der  neuen 
Weltanschauung  hervorleuchten  lassen  und  von  der  Planetennatur 
der  Erde  und  von  der  Erdnatur  der  Planeten  reden  dürfen,  wie  er 
dachte  und  wie  es  sein  Xuncius  Sidereus  dargestellt  hatte.  Dem- 
gegenüber würde  die  Forderung  der  Beschränkung  auf  hypothetische 
Darstellung  nur  dann  Unerträgliches  bedeutet  haben,  wenn  sie  in 
Wahi'heit  auch  jetzt  noch  im  Sinne  Pauls  V.  und  Bellarmins  erhoben 
wäre,  wenn  sie  meiir  enthalten  hätte,  als  die  Anweisung,  in  Form 
und  Ausdrucksweise  zu  vermeiden,  was  den  Delvi'eten  widersprach: 
in  den  Ausführungen  das  abschließende  Wort  zu  unterdrücken,  durch 
das  die  Auflehnung  gegen  die  kirchliche  Entscheidung  faßbar  wurde. 
In  der  hier  angedeuteten  Weise  hat  Galilei  die  Pflicht  der  Selbst- 
beschränkung aufgefaßt  und  geglaubt,  so  der  zwiefachen  Aufgabe 
genügen  zu  können,  der  Anerkennung  der  copernicanischen  Lehre 
durch  die  Kirche  die  AVege  zu  bahnen,  ohne  den  noch  in  Kraft  stehen- 
den kirchlichen  Entscheidungen  zu  widersprechen.  Dürfen  wii-  an- 
nehmen, daß  in  dem  Buche,  das  er  im  Mai  1630  dem  römischen 
Zensor  übergab,  die  Anordnung  der  Zutaten  und  Einschaltungen, 
durch  die  er  den  äußeren  Bedingungen  der  Veröffentlichung  Rechnung 
tnig,  im  wesentlichen  eben  die  gewesen  ist,  die  wir  in  den  ,, Dialogen 
über  die  beiden  Hauptweltsysteme"  kennen,  so  war  es  die  Vorrede,  in 
der  er  seiner  unbedingten  Futerwerfung  unter  die  Entscheidung  der 
Kongregation  Ausdruck  gab,  in  bestimmten  Worten  anerkannte,  daß 


—     140     — 

dieselbe  durch  die  Rücksicht  auf  die  Heihge  Schrift  bedingt  und 
gerechtfertigt  gewesen  sei,  und  als  Zweck  des  Buches  hinstellt,  zu 
zeigen,  daß  man  in  Eom  im  Jahre  1G16  gewußt  habe,  was  zugunsten 
der  copernicanischen  Lehre  spreche. 

Dem  Zensor,  dem  von  Urban  der  Maßstab  der  Beurteilung 
gegeben  war,  blieb  es  überlassen,  zu  ermessen,  ob  mit  solcher  Ein- 
führung und  der  vorsichtigen  Zurückhaltung  in  der  Verwertung  der 
wissenschaftlichen  Begründung  den  gestellten  Forderungen  in  Wahr- 
heit entsprochen  sei;  ihm  lag  es  ob,  sofern  ihm  in  den  Darlegungen 
die  Hinneigung  zum  Glauben  an  die  absolute  Wahrheit  des  Erwiesenen 
zu  st^rk  hervorzutreten  schien,  dem  Verfasser  hypothetische  Ab- 
schwächung  aufzuerlegen,  für  den  Fall,  daß  ihm  auf  diesem  Wege 
nicht  erreichbar  schien,  was  das  Interesse  der  Kirche  forderte,  dem 
Buche  die  Erlaubnis  zum  Druck  zu  versagen  und  in  diesem  Sinne 
dem  Papste  Bericht  zu  erstatten. 

Sich  in  letzterer  Richtung  zu  entscheiden,  hätte  ohne  Zweifel 
demjenigen  als  die  nächstliegende  Lösung  seiner  Aufgabe  erscheinen 
müssen,  der  bei  genügender  Befähigung,  Galilei  zu  folgen  und  die 
Macht  seiner  Beweisführung  zu  empfinden,  begriffen  hätte,  daß  mit 
allen  Beschränkungen  der  Form  das  Buch  eine  Verteidigung  der 
copernicanischen  Lehre  bleiben  mußte,  und  der  dieser  Erkenntnis 
gegenüber  eine  andere  Rücksicht  als  die  auf  strenge  Aufrechterhaltung 
des  Ansehens  der  kirchlichen  Dekrete  nicht  gekannt  hätte.  Nun 
hatte  aber  kein  geringerer  als  der  Papst  jeden  Zweifel  darüber,  daß 
mit  dieser  Rücksicht  die  klare  Darlegung  der  wissenschaftlichen 
Beweise  vereinbar  sei  und  sein  müsse,  durch  seine  Weisungen  aus- 
geschlossen. Schon  durch  die  Willensäußerung  des  Papstes  also  war 
der  Meister  vom  heiligen  Palast  darauf  angewiesen,  seine  Forderungen 
in  derselben  Richtung  zu  halten,  in  der  Galilei  selbst  sich  die 
Schranken  gezogen  hatte;  es  ist  außer  Frage,  daß  er  auch  in  dieser 
Richtung  gewaltet  hat.  Als  naher  Freund  der  Freunde  des  Ver- 
fassers, unter  dem  starken  Einfluß  seiner  Gönner  und  nicht  zuletzt 
als  aufrichtiger  Verehrer  Gahleis  hat  Mccolö  Riecardi  sich  der  Be- 
urteilung der  ..Dialoge  über  Ebbe  und  Flut"  unterzogen.  Er  hatte, 
so  berichtet  er  später,  alsbald  erkannt,  daß  Galileis  Buch  der  Forde- 
rung strenger  hypothetischer  Beschränkung  nicht  entspreche,  daß  es 
vielmehr  die  Beweise  für  und  wider  den  Copernicus  vorbringe,  ohne 
eine  Entscheidung  zu  treffen.     Nichts  deutet  an,  daß  er  versucht 


—     141     — 

oder  Galilei  zu  dem  Versuch  veranlaßt  habe,  eine  Umgestaltung^ 
des  Buches  oder  einzelner  Teile  vorzunehmen,  durch  die  wenigstens 
im  sprachüchen  Ausdruck  die  Absicht,  sich  hypothetisch  zu  be- 
schränken, besser  erkennbar  geworden  wäre. 

Die  eigentliche  Revision  des  Buches  wurde  von  liiccardi  seinem 
Ordensgenossen  und  Gehilfen,  dem  P.  Rafaello  Visconti  übertragen, 
der  als  Mathematiker  für  seine  Aufgabe  die  Kenntnisse  mitbrachte, 
die  dem  P.  Maestro  fehlten.  Es  wurde  nicht  versäumt,  auch  ihn 
mit  den  Mitteln  von  erprobter  Wiiksamkeit  zu  beeinflussen.  Auf 
GaUleis  Ersuchen  richtete  man  von  Florenz  aus  an  den  P.  Visconti 
die  Aufforderung,  sich  die  leichte  und  schnelle  Erledigung  der  Prüfung 
angelegen  sein  zu  lassen;  er  werde  dadurch,  durfte  der  Schreiber 
hinzufügen,  auch  den  Prinzen  Johann  Karl  von  Medici  sich  zum 
Dank  verpflichten,  Galilei  selbst  fand  bei  einem  Mittagessen,  zu  dem 
ihn  P.  Orazio  Morandi^  einlud,  die  erwünschte  Gelegenheit,  seinem 
Zensor  persönlich  näher  zu  treten.^ 

Leicht  und  schnell  entledigte  sich  P.  Visconti  seiner  Aufgabe. 
Kur  Kleinigkeiten  (coselle)  waren  es,  die  er  unter  Galileis  Zustimmung 
veränderte.  Auch  P.  Riccardi  bezeichnete  dann  noch  geringfügige 
Verbesserungen  als  wiinschenswert,  erklärte  sich  im  übrigen  für 
befriedigt  und  gab  dann  dem  Buche  sein  Imprimatur.  In  münd- 
licher Verabredung  blieb  dabei  die  Änderung  des  Titels  und  aller 
derjenigen  Teile  des  Buches  vorbehalten,  die  mit  der  beseitigten 
ursprünglichen  Bezeichnung  seines  Hauptgegenstandes  im  Zusammen- 
hang standen.  Insofern  war  also  die  erteilte  Erlaubnis  nur  eine 
bedingte.  Es  klingt  nicht  unwahrscheinlich,  wenn  später  Riccardi 
behauptet,  daß  er  sie  zunächst  nur  gew^ährt  habe,  um  Galilei  Freiheit 
für  die  Verhandlungen  mit  dem  Drucker  zu  geben,  dabei  aber  auf 
eine  zweite  Revision  gerechnet  habe.  Nicht  ohne  weiteres  war  voraus- 
zusehen, inwieweit  durch  die  Umgestaltung  der  „Dialoge  über  Ebbe 


^  Die  entgegenstehende  Auffassung,  die  sich  an  den  späteren  Bericht 
Riccardis  knüpft,  wird  widerlegt  durch  den  Text  der  ,, Dialoge  über  die  beiden 
Hauptweltsysteme",  für  den  genau  zutrifft,  was  Riccardi  von  der  ihm  zur 
Zensxir  übergebenen  Handschrift  sagt. 

-  Derselbe,  der  bald  darauf  in  den  Astrologenprozeß  verwickelt  wurde 
und  schon  am  30.  Oktober  1630  im  Gefängnis  der  Inquisition  sein  Ende  fand 
(Ed.  Naz.  XIV  p.  135). 

3  Ed.  Naz.  XIV  p.  107. 


—     142     — 

inul  Flut"  zu  den  ..Dialogen  über  die  beiden  Hauptweltsysteme" 
für  Eingriffe  des  Zensors  neue  Veranlassungen  entstehen  könnten, 

Galilei  sah  zunächst  keinen  Grund,  von  dieser  Seite  her  neue 
Schwierigkeiten  zu  erwarten.  Er  wußte,  daß  auch  nach  der  geforderten 
Umgestaltung  sein  Buch  geblieben  sein  würde,  was  es  gewesen  war, 
als  es  im  Prinzip  die  Billigung  des  Papstes,  für  die  Einzelheiten  der 
Ausführung  die  Zustininuing  beider  Zensoren  gefunden  hatte.  Er 
rechnete  darauf,  in  Rom  drucken  zu  lassen,  wo  es  unter  den  Augen 
seiner  nächsten  Freunde,  Ciampolis  und  des  Fürsten  Cesi  geschehen 
würde,  deren  Einfluß  ihn  des  Schutzes  gegen  jede  mögliche  Wirkung 
minder  günstiger  Stimnmngen  versicherte.  So  verließ  er  Rom,  wie 
Kiccolini  dem  Minister  berichtete,  in  voller  Befriedigung  und  nach 
vollständiger  Erledigung  seiner  kitzlichen  Angelegenheit.  Der  Papst, 
fügte  der  Gesandte  hinzu,  hat  ihn  gern  gesehen,  hat  ihm  Freundlich- 
keiten in  reichstem  Maße  erwiesen,  wie  auch  der  Kardinal  Barberini, 
der  ihn  auch  zum  Mittagessen  bei  sich  aufgenommen  hat,  und  vom 
ganzen  Hofe  ist  er  geschätzt  und  geehrt  worden,  wie  es  sich  geziemte.^ 

In  dem  erhebenden  Gedanken,  daß  das  Werk  seines  Lebens 
geborgen  sei,  daß  nunmehr  vielleicht  schon  in  wenigen  Monaten  die 
Welt  durch  ihn  erfahren  werde,  was  kein  anderer  so  wußte,  so  zu 
lehren  wußte,  wie  er,  war  Galilei  nach  Florenz  zurückgekehrt.  Aber 
schon  nach  wenigen  AVochen  sah  er  am  Horizont  seiner  Hoffnungen 
von  neuem  dunkle  Wolken  aufsteigen.  Am  1.  August  starb  in  Rom 
Fürst  Cesi.  Die  Bedeutung  seiner  Persönlichkeit  für  die  Bestrebungen, 
denen  er  sein  Leben  hingegeben  hatte,  kann  nicht  besser  veranschau- 
licht werden,  als  durch  die  Tatsache,  daß  mit  seinem  Leben  sein 
W^erk  zugrunde  ging;  nur  ein  Scheinleben  führte  nach  seinem  Tode 
die  Akademie  der  Lyncei.  Was  insbesondere  Galilei  an  dem  immer 
hilfreichen,  immer  klug  beratenden  Freunde  verlor,  wd  ihm  nach- 
empfinden, wer  in  den  zwanzig  Jahren  ihres  einträchtigen  Zusammen- 
wirkens in  Cesis  Worten  und  Taten  das  Wirken  einer  völlig  selbst- 
losen Freundesseele  verfolgt.  Unschätzbar  war  für  Galilei  die  hin- 
gebende Sorgfalt  gewesen,  mit  der  sich  Cesi  des  Drucks  und  der 
Herausgabe  erst  der  Briefe  über  die  Sonnenflecke,  dann  des  Saggiatore 
angenommen  hatte;  auf  die  gleiche  treue  Fülfe  hatte  er  für  seine 
Dialoge  gerechnet;   wenn  hier  noch  Hindernisse  auf  dem  scheinbar 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  121. 


« 


—     143     — 

geebneten  Wege  sich  hätten  erhel)en  können  —  wer  hätte  besser 
als  Fürst  Cesi  in  seiner  milden,  versöhnlichen  Weise,  mit  seinem 
weitreichenden  persönlichen  Einfluß  der  Hebung  der  Schwierigkeiten,, 
dem  Ausgleich  der  Gegensätze  dienen  können!  So  war  es  schon  auf 
die  Nachricht  von  seiner  schweren  ?>krankung  Galilei  zweifelhaft 
geworden,  oi)  nunmehr  Rom  noch  der  geeignete  Ort  für  die  Ver- 
öffentlichung sei.  So  richtet  er  schon  am  5.  August  an  den  Genuesen 
Baliani  die  Frage,  ob  etwa  in  Genua  die  geeignete  Druckerei  sich 
finden  werde.  ^ 

Endgültig  auf  den  Druck  in  Jioiii  zu  verzichten,  veranlaßten 
ihn  nicht  lange  darauf  die  Nachrichten  aus  Rom.  „Aus  vielen 
beachtenswerten  Gründen",  schreibt  ihm  am  24.  August  Castelli^ 
..die  ich  zur  Zeit  dem  Papier  nicht  anvertrauen  will,  abgesehen  davon, 
daß  Fürst  Cesi  glorreichen  Angedenkens  aus  diesem  Leben  geschieden 
ist,  möchte  ich  glauben,  daß  es  wohlgetan  wäre,  wenn  Ihr,  sehr  ver- 
ehrter Herr,  Euer  Buch  dort  in  Florenz  drucken  ließet,  und  zwar  so 
bald  als  möglich." 

Was  war  geschehen,  was  so  plötzlich  dem  sorgsamen  Freunde 
geraten  erscheinen  ließ,  die  vor  kaum  zwei  Monaten  getroffene  Abrede 
i-ückgängig  zu  machen  und  auch  den  Vorteil,  den  er  sich  von  einer 
\>röffentlichung  in  Florenz  versprach,  mit  tunlichster  Beschleunigung- 
wahrzunehmen ?  Kein  späterer  Bericht  gibt  darüber  Aufschluß, 
aber  es  bedarf  nicht  der  Kenntnis  bestimmter  Vorgänge,  um  zu 
begreifen,  daß  in  Rom  schon  Avenige  Wochen  nach  Galileis  Abreise 
eine  minder  günstige  Stimmung  für  seine  „Dialoge"  Raum  gewann. 
Der  eigenen  Neigung  wie  dem  Drängen  der  Freunde  folgend,  hatte 
P.  Riccardi  sich  über  die  Bedenken  hinweggesetzt,  zu  denen  das 
Buch  dem  Konsultor  der  römischen  Inquisition  Veranlassung  geben 
konnte;  aber  diese  Bedenken  waren  nur  besch\Aichtigt,  zurück- 
gedrängt, nicht  durch  ausreichende  Gründe  als  unberechtigt  erwiesen; 
es  kann  nicht  überraschen,  daß  sie  alsbald  von  neuem  sich  in  den 
Vordergrund  der  Überlegungen  drängten,  nachdem  das  Wort  geschrieben 
war,  das  für  den  Drucker  genügte;  daß  sie  um  so  mehr  beunruhigend 
auf  das  Gemüt  des  Palastmeisters  wirkten,  als  nach  Galileis  Scheiden 
das  starke  Gegengewicht  seines  persönlichen  Einflusses  weggefallen 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  127—130. 
-  Ed.  Naz.  XIV  p.  135f. 


—     144     — 

war.  So  wenig  nach  Galileis  Eindruck  Riccardi  imstande  war,  sich 
in  eine  wissenschaftliche  Untersuchung  über  die  Stellung  der  Erde 
im  Universum  zu  vertiefen,  so  mußte  er  doch  aus  jedem  Wort,  das 
er  verstand,  entnehmen,  daß  dies  Buch,  dem  er  das  Imprimatur 
erteilt  hatte,  ein  Buch  zugunsten  der  copernicanischen  Lehre  war, 
ungewiß  zum  mindesten  nmßte  ihm  erscheinen,  ob  er  in  der  Deutung 
der  Willensäußerung  des  Papstes  nicht  über  Urbans  wahre  Absichten 
hinausgegangen  war,  und  —  wenn  diese  Absichten  in  jenen  Tagen 
einer  größeren  Freiheit  der  Wissenschaft  günstig  gewesen  wären  — 
ob  sie  nicht  dem  Wandel  unterliegen  würden,  wenn  sich  zeigen  sollte, 
daß  das  gedruckte  Buch  in  der  Verwertung  der  gewährten  Freiheit 
erheblich  weiter  gehe,  als  gestattet  werden  dürfe,  und  insbesondere 
dann,  wenn  Gegner  aller  Ai't,  Gegner  der  Lehre  \ne  der  Person  des 
Verfassers  und  seiner  Freunde  mit  geschickter  Berechnung  verständen, 
den  Papst  darüber  aufzuklären,  daß  durch  ihn  oder  wider  ihn  gestattet 
worden  sei,  was  dem  Interesse  der  Kirche  zu'^iderlaufe.  Mit  der 
Erwägung  solcher  Möglichkeit  war  aber  alsbald  auch  die  Vorstellung 
von  den  ernsten  Folgen  hervorgerufen,  zu  denen  früher  oder  später 
Riccardis  Willfährigkeit  bei  der  Ausübung  seines  Amtes  führen 
konnte,  von  Gefahren  für  Galilei,  aber  vor  allem  auch  für  ihn  selbst. 
Den  von  ehrgeizigen  Hoffnungen  erfüllten  Mann  mußte  die  Vor- 
stellung, daß  er  Urbans  Gunst  verscherzen  könnte,  aufs  äußerste 
beunruhigen.^  Überdies  fehlte  es  jener  Zeit  in  den  Vorgängen  des 
römischen  Lebens  nicht  an  Eindrücken,  die  geeignet  waren,  die 
Stimmung  des  P.  Maestro  in  gleicher  Richtung  und  in  verstärktem 
Maße  zu  beeinflussen.  Es  war  insbesondere  das  Strafgericht,  das 
damals,  fast  unmittelbar  nach  Galileis  Abreise,  über  die  römischen 
Astrologen  hereinbrach,  bei  dem  auch  den  Unbeteilgten  zum  Bewußt- 
sein kommen  konnte,  was  ein  Zornesausbruch  Urbans  VIII.  für  die- 
jenigen bedeutete,  die  seinem  Selbstgefühl  zu  nahe  traten  oder  in 
der  Ausführung  seines  Willens  eigenen  Meinungen  und  Wünschen 
Raum  gaben.  Mit  großer  Wahrscheinlichkeit  darf  man  annehmen, 
daß  zur  selben  Zeit  von  seiten  der  jesuitischen  Gegner  gegen  Galilei 
und  sein  Buch  intriffuiert  wurde.   Vom  Streit  mit  Horatio  Grassi  her 


^  Vergl.  den  Brief  des  Kardinals  Magalotti  an  Guiducci  vom  7.  August 
1632,  wo  es  heißt:  E  perche  questo  buon  Padre  si  trova  assai  imbarcato  e 
ingolfato  nelle  speranze,  temedi  quäl  si  voglia  ostacolo,  non  che  di  questo, 
che  e  grandissimo  (Ed.  Naz.  XIV  p.  370). 


I 


—     145     — 

war  die  Stimmung  der  Jesuiten  gegen  ihn  gereizt  geblieben.  Aber 
neben  Grassi  lebte  damals  in  Rom  Christoph  Seh  ein  er.  Auf  dem 
Titelblatte  seiner  Rosa  ürsina  liest  man,  daß  der  Druck  dieses  seines 
Hauptwerks  in  Rom  am  15.  Juni  1630,  also  in  einem  Zeitpunkt 
beendigt  wurde,  in  dem  Galilei  nach  der  Genehmigung  seiner  Dialoge 
noch  in  Rom  verweilte.  Wer  im  ersten  Buche  der  Rosa  Ursina  den 
Spuren  einer  erbittert  feindseligen  Gesinnung  nachgegangen  ist,  von 
der  seit  den  Angriffen  des  Saggiatore  Scheiners  Gemüt  erfüllt  war, 
wer  überdies  einen  Blick  in  sein  späteres,  fast  ausschließlich  gegen 
Galilei  gerichtetes  Buch  geworfen  hat,  der  weiß,  was  es  bedeutet, 
daß  Scheiner  blieb,  als  Galilei  ging.i  Wenn  etwa  der  Maestro  del 
Sacro  Palazzo  über  die  wahre  Bedeutung  des  Werkes,  dem  er  sein 
Imprimatur  gegeben,  nicht  ki-aft  eigenen  Nachdenkens  zur  Klarheit 
gekommen  sein  sollte  —  dieser  Scheiner  war  der  Mann,  ihn  aufzu- 
klären, auch  ehe  er  das  Buch  in  Händen  gehabt  hatte,  von  dem 
schon  bei  Galileis  Ankunft  gesagt  worden  war,  daß  es  gegen  die 
Lehre  der  Jesuiten  streite. 

So  gab  es  der  Gründe  genug,  die  dem  P.  Riccardi  wünschenswert 
machen  komiten,  bei  einer  zweiten  Revision  der  Dialoge  nachholen 
zu  dürfen,  was  bei  der  ersten  versäumt  war,  nötigenfalls  noch  jetzt 
den  Druck  zu  verhindern.  Aber  ebenso  gab  es  für  den  Freund,  der 
in  Rom  Gelegenheit  hatte,  die  Menschen  und  ihre  Gesinnungen  zu 
beobachten,  die  Einflüsse  und  Wirkungen  wahrzunehmen,  vom  Spiel 
der  Intriguen  Kenntnis  zu  erlangen,  Gründe  genug  für  die  Überzeugung, 
daß  es  unter  allen  Umständen  geboten  sei,  den  Druck  in  Rom  zu 
vermeiden,  auch,  was  in  Florenz  geschehen  könne,  rasch  geschehen 
zu  lassen,  um  zu  verhindern,  daß  auch  hier  die  Widerstände  sich 
bemerklich  machten,  die  in  Rom  schon  jetzt  gewirkt  hatten. 

Nicht  unwahrscheinlich  ist,  daß  als  entscheidende  Veranlassung 
für  C'astellis  Mahnung  zu  dessen  eigenen  Eindrücken  noch  eine  Mit- 
teilung über  bestimmte  Vorgänge  von  wohlunterrichteter  Seite 
gekommen  ist.  Darauf  deutet  die  Bemerkung,  die  er  seinem  Rat 
hinzufügt-:  er  habe  mit  dem  P.Visconti  darüber  gesprochen,  ob  die 
Drucklegung    in    Florenz    zu    Sch\\ierigkeiten    Veranlassung    geben 


^  Scheiner  war  1624  nach  Rom  gekommen  und  blieb  bis  zum  April  1633. 
Der  Druck  der  Rosa  Ursina  fällt  in  die  Jahre  1626—30. 
•  Ed.  Naz.  XIV  p.  135. 
Wohlwill,  Galilei.    II.  10 


—     146     — 

könnte,  dieser  habe  erwidert:  in  keiner  Weise,  und  habe  dabei  den 
lebhaften  Wunsch  geäußert,  daß  das  Werk  ans  Licht  kommen  möge, 
Gahlei  beeilt  sich,  den  Kat  des  Freundes  zu  befolgen,  der  Floren- 
tiner Inquisitor  scheint  kein  Bedenken  getragen  zu  haben,  einem 
Buche  die  Erlaubnis  für  Florenz  zu  erteilen,  das  schon  mit  dem 
Imprimatur  des  Maestro  del  Sacro  Palazzo  versehen  war;  schon  am 

11.  September  setzte  der  Generalvikar  von  Florenz  sein  Imprimatur 
Florentiae  unter  das  des  römischen  Zensors,  und  seiner  Zustinmiung 
schlössen  sich  zunächst  am  selben  Tage  der  Generalinquisitor 
P.  Clemens  Egidii,   dann  im  Kamen  der  staathchen  Zensur  am 

12.  September  Niccolö  delT  Altella  an. 

Darüber  aber,  ob  nunmehr  in  Florenz  gedruckt  werden  könne,  was 
zu  drucken  erlaubt  war,  blieb  der  römischen  Autorität  die  Entschei- 
dung vorbehalten.  Wii*  begreifen,  daß  P.  Kiccardi  sich  nicht  beeilte, 
eine  Befugnis  aus  Händen  zu  geben,  die  ihm  die  Möghchkeit  gewährte, 
zu  modifizieren  und  vielleicht  zurückzunehmen,  was  er  mit  halbem 
Herzen  zugestanden  hatte.  Fast  neun  Monate  vergingen,  bis  er  sich 
entschloß,  dem  Florentiner  Inquisitor  seine  Bedingungen  mitzuteilen. 

Auf  eine  erste  Mitteilung  Galileis  über  seine  veränderten  Ab- 
sichten er\Niderte  Riccardi  schroff  abweisend,  so  bestimmt  erklärt 
er,  auf  der  verabredeten  \viederholten  Revision  und  deshalb  auf 
Übersendung  des  Manuskripts  oder  einer  Kopie  bestehen  zu  müssen, 
daß  Castelli,  der  noch  vor  kurzem  auf  beschleunigte  Veröffentlichung 
in  Florenz  gedi'ungen,  der  Mitteilung  nur  hinzufügen  konnte:  er  habe 
den  Eindruck,  daß  diese  Übersendung  sich  durchaus  nicht  vermeiden 
lassen  werde.  Galileis  Widerstreben  gegen  eine  nochmalige  AusHeferung 
seines  Buches  fand  eine  wu-ksame  Unterstützung  in  der  in  jene  Tage 
fallenden  unheimlichen  Ausbreitung  der  Pest  und  den  strengen 
Sicherheitsmaßregeln,  die  an  den  Grenzen  des  Kirchenstaats  gegen 
die  Einschleppung  der  Seuche  getroffen  wurden.  Galilei  konnte  nach 
Rom  berichten:  auf  seine  Frage,  ob  ein  so  umfangreiches  Werk  mit 
Sicherheit  versandt  werden  könne,  sei  ihm  von  den  Beamten  und 
Ministern  des  Staats  verneinende  Antwort  erteilt  worden;  kaum 
einfache  Briefe  wären  mit  Sicherheit  ihrer  Bestimmung  zuzufühi'en, 
Schädigung  oder  Zerstörung  durch  Wasser  oder  Feuer  müsse  befüi'chtet 
werden.  Gahlei  bat  in  seinem  Schreiben  an  den  P.  Riccardi,  es  möge 
gestattet  werden,  nur  die  Einleitung  und  den  Schluß  des  Buches 
nach  Rom  zu  senden,  an  diesen  möge  man  dann  nach  Belieben  in 


—     147     — 

Sinn  und  Worten  ändern,  was  man  fiu-  nötig  halte.  Es  bedurfte  der 
Beredsamkeit  und  des  freundsciiaftliehen  Eifers  einer  Frau,  der 
Gattin  des  Gesandten  ]*viccolini,  einer  nahen  Verwandten  des 
P.  Maestro,  um  diesen  zu  bewegen,  mit  Rücksicht  auf  die  geschilderten 
Hindernisse  auf  Galileis  Vorschlag  einzugehen,  unter  der  Bedingung 
jedoch,  daß  das  Buch  selbst  in  Florenz  von  einem  Theologen  des 
J)ominikanerordens  revidiert  werde,  der  in  der  Prüfung  von  Büchern 
die  nötige  Praxis  habe.  Riccardi  schlug  dafür  den  P.  jS^ente  vor^, 
erklärte  sich  aber  nach  einiger  Zeit,  als  Galilei  statt  des  P.  Nente 
den  P.  Hyacinto  Stefani  zu  beauftragen  bat,  auch  mit  der  Wahl 
dieses  Ordensgenossen  einverstanden,  der  als  Konsultor  der  Floren- 
tiner Inquisition  die  nötige  Garantie  zu  bieten  schien. ^ 

So  konnte  am  17.  November  die  Gesandtin  Galilei  benachrich- 
tigen, daß,  sobald  er  seine  Einleitung  und  seinen  Schluß  übersandt 
hätte,  Riccardi  dem  P.  Stefani  den  Auftrag  zur  Revision  erteilen 
und  eine  kiu'ze  Instruktion  über  die  Ausführung  zugehen  lassen  würde. 
Einleitung  und  Schlußbetrachtung  wurden  alsbald  überreicht,  aber 
wieder  vergingen  Monate,  ohne  daß  von  Rom  aus  der  Auftrag  für  den 
P.  Stefani  eingetroffen  wäre,  geschweige  daß  die  beiden  wesentlichen 
Bestandteile  zurückgesandt  wurden.^     In  Wahrheit  war,  wie  später 

1  Ed.  Naz.  XIV  p.  157,  224. 

'  Ed.  Naz.  XIV  p.  167  u.  öfter. 

^  Galileis  Aussagen  sowohl  in  seinem  Brief  vom  7.  März  1631  an  den 
Minister  Cioli  wie  im  Verhör  der  Inquisition  vom  Aprü  1633  rufen  die  Vor- 
stellung hervor,  daß  die  vor  dem  7.  3Iärz  1631  durch  den  P.  Stefani  ausgeführte 
Revision  infolge  eines  formellen  Auftrags  des  P.  Maestro  stattgefunden  habe. 
Dem  widerspricht  jedoch  nicht  nur,  daß  die  beiden  Aktensammlungen  kein 
Schreiben  dieses  Inhalts  umfassen,  sondern  mehr  noch,  daß  Riccardis  späteres 
Schreiben  vom  24.  Mai  1631  ersichtlich  das  erste  in  der  Angelegenheit  der 
Dialoge  an  den  Florentiner  Inquisitor  gerichtete  ist,  sowie  daß  in  der  Antwort 
auf  diesen  Brief  der  Inquisitor  schreibt :  er  habe  mit  der  Revision  den  P.  Stefani 
beauftragt,  ohne  irgendwie  zu  erwähnen,  daß  dies  in  Übereinstimmung  mit 
einer  früher  erhaltenen  Weisung  geschehe.  In  dem  hierher  gehörigen  Brief- 
wechsel wird  P.  Stefani  nur  ein  einziges  Mal  von  P.  Riccardi  genannt,  und 
zwar  in  dem  Brief  an  Niccolini  vom  25.  Aprü  1631,  wo  er  ausdrücklich  sagt: 
P.  Stefani  könne  eme  ihm  genügende  Approbation  nicht  geben,  da  er  die 
Ansichten  des  Papstes  nicht  kenne.  Auch  diese  Äußerung  beweist,  daß  Ric- 
cardi bis  dahin  keine  Weisung  wegen  einer  Revision  in  Florenz  dorthin  gesandt 
hatte,  denn  die  ,,poca  instruzione",  durch  die  er  seinen  Auftrag  zu  ergänzen 
versprochen,  hätte,  wie  sein  späteres  Schreiben  beweist,  notwendig  eine  Mit- 
teilung über  die  Ansicht  des  Papstes  enthalten  müssen. 

10* 


—     148     — 

der  Gesandte  Mceolini  berichtet,  der  P.  Stefani,  in  dem  Galileis 
Freunde  den  Revisor  nach  ihrem  Sinne  gefunden  zu  haben  meinten, 
dem  P.  Riccardi  keineswegs  genehm.  Es  entsprach  seinem  schwanken- 
den Wesen,  Galileis  Wünschen  nicht  zu  widersprechen  und  doch 
durch  Zurückhaltung  des  Auftrags  seine  Zustinmmng  unwirksam  zu 
machen. 

In  Florenz  fand  man  die  vorläufige  Nachricht  der  Frau  Niccolini, 
daß  der  P.  Maestro  sich  einverstanden  erklärt  habe,  ausreichend, 
um  den  P.  Stefani  mit  der  Revision  zu  betrauen.  P.  Stefani  ent- 
sprach den  Erwartungen,  die  Galileis  Freunde  in  ihn  gesetzt  hatten. 
Wie  zuvor  P.  Visconti  in  Rom,  las  er  die  Dialoge  ohne  feindliehe 
Voreingenommenheit,  ja  zu  Gahleis  Gunsten  beeinflußt,  nicht  nur 
durch  Florentiner  Beziehungen,  sondern  ohne  Zweifel  auch  durch 
die  Weisung,  die  für  ihn  in  dem  Imprimatur  der  römischen  Autorität 
gegeben  war,  also  unter  dem  bestimmten  Eindruck,  daß  man  in  Rom 
gegen  die  Tendenz  des  Buches  nichts  einzuwenden  finde.  So  konnten 
es  nur  völlig  bedeutungslose  Änderungen  einzelner  Ausdrücke  sein, 
durch  die  er  seinem  Auftrag  zu  genügen  sich  bemühte;  er  setzte 
„Universum",  wo  Galilei  „Natura"  geschrieben  hatte,  „titolo"  statt 
attributo,  „ingegno  sublime"  statt  „divino"  und  bat  Galilei,  diese 
Korrekturen  zu  entschuldigen,  durch  die  er  zu  bewirken  hoffte,  daß 
auch  der  böseste  Feind  keinen  Angriffspunkt  finde.  Bis  zu  Tränen 
rührte  den  frommen  Mann  die  Demut  und  verehrungsvolle  Unter- 
werfung unter  die  Autorität  der  Oberen,  die  ihm  an  mehr  als  einer 
Stelle  des  Buches  entgegentrat;  bitten  hätte  man  den  Verfasser 
müssen,  sagte  er,  ein  solches  Werk  zu  veröffentlichen,  statt  ihm 
Hindernisse  zu  bereiten.  ^ 

So  befriedigend  das  alles  für  Galilei  klingen  mochte  —  auch 
die  Revision  des  P.  Stefani  war  bedeutungslos  für  den  Florentiner 
Drucker,  solange  nicht  in  Rom  das  entscheidende  Wort  gesprochen 
war;  aber  der  P,  Maestro  verharrte  im  Schweigen. 

In  peinlichem  Warten  waren  Galilei  die  langen  Wintermonate 
vergangen;  da  entschloß  er  sich,  die  Hilfe  des  Großherzogs  und  seines 
Ministers  in  Anspruch  zu  nehmen,  nicht  etwa  in  dem  Gedanken, 
daß  diese  den  Florentiner  Drucker  autorisieren  sollten,  nun  endlich 


^  Vergl.  die  Briefe  C4alileis  an  den  Minister  Cioli  vom  7.  III.   1631   u. 
3.  V.  1631  (Ed.  Naz.  XIV  p.  21off.  u.  258ff). 


1 


—      149     — 

seine  Presse  füi-  ein  Werk  zur  Verfügung  zu  stellen,  das  in  Rom  und 
Florenz  gebilligt  worden  war,  sondern  mit  dem  bescheidenen  Wunsche, 
daß  der  P.  Maestro  in  Rom  durch  den  Florentiner  Gesandten  ver- 
anlaßt werden  möge,  nicht  mehr  zu  hindern,  was  er  zu  fördern  ver- 
sprochen hatte.  In  erregter  Darstellung  berichtet  er  in  einem  an  den 
Minister  Andrea  doli  gerichteten  Schreiben  vom  7.  März^  über  die 
Folge  der  Vorgänge,  die  sieh  an  seine  letzte  römische  Reise  geknüpft 
hatten,  und  wie  nun  der  P.  Maestro  trotz  aller  seiner  Versprechungen, 
die  Vorrede  und  die  Schlußbetrachtung  zu  bearbeiten  und  dann 
zurückzuschicken,  sie  weder  geschickt  noch  überhaupt  ein  Wort 
darüber  habe  verlauten  lassen.  „So  steht  nun  das  Werk  im  Winkel", 
ruft  er  aus,  „mein  Leben  geht  dahin,  und  ich  verbringe  es  in  beständiger 
Pein." 

Er  richtet  an  den  Minister  die  Bitte,  zu  veranlassen,  daß  im 
Namen  des  Großherzogs  der  Gesandte  beauftragt  werde,  sich  mit 
dem  P.  Maestro  in  Verbindung  zu  setzen  und  ihm  den  W^unsch 
Sr.  Hoheit  kundzugeben,  daß  mit  dieser  Sache  ein  Ende  gemacht 
werde;  nicht  unangemessen  schien  ihm,  als  Grund  für  das  Interesse 
des  Großherzogs  anzuführen,  daß  er  wissen  wollte,  welche  Ai't 
Menschen  er  in  seinen  Diensten  halte;  aber  besser  als  er  selbst,  meint 
Galilei,  werde  der  Minister  die  geeigneten  Mittel  wissen,  seine  An- 
gelegenheit zur  Entscheidung  zu  bringen,  so  daß  er  noch  bei  Lebzeiten 
von  einem  Ergebnis  seiner  schweren  und  langen  Bemühungen  etwas 
erfahre. 

Der  jugendliche  Großherzog  Ferdinand  war  von  Galileis  Be- 
kümmernis aufs  lebhafteste  ergriffen.  Er  befahl,  daß  eine  Abschrift 
des  Briefes  an  den  ^linister  dem  Gesandten  zugestellt  und  ihm  die 
Anweisung  erteilt  werde,  so  bald  als  möglich  und  in  wirksamer  Weise 
bei  dem  P.  Maestro  del  Sacro  Palazzo  Galileis  W^ünsche  zur  Sprache 
zu  bringen,  auch  keinen  Zweifel  darüber  zu  lassen,  daß  der  Groß- 
herzog selbst  es  sei,  der  auf  Abhilfe  dringe,  da  er  in  W^ahrheit 
wünsche,  daß  das  bedeutende  Werk  gedruckt  werde,  und  an  der 
Aufregung,  in  die  Galilei  durch  das  Hinausschieben  sich  versetzt 
sehe,  vollen  Anteil  nehme. 

NiccoUni  versicherte,  daß  ihm  und  seiner  Gattin  Galileis  Inter- 
essen jederzeit  am  Herzen  gelegen,  daß  seine  Gattin  noch  vor  kurzem 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  215ff. 


—     150     — 

mit  dem  P.  Maestro  seinetwcg:en  verhandelt  habe,  und  daß  sie  beide 
sich  in  der  gewünschten  Weise  so  wirksam  als  mös:lieh  weiter  bemühen 
werden. 

Riccardi  versuchte  es  auch  dorn  (Iroßherzog  uiul  (Umumi  fiegen- 
ül)er,  die  in  seinem  Auftrag  ihn  bedrängten,  mit  guten  Worten.  Auch 
jetzt  noch  war  er  nicht  gewillt,  auf  die  j\Iöglichkoit  Verzicht  zu  leisten, 
die  gegebene  Zustimmung  unwirksam  zu  nuichen,  und  doch  fehlte 
ihm  der  Mut,  um  der  möglichen  Gefahr  willen  von  der  Macht,  die 
ihm  gegeben  war,  Gebrauch  zu  machen,  in  der  entscheidenden  Stunde 
durch  entschlossene  Zurücknahme  seines  Imprimatur  die  Veröffent- 
lichung eines  Buches  zu  verhindern,  das  mit  allen  Mitteln  der  Zensur 
nicht  mit  den  kirchlichen  Dekreten  in  Einklang  zu  bringen  war.  So 
kam  er  im  Gespräch  mit  C'astelli  nochmals  darauf  zurück,  man  möge 
ihm  das  Buch  zurückgeben,  dann  werde  er  unter  Mitwirkung  des 
Msgr,  Ciampoli  leicht  bessern  können,  was  der  Besserung  bedürfe, 
und  konnte  doch,  als  er  so  redete,  weder  glauben,  daß  auf  diesem 
Wege  wirksame  Hilfe  zu  schaffen  sei,  noch  hoffen,  daß  man  ihm  in 
Florenz  willfahren  werde. 

Allwöchentlich  wurden  nun  in  Florenz  die  Berichte  des  Gesandten 
mit  Spannung  erwartet;  immer  von  neuem  vertrösteten  sie  auf  eine 
bevorstehende  entscheidende  Unterredung,  und  immer  wieder  hatte 
in  der  Erwiderung  der  Minister  von  den  Wünschen  und  dem  Willen 
des  Großherzogs  zu  reden,  der  Galileis  Sache  ganz  und  gar  zur  eigenen 
zu  machen  schien;  langsam  nur  begann  das  unablässig  erneute  Dringen 
und  Drängen  des  Gesandten  und  seiner  beredten  Gattin  auf  den 
P.  Riccardi  zu  wirken,  schon  glaubten  sie,  in  vereintem  stürmischen 
Angriff  in  einer  langen  Sitzung  vom  14.  April  seinen  Widerstand 
besiegt  zu  haben:  er  hatte  sich  bereit  erklärt,  die  Vorschriften  auf- 
zusetzen, nach  denen  der  Druck  in  Florenz  erfolgen  könnte,  und  zur 
Sicherung  auf  den  Wunsch  des  Gesandten  versprochen,  in  einem 
an  ihn  gerichteten  Schreiben  die  getroffenen  Verabredungen  Wort 
für  Wort  zu  Papier  zu  bringen  —  da  empfing  Xiccolini  einen  vom 
25.  April  datierten  Brief,  der  trotz  scheinbaren  Entgegenkommens  die 
Aussicht  auf  erneute  Verzögerungen  eröffnete. 

„Der  P.  Stefani",  schreibt  Riccardi\  „wird  das  Buch  in  verständiger 
Weise  durchgesehen  haben,  da  er  aber  die  Meinungen  unseres  Herrn 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  254 f. 


—     151     — 

nicht  könnt,  kann  er  keine  Approbation  «oben,  die  mir  genügt,  um 
sie  meinerseits  zu  geben,  so  daß  das  Buch  gedruckt  werden  könnte 
ohne  Gefahr,  daß  daraus  Unannehmlichkeit  für  ihn  und  mich  ent- 
stände, wenn  die  gegnerisch  Gesinnten  etwas  darin  fänden,  was  den 
Vorschriften  widerspricht.  Ich  habe  keinen  größeren  Wunsch,  als 
Sr,  Hoheit  dem  Großherzog,  meinem  Herrn,  zu  Diensten  zu  sein, 
aber  ich  möchte  es  in  einer  Weise  tun,  daß  eine  Person,  die  von  einem 
so  großen  Herrn  beschützt  wird,  in  keiner  Weise  Gefahr  läuft,  Schaden 
an  seinem  guten  Ruf  zu  leiden;  und  das  kann  ich  nicht  dadurch 
bewirken,  daß  ich  schlechthin  die  Erlaubnis  zum  Druck  gebe,  die 
in  Florenz  nicht  meine  Sache  ist,  sondern  nur,  indem  ich  sicherstelle, 
daß  sie  der  Regel  entspricht,  die  ihm  als  Befehl  von  Sr.  Hoheit  gegeben 
ist,  indem  ich  sehe,  ob  er  sie  befolgt  hat.  AVenn  die  Vorrede,  die  am 
Anfang  stehen  soll,  und  das  Ende  des  Buches  kommt,  so  werde  ich 
leicht  sehen,  was  mir  genügt,  und  werde  alsdann  bezeugen,  daß  ich 
das  Werk  approbiert  habe;  kann  davon^  auch  nicht  einmal  eine 
Abschrift  kommen,  so  werde  ich  einen  Brief  an  den  Inquisitor  schreiben, 
in  dem  ich  ihm  angebe,  worauf  er  in  dem  Buche  zu  achten  hat,  indem 
ich  ihm  auseinandersetze,  was  mir  befohlen  worden  ist,  damit,  wenn 
er  sieht,  daß  es  Beachtung  gefunden  hat,  er  es  frei  seinen  Weg  gehen 
und  drucken  lassen  kann,  oder  es  mag  ein  anderer  Weg  gefunden 
werden,  wenn  nur  nicht  meine  Unterschrift  allein  dem  Herrn  Galilei 
helfen  soll  und  mir  für  mein  Entgegenkommen  Schaden  bringt;  denn 
der  geringste  Wink  so  hoher  Herrschaften  genügt,  daß  ich  tue,  was 
sich  irgend  tun  läßt." 

., Unter  allen  Umständen",  schließt  das  Schreiben,  „möge  man 
in  Florenz  versichert  sein,  daß  kein  Lebender  mir  von  dieser  An- 
gelegenheit gesprochen  hat,  weder  von  den  Oberen  noch  von  den 
Unteren,  noch  auch  von  Gleichstehenden,  außer  meinen  und  Galileis 
gemeinsamen  Freunden,  auch  nicht  denken,  daß  gegnerisch  Gesinnte 
die  Hand  im  Spiel  haben,  denn  das  ist  in  Wahrheit  nicht  der  Fall." 

Mit  Entrüstung  sah  Galilei  aus  diesem  Schreiben  vor  allem, 
daß  der  P.  jNIaestro,  wie  er  es  bis  dahin  fast  ein  Jahr  hindurch  mit 
ihm  getan  hatte,  nunmehr  sich  anschickte,  in  gleicher  Weise  mit 


1  Reusch  [Der  Prozeß  Galileis  und  die  Jesuiten  (Bonn  1879),  S.  205] 
setzt  in  Klammer:  des  ganzen  Buches.  Diese  Deutung  scheint  mir  den  un- 
mittelbar vorhergehenden  Worten  zu  widersprechen. 


—     152     — 

nichtssagenden  Worten  auch  den  Großherzog  hinzuhalten.  Statt, 
wie  längst  versprochen,  die  Vorrede  und  das  Ende,  die  er  seit  Monaten 
in  Händen  hatte,  zurückzuschicken,  um  den  Druck  zu  ermöglichen, 
sprach  er  von  der  Notwendigkeit,  diese  Teile  zu  sehen,  um  ein  Urteil 
zu  gewinnen,  als  ob  er  sie  zu  erwarten  hätte;  statt  in  klaren  Worten 
zu  sagen,  worin  die  Forderungen  des  Papstes  bestehen,  damit  man  in 
Florenz  erkennen  könne,  ob  sie  befolgt  seien,  deutet  er  nur  geheimnis- 
voll an,  daß  nur,  wer  den  Willen  des  Papstes  kenne,  beurteilen  könne, 
ob  Galileis  Buch  freizugeben  sei.  Während  also  Niccolini  nach  der 
gegebenen  Zusage  in  Aussicht  gestellt  hatte,  daß  der  Brief  des  Paters 
den  Befehl,  zu  drucken,  enthalten  und  angeben  werde,  was  dabei  zu 
beachten  sei,  enthielt  das  eingesandte  Schriftstück  weder  das  eine 
noch  das  andere.  ,, Nicht  leicht  zu  ertragen",  nennt  Gaülei  in  einer 
neuen  Eingabe  an  den  JMinister  ein  derartiges  Verhalten.  Riccardis 
Schreiben  gibt  ihm  das  Gefühl,  als  ob  er  in  einem  Ozean  segele,  in 
dem  es  weder  Ufer  noch  Hafen  gibt.  Er  sinnt  und  grübelt,  ^^^e  da 
zu  helfen  sei.  In  allen  seinen  Plänen  ist  es  die  Autorität  des  Groß- 
herzogs, von  der  er  die  erhoffte,  entscheidende  Wendung  ausgehen 
sieht.  Darum  nniß  dieser  vor  allem  überzeugt  werden,  daß  keines- 
wegs, ^^'ie  der  hartnäckige  Widerstand  des  P.  Maestro  glauben 
machen  könnte,  ernstere,  das  Interesse  der  Kirche  berührende 
Meinungsverschiedenheiten  vorliegen,  um  derentwillen  man  mit  Recht 
das  Erscheinen  seines  Buches  verhindern  könnte.  Er  schlägt  deshalb 
vor,  daß  sobald  als  möglich  der  Inquisitor  von  Florenz  und  der 
P.  Stefani  vom  Großherzog  eingeladen  werden,  vor  Sr.  Hoheit,-  dem 
Minister  Cioli,  dem  Grafen  Orso  d'Elci  und  sonstigen  dem  Groß- 
herzog genehm  erscheinenden  Gutachtern  bei  Hofe  zu  erscheinen; 
dann  werde  er,  Galilei,  sich  einfinden  und  das  Werk  mitbringen  mit 
allen  den  Zensuren,  die  darin  vom  Padi-e  Maestro  del  Palazzo  selbst, 
von  seinem  Genossen,  P.  Visconti  und  vom  P.  Stefani  angebracht 
worden  sind,  wobei  dann  der  P.  Inquisitor  alsbald  erkennen  Jiönnte, 
wie  geringfügige  Dinge  es  seien,  die  man  getadelt  und  die  man  ver- 
bessert habe;  wenn  er  dann  überdies  sähe,  vde  unterwürfig  und  ver- 
ehrungsvoll der  Verfasser  sich  bereit  finden  lasse,  als  Träume,  Chimäxen, 
Zweideutigkeiten,  Trugschlüsse  und  leere  Behauptungen  alle  Gründe 
und  Argumente  zu  bezeichnen,  die  Meinungen  beizupflichten  scheinen 
könnten,  die  die  Oberen  nicht  für  erlaubt  halten,  so  würden  er  und 
die  Anwesenden  erkennen,  wie  wahr  ist,  was  er  behauptet:  daß  er 


—     153     — 

in  (liosei*  Aniiclofrenhcit  iiiomals  ciiio  andere  Meinung  und  Absicht 
gehabt  habe  ah  die  lu'iligsten  und  ehrwürdigsten  Väter  und  Lehrer 
der  Kirche.  Diese  Art,  den  Inquisitor  aufzuklären,  meint  Galilei, 
werde  um  so  mehr  am  Platze  sein,  als  P.  Eiccardi  schreibe,  er  werde 
dem  Inquisitor  angeben,  was  in  dem  Buche  beachtet  werden  müsse, 
so  daß,  wenn  er  es  beachtet  fände,  er  die  Freigabe  des  Buches  für  den 
Druck  gestatten  könnte.  Und  ebenso  würde,  wenn  der  Minister,  wie 
er  bittet,  den  Großherzog  zum  Eingehen  auf  seinen  Vorschlag  ver- 
anlaßte,  Seine  Hoheit  wie  alle  übrigen  erkennen,  wie  schlecht  unter- 
richtet diejenigen  sind,  die  —  wie  kürzlich  der  Gesandte  ]Mccolini  — 
sagen  können,  daß  ., seine  Meinungen  nicht  gefallen",  ,,denn  die 
Meinungen,  die  nicht  gefallen,  sind  nicht  die  meinigen,  und  die  meinen 
sind  die,  zu  denen  St.  Augustin,  St,  Thomas  und  all  die  übrigen 
heiligen  Väter  sich  bekennen." 

So  durchaus  hatte  Galilei  in  jenen  Tagen  sich  in  die  künstliche 
Verhüllung  seiner  Überzeugung  hineingedacht,  daß  er  hier  kaum 
noch  zu  verstehen  scheint,  wenn  man  von  dem  Glauben  an  die  Be- 
wegung der  Erde  wie  von  einer  ihn  interessierenden  Meinung  spricht. 
Es  hängt  damit  zusammen,  daß  er  in  dem  ängstlichen  Zaudern  und 
Schwanken  des  P.  Riccardi  immer  nur  die  Wirkung  gegen  seine 
Person  gerichteter  feindseliger  Bestrebungen  und  Intrigen  spürt,  daß 
der  Gedanke  an  die  Möglichkeit  einer  ernsteren,  ihn  selbst  bedrohen- 
den Gefahr  ihm  nicht  nahetritt. 

Den  erhaltenen  Briefen  ist  nicht  zu  entnehmen,  ob  eine  Zusammen- 
kunft nach  Galileis  Wunsche  stattgefunden  hat,  doch  erkennt  man  die 
AVirkung  seines  Schreibens  vom  3.  Mai  auf  den  Großherzog  an  Mc- 
colinis  von  neuem  verstärkten  Bemühungen,  den  P,  Riccardi  zur 
Nachgiebigkeit  zu  bewegen.  Um  nichts  zu  versäumen,  wurden  ihm 
die  Vorrede  und  die  Schlußbetrachtung  nochmals  überreicht,  zugleich 
aber  mit  allem  Nachdruck  die  Autorität  des  Großherzogs  zur  Geltung 
gebracht;  Niccolini  ließ  den  Pater  nicht  darüber  im  Zweifel,  daß 
sein  Fürst  eine  an  der  Veröffentlichung  des  ihm  gewidmeten  Buches 
persönlich  interessierte  Partei  sei  und  als  solche  geachtet  werden 
wolle.  Dem  energischen  Fordern  fehlte  dieses  Mal  der  Erfolg  nicht. 
In  den  letzten  Tagen  des  Mai  empfing  der  Inquisitor  von  Florenz 
riemente  Egidii.  die  vor  mehr  als  Monatsfrist  in  Aussicht  gestellte 
Mitteilung  über  die  Bedingungen,  unter  denen  der  Druck  des  Buches 
in  Florenz  zu  gestatten  sei.     Es  waren  nach  Riccardis  Angabe  im 


—     154     — 

wesentlichen  die  Forderungen  des  Papstes,  die  an  früherer  Stelle 
bereits  zur  Sprache  gekommen  sind.  Unter  Beobachtung  dieser 
Vorschriften  sollte  der  Inquisitor  von  seiner  Autorität  Gebrauch 
machen  und  das  Buch  freigeben  oder  nicht,  ohne  sich  dabei  durch  die 
vorhergehende  Revision  des  P.  Maestro  beschränkt  zu  fühlen.  Wären 
die  Weisungen  befolgt,  so  würde  dann  das  Buch  auch  in  Rom  keinerlei 
Behinderung  erfahren.  Der  Inquisitor  könne  also  den  Wünschen  des 
Verfassers  entsprechen  und  dem  Größherzog,  der  in  dieser  Angelegen- 
heit so  großen  Eifer  zeige,  zu  Diensten  sein. 

Der  entscheidende  Brief  \^1^•de  zur  Kenntnisnahme  für  Galilei 
und  den  Großherzog  dem  Minister  Cioli  übersandt  und  durch  diesen 
dem  Inquisitor  zugestellt.  Der  Inquisitor  beeilte  sich,  sorgfältigste 
Befolgung  der  erteilten  Weisung  zuzusagen.  ,,Sr.  Hoheit",  fügt  er 
hinzu,  ..liegt  der  Druck  dieses  Werkes  besonders  am  Herzen,  und 
der  Herr  Galilei  zeigt  die  größte  Bereitwilligkeit,  gehorsamst  jede 
Verbesserung  anzunehmen."  Wenn  er  dann  weiter  mitteilt,  daß  er 
das  Werk  dem  P.  Stefani  vom  Dominikanerorden,  ,, einem  Priester 
von  großer  Tüchtigkeit  und  Konsultor  des  Florentiner  heiligen 
Offiziums"  zur  Revision  übergeben  habe,  so  darf  dahingestellt  bleiben, 
ob  er  —  wie  die  Worte  anzunehmen  gestatten  —  auf  die  schon  aus- 
geführte Zensur  Bezug  nimmt  oder  nochmalige  Prüfung  auf  Grund 
der  nun  erst  empfangenen  bestimmten  Weisungen  veranlaßt  hat. 
Es  konnte  Galilei  nicht  schwer  fallen,  den  Pater  zu  überzeugen,  daß 
sein  Werk  den  Weisungen  entsprach.  Die  von  Urban  geforderte 
Änderung  des  Titels  war  ausgeführt.  Aus  den  Dialogen  über  Ebbe 
und  Flut  waren  „Dialoge  über  die  beiden  Hauptweltsysteme"  geworden. 
Gexsiß  ist,  daß  die  Prüfung  in  Florenz  eine  irgend  erhebliche  weitere 
Verzögerung  des  Drucks  nicht  mehr  be\drkt  hat.  In  den  letzten 
Tagen  des  Mai  war  das  Schreiben  des  P.  Maestro  eingegangen;  schon 
am  20.  Juni  weiß  Castelli  in  Rom  aus  Galileis  Briefen,  daß  das  Buch 
gedruckt  wird.^  Auf  Niccolinis  Frage,  ob  Galilei  nunmehr  befriedigt 
sei,  konnte  der  Minister  erwidern:  vollkommen  befriedigt!  Aber 
auch  jetzt  noch  war  ihm  nicht  vergönnt,  in  Ruhe  das  Schicksal  seines 
Buches  zu  erwarten,  noch  einmal  verging  ein  Monat  und  fast  noch 
ein  zweiter,  bis  auch  die  adjustierte  Vorrede  in  Florenz  eintraf.  Im 
aussichtslosen  Bemühen,  noch  in  letzter  Stunde  zu  hindern,  was  er 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  277. 


—     155     — 

mit  Widorstroben  hatte  trestatten  niüssoii,  hielt  Riccardi  noch  immer 
das  wichtige  Schriftstück  zurück,  mit  dem  das  Werk  in  Einklang 
gebracht  werden  sollte,  das  also  auch  der  Florentiner  Zensor  ver- 
glichen haben  mußte,  um  sicher  zu  sein,  daß  er  den  päpstlichen 
Forderungen  genügte;  noch  einmal  bedurfte  es  der  energischen  Vor- 
stellungen des  Gesandten,  um  den  letzten  Widerstand  des  P.  Maestro 
zu  brechen.  „Nach  unendlicher  Mühe",  schreibt  am  10.  Juli  Niccolini 
an  Galilei,  ..habe  ich  endlich  die  Korrektur  der  Einleitung  zu  Eurem 
vortrefflichen  Werk  erhalten,  wie  Ihr,  verehrter  Herr,  aus  dem  bei- 
liegenden, an  Pater  Inquisitor  adressierten  Päckchen  ersehen  werdet. 
In  der  Tat  verdient  der  Pater  Palastmeister  bemitleidet  zu  werden, 
denn  gerade  in  diesen  Tagen,  in  denen  er  von  mir  bedrängt  und 
beunruhigt  wurde,  hat  er  sehr  große  Unannehmlichkeiten  und 
Kränkungen  in  Veranlassung  einiger  anderer,  vor  kurzem  veröffent- 
lichter Werke  erfahren,  so  wie  er  auch  zu  anderen  Zeiten  Wider- 
wärtigkeiten erlitten  haben  muß,  „Nur  bei  den  Haaren  gezogen", 
wie  man  zu  sagen  pflegt,  hat  er  jetzt  nachgegeben,  und  das  nur  aus 
Verehrung  für  den  durchlauchtigsten  Namen  Sr.  Hoheit  und  für  sein 
durchlauchtigstes  Haus." 

In  dem  Begleitschreiben  an  den  Florentiner  Inquisitor,  mit  dem 
Riccardi  die  Vorrede  übersandte,  wird  ausdrücklich  gesagt,  daß  die 
Forderung,  sie  als  Einleitung  an  die  Spitze  des  Buches  zu  stellen, 
^\ie  die  zuvor  übermittelten  Vorschriften  in  Ausführung  des  päpst- 
lichen Befehls  gestellt  werde.  Dabei  möge  dem  Verfasser  die  Freiheit 
bleiben,  unter  Festhaltung  des  Wesentlichen  des  Inhalts  an  den 
Worten  Änderungen  und  Ausschmückungen  vorzunehmen. 

Etwas  eingehender  bestimmt  eine  Anweisung  auf  der  Rückseite 
des  letzten  zur  Vorrede  gehörigen  Blattes,  daß  die  Schlußbetrachtung 
des  ganzen  Werks  mit  der  Vorrede  übereinstimmen  soll,  wobei  der 
Herr  Galilei  die  ihm  von  Sr.  Heiligkeit  namhaft  gemachten,  der 
göttlichen  Allmacht  entnommenen  Gründe  hinzuzufügen  hat,  die 
den  Verstand  beruhigen  sollen,  wenn  man  auch  den  Pythagoreischen 
Gründen  sich  nicht  zu  entziehen  vermag.^ 


^  Mit  großer  Wahrscheinlichkeit  hat  man  anzunehmen,  daß,  wie  der 
Gesamttext  der  Vorrede,  so  auch  diese  Anweisung  für  den  Inhalt  der  Schluß- 
betrachtung von  Galilei  selbst  herrührt.  Nach  dem  Brief  der  Caterina  Ric- 
cardi vom  19.  Okt.  1630  hatte  der  Pater  Maestro  sich  bereit  erklärt,  auf  die 
Lbersendung  des  Buches  zu  verzichten,  wenn  ihm  ,,die  Vorrede  und  das  Ende" 


—     156     — 

"Wir  kennen  die  Jntriguen  nicht,  die  im  Hintergrund  der  lang- 
hingeschleppten Verhandlungen  über  den  Druck  der  Dialoge  wirkten; 
mir  eine  wenig  verbürgte  Krzählung  spricht  von  einer  bitteren  Feind- 
schaft des  Kommissars  der  Inquisition  P.  Fiorenzuola  gegen  den 
Padre  Maestro  Riccardi;  wir  wissen  nichts  davon,  aber  als  zuverlässig 
dürfen  wir  annehmen,  daß  die  feindseligste  Gesinnung,  das  harte 
,.Nein"  eines  unerbittlichen  Zensors  der  Inquisition  für  Gahlei  eine 
Wohltat  gewesen  wäre  gegenüber  der  Marter  ohne  Ende,  mit  der  ihn 
die  wohlwollende  Schwäche  des  Freundes  und  Schülers  heimsuchte, 
daß  ein  solches  barbarisches,  "Wissenschaft  und  Vernunft  verbannen- 
des Nein  ilim  zugleich  für  die  Zukunft  sichereren  Schutz  gewährt 
hätte,  als  diese  bei  den  Haaren  herangezogene  Elrlaubnis,  die  unter 
dem  Scheine  der  Bestimmtheit  Raum  für  jede  künftig  wünschenswerte 
Deutung  ließ.  Das  Nein  hätte  ihn  überzeugt,  daß  er  das  Unmögliche 
wollte,  wenn  er  unter  dem  Schutze  der  Kirche  und,  soweit  als  tun- 
lich, ohne  Schädigung  ihrer  Würde  darzutun  versuchte,  daß  die  Kirche 
sich  mit  der  Vermmft  und  der  "Wissenschaft  in  AViderspruch  setze, 
wenn  sie  das  Verbot  des  Copernicus  aufrechterhalte.  Der  P.  Maestro 
war  schwerlich  ein  Philosoph  und  vielleicht  überhaupt  nicht  einmal 
ein  Gelelirter,  aber  diesen  Gedanken  mußte  er,  sei  es  als  Absicht, 
sei  es  als  naheliegende  Konsequenz  in  der  Darstellungsweise  der 
Dialoge  entdecken.  ^Nichts  deutet  an,  daß  er  Galilei  über  das  Gefähr- 
liche einer  solchen  Berechnung  aufzuklären  versucht  oder  ihni  die 
Möglichkeit  dargelegt  hätte,  daß  die  kirchliche  Macht  die  Maske 
sich  gefallen  lasse,  solange  dies  bequem  schien,  um  dann,  wenn  der 
Wind  sich  wandte,  den  strafbaren  Kern  dem  Inquisitor  zu  überreichen ; 
vielmehr  nnißten  die  bedeutungslosen,  die  Hauptsache  nicht  be- 
rührenden Änderungen  und  Forderungen  ihn  in  der  Überzeugung 
bestärken,  daß  er  den  richtigen  Weg  gewählt  habe,  um  zugleich  der 
Kirche  und  der  Wissenschaft  zu  genügen.  Bei  allem  Zögern  und  Aus- 
weichen war  niemals  von  einer  Änderung  im  Wesentlichen  die  Rede 


gesandt  werden,  nach  dem  Brief  derselben  Caterina  Riccardi  vom  17.  Nov. 
ist  ,,il  proemio  ed  il  fine"  von  Galilei  gesandt  worden;  auch  die  wiederholte 
Sendung  nach  Riccardis  Brief  vom  25.  April  1631  hat  nach  Niccolinis  Bericht 
(vom  17.  Mai  1631)  wiederum  aus  proemio  und  fine  bestanden.  Galilei  hat 
also  ohne  Zweifel  eine  Angabe  über  den  Inhalt  der  Schlußbetrachtung  nach 
Rom  gesandt;  es  liegt  kein  Grund  vor,  sich  diese  verschieden  von  der  hier  vor- 
liegenden zu  denken. 


!l 


—     157     — 

gcwoson,  und  dio  Instruktion  für  den  Florentiner  Inquisitor  seinen 
vollends  zu  bestätifien,  daß  eine  wesentliche  Verschiedenheit  der 
Auffassun«:  nicht  hestand.  Tin  so  mehr  mußte  Galih'i  den  Grund 
der  unerhürten  und  unauf<i;eklärten  Verzögeruno;en  in  perHÖnlichen 
Motiven  suchen;  so  waren  sie  ihm  keine  Mahnuni,^  zur  Vorsicht, 
sondern  nur  eine  Aufforderun«^,  die  krät'tii^sten  Mittel  in  Anwendunfj 
zu  bringen,  um  zum  Ziele  zu  f^elangen;  und  so  mußte  er  es  als  Erlösung 
begrüßen,  als  dieses  Ziel  erreicht  schien.  Nun  endlich  waren  dem  Werk 
seines  Lehens  die  We2;e  gebahnt. 


Sechstes  Kapitel. 
Aufnalime  der  Dialoge. 


Die  Veröffentlichung  des  lange  erwarteten  Buchs  wurde  von  den 
Anhängern  der  neuen  Wissenschaft  in  ganz  ItaHen  mit  Jubel  begrüßt. 
Es  sind  vorzugsweise  Freundesstimmen,  die  uns  von  dem  mächtigen 
Eindruck  Kunde  geben,  aber  unter  den  denkenden  Freunden  und 
Schülern  finden  sich  neben  hochstehenden  Laien  von  auserlesener 
Bildung  sachkundige  Gelehrte  ersten  Ranges.  Es  war  Galilei  gelungen 
—  das  bezeugen  die  ersteren  —  wie  er  gewollt  hatte,  für  alle  Denken- 
den die  copernicanische  Weltansicht  als  die  einfachere  und  die  wahre 
erscheinen  zu  lassen^,  aber  auch  den  Eingeweihten  hatte  er  neue 
Beweise,  neue  Anschauungen  und  vor  allem  neue  Probleme  im  Über- 
flusse geboten  —  das  bekunden  die  Briefe  der  l'astelli  und  Cavaheri, 
Gassendi  und  Torricelli.  Die  Zuschriften  dieser  Männer  strömen  von 
Bewimderung  über—  fesselnd,  wie  nur  der  Orlando  furioso,  daß  man 
kein  Ende  findet,  wo  immer  man  zu  lesen  anfängt,  so  dünkt  dies 
Buch  den  P.  Cavalieri^,  einen  der  ersten  Mathematiker  der  Zeit. 
IVIit  unbeschreiblichem  Staunen  und  Vergnügen  hat  Castelli  es  von 
Anfang  bis  zu  Ende  gelesen  und  alsbald  von  neuem  angefangen, 
es  den  Freunden  Magiotti  und  Toricelli  vorzulesen,  und  immer  mehr 
erfreut  es  ihn,  immer  mehr  setzt  es  ihn  in  Erstaunen,  und  immer 
mehr  fühlt  er  sich  bereichert.  Das  bischen  Leben,  das  ihm  übrig 
bleibt,  will  er  darauf  verwenden,  nur  dieses  Buch  zu  studieren,  von 


^  Was  für  hervorragende  Laien  auch  außerhalb  des  Freundeskreises 
die  Dialoge  bedeuteten,  das  beweist  unter  anderem  das  Urteil  des  Hugo 
Grotius.  „Es  ist  so  reich  an  Aufschlüssen  über  verborgene  Dinge",  schreibt 
er,  ,,daß  ich  kein  Werk  unsres  Jahrhunderts  ihm  zu  vergleichen  wage,  vielen 
der  Alten  es  vorziehe." 

2  Ed.  Naz.  XIV  p.  336—337. 


—     159     — 

ihm  allein  hofft  er  die  Erhebung  und  den  Trost,  den  die  Betrachtung 
der  Wunder  Gottes  im  Himmel  und  auf  Erden  gewähren  kann. 
Bewundernswert  erschien  den  Lesern  der  Dialoge  der  Inhalt  wie  die 
Sprache,  die  Kraft  der  Beweise,  wie  die  Klarheit  der  Erörterung. 
Für  den  Xichtastronomen  namentlich  schien  Galileis  Begründung 
„um  vieles  der  des  Copernicus  überlegen",  „Um  die  Wahrheit  zu 
sagen",  schrieb  aus  Venedig  Fulgentio  Micanzio^  „was  hat  das 
copernicanische  System  in  Italien  gegolten?  Ihr  aber  habt  ihm  Flügel 
<j;egeben  und  den  Busen  der  Natur  entschleiert." 

Mit  besonderer  Genugtuung  sah  Thomas  Campanella,  der  mutige 
Verteidiger  vom  Jahr  1616,  zur  Ausführung  gebracht,  was  er  Galilei 
schon  zwanzig  Jahre  früher  als  seine  wichtigste  Aufgabe  ans  Herz 
gelegt  hatte.  Er  vermißte  zwar  in  den  Dialogen  die  ersehnten  Auf- 
schlüsse über  die  schwierigen  Probleme  der  Planetenbahnen  und  die 
andern,  von  Copernicus  nicht  gelösten  Eätsel,  die  seines  Erachtens 
niemand  lösen  wiü'de,  wenn  Galilei  sch\\iege;  aber  er  sah,  Avie  er 
gehofft  und  gefordert,  ..das  wahre  Weltsystem  gesichert".  Cam- 
panella begriff  das  W^erk  und  seinen  großen  Inhalt  im  Zusammen- 
hange mit  der  „großen  Erneuerung"  der  Philosophie  und  der  gesamten 
Wissenschaft,  der  auch  er  sein  Leben  und  Denken  gewicbnet  hatte. 
„Ich  wage  zu  sagen",  schreibt  er  im  Gefühl  dieser  Gemeinschaft  der 
Bestrebungen  an  Galilei,  „daß,  wenn  wir  miteinander  ein  Jahr  auf  dem 
Lande  verbrächten,  große  Dinge  zustande  kommen  würden,  und 
wenngleich  Ihr  dazu  ausreicht,  so  weiß  ich  doch,  daß  ich  Euch  ein 
nützlicher  Verbündeter  wäre  und  viele  Bedenken  nicht  peripatetischer 
und  nicht  laienhafter  Art  über  die  Prinzipien  der  Philosophie  zur 
Sprache  bringen  würde.  Gott  ^Yill  es  nicht;  er  sei  gelobt!  Diese 
Erneuerung  aller  Wahrheiten  von  neuen  Welten,  neuen  Sternen, 
neuen  Systemen,  ist  der  Anfang  eines  neuen  Zeitalters.  Das  Übrige 
wird  der  tun,  der  das  Ganze  leitet.  Wir,  nach  dem  geringen  Teil, 
der  uns  zufällt,  woUen  ihm  helfen.    Amen!"^ 

Wie  das  Werk  als  Ganzes,  so  hatten  auch  die  Einzelheiten  in 
den  Kreisen  der  Sachkundigen  sich  wärmster  Zustimmung  zu  er- 
freuen. Vor  allem  nahmen  die  AAichtigen  Sätze  aus  Galileis  neuer 
Bewegungslehre,  die  hier  zum  erstenmal  veröffentlicht  wurden,  das. 

^  Ed.  Naz  XIV  p.  364. 

-  Ed.  Naz.  XIV  p.  366— 3ö7. 


—     160     — 

lebhafteste  Interesse  in  Anfipnich.  Von  allen  Seiten  drang  man  in 
den  Verfasser,  die  verheißenen  weiteren  Dialoge,  die  diese  An- 
dentungen ausführen  sollten,  nicht  länger  den  Wißbegierigen  vor- 
zuenthalten. 

Den  gleichen  Beifall  fand  die  neue  Lehre  von  Ebbe  und  Flut. 
Die  Sätze  der  Bewegungslehre,  aus  denen  Galilei  seine  überraschende 
Erklärung  ableitete,  konnten,  so  einfach  sie  erscheinen  mußten,  doch 
nicht  sofort  in  ihrer  ganzen  Tragweite  übersehen  werden,  so  ist  es 
nicht  zu  verwundern,  daß  geraume  Zeit  verging,  bis  man  aus  den- 
selben Prinzipien  die  Widerlegung  der  in  allem  Irrtum  so  scharf- 
sinnigen Ableitung  hervorgehen  sah.  Als  völlig  unangreifbaren  Beweis 
für  die  Bewegung  der  Erde  verherrlichte  der  französische  Philosoph 
Gassendi  diese  Flutlehre.  Was  das  ganze  Altertum  an  Gründen  und 
Hypothesen  zur  Erklärung  der  Fluterscheinungen  ersonnen,  dünkte 
ihn  Geschwätz  und  leere  Träume  dieser  Entdeckung  gegenüber. 
Zu  wiederholten  Malen,  erzählt  er,  sei  es  ihm  begegnet,  daß,  wenn 
er  Unbefangenen  Galileis  x\nsicht  auseinandersetzte,  ihre  Wahr- 
scheinlichkeit die  Gemüter  der  Hörer  in  einem  Maße  ergriff,  daß 
sie  der  zwiefachen  Bewegung  der  Erde  die  gleiche  AVahrscheinlichkeit 
zuerkennen  mußten,  weil  es  genügte,  sie  vorauszusetzen,  um  eine 
so  einfache  Erklärung  zu  gewinnen.  In  ähnlicher  Weise  urteilten  die 
kundigsten  unter  den  Gelehrten  Italiens  (Castelli,  Borelli,  selbst 
Baliani).  Sie  konnten  um  so  mehr  der  verführerischen  Theorie  sich 
hingeben,  je  weniger  für  die  meisten  die  Tatsachen,  denen  .sie  die 
Deutung  schuldig  bheb,  der  Beobachtung  zugängüch  waren.  Ein 
Bedenken  von  dieser  Seite  her  erhob  in  jenen  Tagen  nur  der  Genuese 
Baüani^  derselbe,  der  auch  gegen  Galileis  Kometenlehre  zuerst 
gewichtige  Zweifel  geäußert  hatte;  auch  Baliani  fand  den  ganzen 
vierten  Dialog,  der  Ebbe  und  Flut  behandelt,  bewundernswürdig, 
alle  Zweifel  bis  auf  einen,  schienen  ihm  beseitigt,  um  so  mehr  über- 
raschte es  ihn,  daß  dieser  eine,  dessen  Bedeutung  sich  nicht  unter- 
schätzen ließ,  von  Galilei  nicht  erledigt  und  nicht  eiimial  erwähnt  war. 

Nach  Galileis  Theorie  hätte  die  Flut  Tag  für  Tag  zur  gleichen 
Stunde  eintreten  müssen,  im  Widerspruch  mit  der  allgemeinen  An- 
nahme, nach  der  sie  täglich  ungefähr  Vö  Stunden  früher  erscheint 
und  somit  der  Bewegung  des  Mondes  folgt.     Ich  weiß,  fügt  Baliani 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  342—344. 


—     161     — 

höflich  hinzu,  nachdem  er  spanische  und  niederländische  Autoritäten 
für  die  Tatsaciien  aniieführt  hat,  (hiß  Ihr,  Herr  T'ialik'i,  das  Entgegen- 
gesetzte beobachtet  haben  müßt,  und  namentlich  in  Venedig,  und 
daß  Ihr  deshalb  im  Dialog  nicht  davon  redet.  ^ 

So  ergeht  sich  die  Besprechung  der  Freunde  und  Gesinnungs- 
genossen nach  allen  Richtungen  über  den  Inhalt  der  Dialoge,  aber 
vergebens  sucht  man  nach  Äußerungen  über  die  frommen  Vorbehalte 
und  Verwahrungen,  über  den  Widerspruch  der  Form  mit  der  un- 
verkennbaren Absicht  des  Buchs.  Dieser  Widerspruch  in  den 
Worten  und  Gedanken  konnte  keine  Schwierigkeit,  geschweige  eine 
Veranlassung  zum  Tadel  den  Männern  bieten,  die  unter  der  gleichen 
Herrschaft  kirchlicher  Dekrete  zu  denken  und  zu  reden  gelernt 
hatten.  Campanella  benutzte  die  kirchlichen  Wendungen  der  Vor- 
rede, um  gegen  jedermann  die  Behauptung  zu  vertreten,  die  Dialoge 
seien  zugunsten  des  Dekrets  gegen  die  Bewegung  der  Erde  ge- 
schrieben. Er  hoffte  so  zu  hindern,  schreibt  er  an  Galilei,  daß  das 
erste  beste  Literätchen  dem  Lauf  dieser  Lehre  in  den  AVeg  trete, 
aber  meine  Schüler,  fügt  er  hinzu,  wissen  um  das  Geheimnis.^ 

Erst  später,  als  von  gegenerischer  Seite  Verdächtigungen  gegen 
das  Buch  erhoben  waren,  schrieb  Fulgenzio  ^licanzio  aus  dem  freieren 
Venedig:  was  können  diese  ^Niederträchtigen  zu  tadeln  finden,  wenn 
sie  nicht  etwa  die  allzu  große  Bescheidenheit  tadeln  und,  daß  Ihr 
die  philosophischen  Meinungen  ohne  die  philosophische  Freiheit  vor- 
getragen habt?  Aber  in  diesem  Sinne  selbst  einen  Vorwurf  erheben 
zu  wollen  oder  die  Bedeutung  der  unfreien  Zusätze  zu  überschätzen, 
lag  dem  treuen  Freunde  fern. 

Ebensowenig  freilich  fanden  die  vorsichtigen  Wendungen  im 
feindlichen  Lager  Beachtung.     Der  Haupteinch'uck,  daß  in  diesem 


^  Baliani  wußte  auch  dieses  Mal  mit  seinem  richtigen  Einwurf  nicht 
viel  anzufangen.  Weit  entfernt,  die  Fehler  in  Galileis  mechanischer  Ableitung 
zu  begreifen,  scheint  er  sich  vielmehr  die  Aufgabe  gestellt  zu  haben,  in  Über- 
einstimmung mit  der  Erklärungsweise  Galileis  die  Fluterscheinungen  auf  die 
Bewegungen  des  Wassers  in  einem  bewegten  Gefäß  zurückzuführen,  diese 
Bewegungen  aber  so  zu  kombinieren,  daß  dabei  auch  die  tägliche  Verände- 
rung der  Flutzeiten  ihre  Erklärung  fand.  Auf  diesem  Wege  ist  Baliani  später 
zu  der  kühnsten  aller  Fluttheorien  gelangt.  Er  glaubt,  die  Flut  des  Meeres 
erklären  zu  können  unter  der  Voraussetzung,  daß  die  Erde  sich  um  den  Mond 
bewegt  (Riccioh,  Almag.  novura  II  381). 

-  Ed.  Naz.  XIV  p.  366—367. 
Wohlwill,  Galilei.    II.  11 


—     162     — 

Buche  alles,  die  Lehre,  die  Beweise,  wie  die  Polemik  in  erster  Linie 
„gegen  die  Schule  der  Peripatetiker"  geschrieben  war,  wurde  nicht 
abgeschwächt  durch  die  unterwürfige  Erklärung,  daß  die  Nichtigkeit 
sämtUcher  Gegeugründe,  die  von  dieser  Seite  vorgebracht  waren, 
eine  Entscheidung  zugunsten  des  Copernicus  nicht  rechtfertige.  Wer 
in  verbissenem  Grimme  sich  mit  allen  seinen  Schwächen  dem  Ge- 
lächter der  A'euerer  preisgegeben  sah,  konnte  den  Simplicio  nicht, 
darum  verzeihlicher  finden,  weil  ihm  nach  so  vielen  Niederlagen  am- 
Schlüsse  ein  Wort  des  Papstes  in  den  Mund  gelegt  war,  dem  der  Ver- 
teidiger des  Copernicus  nicht  zu  widersprechen  wagte. 

Zahlreiche  Entgegnungen,  zum  Teil  unmittelbar  nach  dem  Er- 
scheinen der  Dialoge  veröffentlicht,  zeugen  von  der  unfreundlichen 
Aufnahme  der  Dialoge  bei  den  Schulgelehrten,  geben  aber  auch  zu- 
gleich die  Belege  dafür,  wie  gut  Simplicio  getroffen  war.  Unter  der 
Fülle  neuer  Ai'gumente,  die  den  Gegnern  dargeboten  waren,  ver- 
mochte nicht  ein  einziges  ihnen  auch  nur  bedingten  Beifall  abzu- 
gewinnen; sie  disputierten,  wie  zuvor,  nicht,  um  die  Wahrheit  der 
Natur  zu  ergründen,  sondern  um  eine  Reihe  von  überlieferten  Sätzen 
zu  schützen.  Da  war  nicht  einer,  der  nicht  den  Simplicio  einen 
..einfältigen",  ungeschickten  Verteidiger  genannt  hätte,  und  doch 
gleichen  die  neuen,  besseren  Gründe,  die  man  an  seiner  Stelle  benutzt 
hatte,  denen  des  Simplicio  wie  ein  Ei  dem  andern,  und  auch  das  kam 
in  der  Eile  der  Erwiderung  vor,  daß  man  aus  dem  Rüstzeug  der 
Schulweisheit  die  eine  oder  andere  Waffe  unwiderstehlich  von  neuem 
ins  Feld  führte,  die  von  Simphcio  bereits  nach  Kräften  geschwungen 
und  von  Salviati  nicht  minder  gründlich  abgetan  war,  wie  z.  B.  die 
Frage  nach  dem  Nutzen  des  großen  Zwischenraumes. 

Bedenklicher  als  diese  literarischen  Er^^^derungen  lauteten  von 
vornherein  die  Äußerungen  der  Gegner,  die  sich  durch  die  Dialoge 
nicht  allein  mit  den  übrigen  als  Genossen  der  Schule,  sondern  über- 
dies persönlich  angegriffen  sahen.  Zwar  Chiaramonti,  der  Philosoph 
von  Pisa,  verhielt  sich  zunächst  ruhig,  erst  nach  der  Verurteilung 
Galileis  (1633)  Meß  er  seine  Kritik  des  Dialogs  „Difesa  al  suo  Anti- 
ticone  e  hbro  delle  tre  nuove  stelle"  drucken. 

Nicht  so  leicht  war  dem  Collegium  Romanum  genug  getan. 
Noch  war  die  Kränkung,  die  der  Pater  Grassi  von  Galilei  erfahren, 
ungerächt  und  unvergessen,  nun  endlich,  nach  neunjährigem  Harren, 
sah  man  den  verhaßten  Mann  zuversichtlich  einen  Boden  betreten. 


—     163     — 

auf  dem  es  kein  Entrinnen  gab,  wenn  man  rasch  entschlossen  die 
Schlinge  zusammenzog,  in  der  sich  seine  Schritte  verstrickten.  Nun 
hatte  Galilei  überdies  in  den  Dialogen  zum  zweiten  Male  einen  der 
angesehensten  Gelehrten  des  Ordens  in  seinem  Philosophieren  be- 
mitleidenswert, in  seinen  angeblichen  Entdeckungen  als  frechen 
Plagiator  erscheinen  lassen  und  damit  neue,  schwerere  Beleidigungen 
zu  den  alten  gefügt. 

Der  P.  Scheiner  war  in  Rom,  als  die  Dialoge  erschienen,  er  erfuhr 
von  den  Angriffen  gegen  seine  Schriften  und  seine  Person,  noch  ehe 
er  des  Buches  habhaft  werden  konnte.  Die  Fortdauer  der  Pest  in 
Toskana  und  die  Behinderung  des  Verkehrs,  die  daraus  hervorging, 
veranlaßte  den  Buchhändler,  eine  größere  Sendung  nach  Rom  zu 
verzögern;  so  waren  noch  mehrere  Monate  nach  der  Veröffentlichung 
imr  ganz  vereinzelte  Exemplare  in  Rom  zu  finden.  In  dieser  Zeit 
begegnete  es  dem  Pater,  daß  er  in  dem  Laden  eines  Buchhändlers 
hören  nuißte,  wie  ein  Olivetaner  Mönch  aus  Siena  sich  in  Lobes- 
erhebungen über  die  Dialoge  erging  und  kühnen  Mutes  aussprach, 
es  sei  das  größte  Buch,  das  je  das  Licht  der  Welt  erblickt.  Der  Buch- 
händler sah  zu  seiner  ÜbeiTaschung,  wie  bei  diesen  Worten  der  Pater 
in  Bewegung  geriet,  die  Farbe  wechselte  und  an  Leib  und  Händen 
aufs  heftigste  zitterte.  „Er  würde  zehn  Goldskudi  für  ein  Exemplar 
des  Buches  zahlen",  sagte  er  ihm  nachher,  um  sobald  \de  möglich 
antworten  zu  können. 

Die  gelehrte  Antwort,  die  der  Pater  Scheiner  im  Sinne  hatte, 
ließ  noch  jahrelang  auf  sich  warten;  aber  bald  genug  sollte  Galilei 
erfahren,  was  es  hieß:  die  Jesuiten  beleidigen. 

Im  Juli  wurden  durch  Filippo  Magalotti  acht  Exemplare  der 
Dialoge  von  Florenz  nach  Rom  gebracht.  Im  Xamen  Galileis  über- 
reichte Magalotti  das  Werk  außer  dem  P.  Campanella  und  dem 
toskanischen  Gesandten  auch  dem  Kardinal  Francesco  Barberini 
und  dem  Pater  Riccardi,  dem  Maestro  del  S.  Palazzo ;  von  den  übrigen 
empfing  das  eine  Mgr.  Serristori,  Beisitzer  der  Inquisition;  ein  zweites 
der  Jesuit  Leon  Santi. 

Die  Verteilung  zeigt,  wie  wenig  Galilei  und  seine  Freunde  in 
jenen  Tagen  besorgten,  der  Inquisition  mißfallen  zu  können.  Aber 
wenige  Wochen  darauf,  noch  vor  Ablauf  des  Juli,  empfing  Galilei 
die  Nachricht,  daß  vom  Papst  und  der  Inquisition  die  Dialoge  ge- 
prüft würden;  es  handle  sich  darum,  hieß  es  gerüchtweise,  das  Buch 

11* 


—     164     — 

zu  korrigieren  oder  zu  suspendieren,  vielleicht  zu  verbieten.  Bald 
folgte  weiter  die  Kunde,  daß  der  Pater  Maestro  del  Sacro  Palazzo  be- 
müht sei,  die  in  Rom  verbreiteten  Exemplare  in  seine  Hand  zu 
bringen,  und  daß  in  gleichem  Sinne  nach  Florenz  geschrieben  sei. 
Filippo  MagalottiS  durch  seine  Gesinnungen  Galilei  freund- 
schaftlich verbunden,  durch  Familie  und  Stellung  in  nahen  Bezie- 
hungen zum  Papst  und  den  Hochgestellten  der  Kirche,  unternahm 
es,  diese  Beziehungen  im  Interesse  des  Freundes  zu  verwerten,  ins- 
besondere dem  verborgenen  Zusammenhang  der  überraschenden 
Wendung  nachzuspüren.  Er  erfuhr  sehr  bald,  daß  nach  außen  hin 
eine  Reihe  von  Vorwürfen  erhoben  wurden,  hinter  denen  im  Innern 
eine  mächtiere  Triebfeder  wirksam  war. 


1  Ed.  Naz.  XIV  p.  368—370,  379—382,  382—383. 


Siebentes  Kapitel. 
Der  Prozeß  vom  Jahre  1633.^ 


Schon  im  Auo;iist  1632,  einige  Monate  nach  dem  Erscheinen  der 
Dialoge,  erhielten  Galilei  und  der  Drucker  aus  Rom  den  Befehl, 
keine  weiteren  Exemplare  zu  verkaufen,  die  noch  vorhandenen  der 
Inquisition  auszuliefern.  Auf  Veranlassung  Galileis  üeß  die  groß- 
herzogliche Regierung  sofort  in  Rom  ihr  Befremden  aussprechen,  daß 
man  ein  so  gründlich  geprüftes,  mit  allen  Erlaubnissen  ausgestattetes 
Buch  suspendiere.  Aber  man  war  in  Rom  nicht  gewöhnt,  auf  der- 
artige Vorstellungen  besonderes  Gewicht  zu  legen;  die  Gesandten 
fanden  es  nicht  angemessen,  sie  anders  als  in  den  bescheidensten 
Formen  zur  Sprache  zu  bringen.  Die  einzige  Rücksicht,  die  man  dem 
Großherzog  bewies  oder  zu  beweisen  vorgab,  bestand  darin,  daß  man 
nicht  ohne  weiteres  die  Inquisition,  sondern  eine  spezielle  Kongre- 
gation mit  der  Prüfung  der  Dialoge  beauftragte. 

Das  Ergebnis  war  die  Einleitung  des  Inquisitions Verfahrens  gegen 
Galilei.  Am  1.  Oktober  wurde  Galilei  vor  den  Florentinischen  In- 
quisitor gerufen  und  ihm  in  Gegenwart  von  jN'otar  und  Zeugen  er- 
öffnet, daß  er  im  Laufe  des  Monats  in  Rom  vor  dem  Kommissar  der 
Inquisition  zu  erscheinen  habe.  Galilei  war  aufs  äußerste  bestürzt; 
er  wandte  sich  an  den  Minister,  an  den  Großherzog;  er  glaubte  viel- 
leicht einen  Augenblick,  daß  man  sich  zum  Widerspruch  aufraffen, 
Rom  gegenüber  die  Selbständigkeit  der  Florentiner  Regierung  zur 
Geltung  bringen  werde.  Aber  man  dachte  nicht  daran,  man  riet 
zur  Fügsamkeit. 

Nun  suchte  Galilei  Hilfe  bei  seinen  Gönnern  in  Rom;  in  einem 
Brief   an  den  Kardinal   Barberini,    den  Verwandten    des    Papstes, 

^  Dies  Kapitel  ist  VorträL'cn  des  Verfassers  entnommen  (vgl.  Vorrede). 
Der  Herausgeber. 


—     166     — 

stellte  er  in  ergreifenden  Worten  seine  Lage,  seine  Verzweiflung  dar. 
„Wenn  ich  bedenke",  heißt  es  in  diesem  Schreiben,  „daß  die  Frucht 
all  meiner  Studien  und  Anstrengungen  jetzt  auf  eine  Vorladung  vor 
das  Heilige  Offizium  hinausläuft,  wie  sie  nur  gegen  die  erlassen  wird, 
die  schwerer  Vergehen  schuldig  befunden  werden,  so  ergreift  es  mich, 
daß  ich  die  Zeit  verwünsche,  die  ich  auf  diese  Studien  verwandt, 
durch  die  ich  mich  über  den  täglich  betretenen  Pfad  der  Wissenschaft 
einigermaßen  erheben  zu  können  hoffte,  so  bereue  ich,  der  Welt  einen 
Teil  meiner  Arbeiten  mitgeteilt  zu  haben,  und  spüre  Lust,  was  ich 
noch  unter  den  Händen  habe,  zu  unterdrücken  und  den  Flammen  zu 
übergeben  und  so  ganz  die  Wünsche  meiner  Feinde  zu  erfüllen,  denen 
meine  Gedanken  so  sehr  zur  Last  sind." 

Galilei  bittet  den  Kardinal,  aus  Rücksicht  auf  seine  70  Jahre 
und  die  körperlichen  Leiden,  zu  denen  seit  den  Nachrichten  aus  Rom 
eine  beständige  Schlaflosigkeit  gekommen  war,  seinen  Einfluß  dahin 
geltend  zu  machen,  daß  ihm  die  Reise  nach  Rom  erlassen  werde, 
eine  Reise,  die  damals  durch  die  immer  noch  wütende  Pest  und  die 
Nötigung  zu  langer  Quarantäne  in  erhöhtem  Grade  beschwerlich, 
für  Galilei  geradezu  lebensgefährlich  war;  man  möge  ihm  eine  schrift- 
liche Verteidigung  auferlegen  oder  wenigstens  die  Untersuchung  gegen 
ihn  in  Florenz  stattfinden  lassen.  Wenn  man  aber  bei  dem  erlassenen 
Befehl  beharre,  so  werde  er  die  Reise  antreten,  den  Gehorsam  höher 
achtend  denn  das  Leben. 

Aber  alles,  was  sich  erreichen  Heß,  war  ein  Aufschub  von  wenigen 
Wochen.  Als  Galilei  zögerte,  folgte  ein  neuer  Befehl,  bald  darauf 
ein  dritter  in  ernsterem  Tone.  Vergebens  sandte  nun  Galilei  ein 
Zeugnis  di'eier  angesehener  Ärzte  ein;  sie  bekundeten,  daß  sie  den 
Greis  in  einem  Zustande  gefunden,  in  dem  die  geringste  äußere 
Ursache  ihm  lebensgefährlich  werden  könne.  Die  Antwort  des 
Papstes,  der  damals  schon  die  Leitung  des  Prozesses  gegen  Galilei 
persönlich  in  die  Hand  genommen  hatte,  lautete:  es  möge  dem  In- 
quisitor in  Florenz  geschrieben  werden,  daß  seine  Heiligkeit  und  die 
Heiüge  Kongregation  derartige  Ausflüchte  in  keiner  Weise  dulden 
könne;  um  zu  erkunden,  ob  Galileis  Zustand  in  Wirklichkeit  sei, 
wie  man  ihn  schildere,  werde  Seine  Heiligkeit  und  die  Heihgo  Kon- 
gregation einen  Kommissar  in  Begleitung  eines  Arztes  senden,  um 
seinen  Zustand  zu  untersuchen.  Finde  man  ihn  so,  daß  er  kommen 
könne,  so  würde  man  ihn  als  Gefangenen  und  in  Ketten  nach  Rom 


—     167     — 

bringen.  Müsse  aber  um  seiner  Gesundheit  und  der  Lebensgefahr 
willen  ein  Aufschub  stattfinden,  so  werde  man  ihn  sofort  nach  der 
Herstellung  und  Beseitigung  der  Lebensgefahr  als  Gefangenen  und 
in  Ketten  befördern;  der  Kommissar  aber  und  die  Ärzte  sollten  auf 
seine  Kosten  befördert  werden,  weil  er  zur  rechten  Zeit  und  als  es 
ihm  befohlen  war,  zu  kommen  verschmäht  habe. 

Man  erzählt,  daß  der  Großherzog,  der  ein  schwaches  Gefühl 
seiner  unwürdigen  Stellung  in  dieser  Angelegenheit  hatte,  über  den 
päpstlichen  Befehl  in  lebhafte  Aufregung  geraten  sei;  aber  zur  selben 
Zeit  schrieb  der  Minister  Cioli  nach  Rom:  „Xie  wird  Seine  Heilig- 
keit Gnmd  haben,  sich  über  die  Minister  noch  über  deren  Rat  zu 
beklagen".  So  erging  denn  auch  jetzt  an  Galilei  in  sehr  bestimmten 
Ausdrücken  die  Aufforderung,  sich  dem  Befehl  des  Papstes  zu  unter- 
werfen. 


Mittlerweile  war  es  Winter  geworden;  am  26.  Januar  1633  begab 
sich  Galilei  auf  den  Weg.  So  kam  diesmal  Galilei  nicht,  wie  bei  seiner 
letzten  Reise  nach  Rom,  als  Freund  und  Schützling  des  Papstes, 
sondern  als  Angeklagter,  vor  dem  höchsten  Gericht  gegen  Ketzerei  sich 
zu  verantworten;  er  ging  noch  jetzt  in  dem  Bewußtsein,  unschuldig 
verleumdet  zu  sein,  nicht  etwa  weil  er,  in  dem  höheren  Sinne  ohne 
Schuld,  nach  bestem  Wissen  die  Wahrheit  gelehrt,  sondern  weil  er 
in  allem  Eifer  für  die  Wahrheit  nie  einen  Augenblick  den  Gehorsam 
gegen  die  Kirche  verleugnet  hatte. 

In  der  Tat  kann  man  durch  die  Vorladung,  die  Galilei  empfing, 
überrascht  sein,  wenn  man  daran  denkt,  wie  das  Werk,  gegen  das 
die  Anklage  erhoben  wurde,  unter  den  Augen  der  Idrchlichen  Gewalt 
entstanden  war,  wie  es  von  der  römischen  und  florentinischen  In- 
quisition geändert  und  verbessert  und  schließlich  gebilligt  w^ar,  und 
wenn  man  an  Galileis  Bereitwilligkeit  denkt,  jede  weitere  Um- 
gestaltung einzugehen,  und  wie  in  der  langen  Verhandlung  über  den 
Druck  nicht  mit  einem  Wort  von  Weigerung,  immer  nur  von  williger 
Unterwerfung  die  Rede  war.  So  waren  denn  Galilei  selbst  wie  seine 
Freunde  aufs  äußerste  überrascht.  Sie  begriffen  nicht,  was  man  in 
Rom  zu  tadeln,  was  gar  anzuklagen  finde. 

Es  ist  heute  nicht  mehr  zweifelhaft,  daß  dem  Verfahren  gegen 
Galilei   wohl  angelegte   persönliche   Intrigen   zugrunde  lagen.      Für 


—     168     — 

tückische  Feinde  waren  allerdings  die  Dialoge  nicht  berechnet;  für 
die,  die  auf  der  Lauer  lagen,  alte  Kränkungen  zu  rächen,  konnte 
kein  Fang  erwünschter  sein.  Wie  leicht  war  zu  erweisen,  daß  mit 
allen  frommen  und  unterwürfigen  Zusätzen  das  Buch  ein  rein  coperni- 
canisches  geblieben  war;  und  wie  empfindlich  ließ  sich  die  Lächerlich- 
keit einer  Zensur  zum  Bewußtsein  bringen,  die  mit  dem  trügerischen 
Paß  der  frommen  Vorrede  die  verbotene  Lehre  abzuschwächen  ver- 
meint und  ihr  in  "Wirklichkeit  die  freieste  Verbreitung  gewährt,  die 
sich  genug  geschehen  wähnt,  w'enn  dem  vernichtenden  Beweis  gegen 
die  alte  Lehre  die  gläubige  Formel  angehängt  wird,  daß  zu  solcher 
Entscheidung  zwar  die  menschliche  Wissenschaft  führe,  die  w-ahre  und 
endgültige  Entscheidung  aber  von  höherem  Wissen  zu  erwarten  sei. 
Wie  leicht  war  zu  zeigen,  daß  man  mit  all  dem  in  schlimmster  Weise 
zum  Besten  gehalten  und  überlistet  war! 

Es  fehlte  in  Rom  nicht  an  den  rechten  Leuten,  um  diese  Auf- 
fassung am  rechten  Orte  laut  werden  zu  lassen.  War  doch  in  den 
Dialogen  selbst  dafür  gesorgt,  daß  der  alte  Groll  der  eingefleischten 
Schulgelehrten,  die  Galilei  nie  geschont  hatten,  von  neuem  in 
Flammen  schlug.  Ein  jeder  von  ihnen  konnte  im  Simplicio  sich  selbst 
gezeichnet  und  verhöhnt  finden;  denn  sicher  hatte  ein  jeder  einmal 
in  der  Weise  des  Simplicio  disputiert,  mit  Auslegungen  der  alten 
Texte  auf  neue  Entdeckungen  geantwortet  oder,  wie  dieser,  wenn  ihm 
die  Gründe  ausgingen,  nach  Hause  geschickt,  um  die  Bücher  holen 
zu  lassen.  Dazu  kam  vor  allem,  unversöhnlich  und  nie  versöhnt, 
das  Kollegium  der  Jesuiten. 

Die  klugen  Männer,  denen  die  Vernichtung  des  alten  Gegners 
am  Herzen  lag,  werden  nicht  großer  Mühe  bedurft  haben,  um  den 
Papst  über  die  wahre  Bedeutung  der  Dialoge  aufzuklären,  ihm  dar- 
zulegen, daß  seine  geheiligte  Person  durch  die  Teilnahme  an  dem 
Werk  der  Zensur  nun  selbst  kompromittiert  sei.  Sie  wußten  geschickt 
das  Vergehen  der  Täuschung  dadurch  in  ein  schlimmeres  Licht  zu 
rücken,  daß  sie  die  Lehren  der  Dialoge  in  ihren  weiteren  gefährlichen 
Konsequenzen  schilderten.  Jetzt  zum  ersten  Mal  hören  wir,  daß  diese 
Lehren  die  allerverwerfhchsten  seien,  die  sich  erdenken  lassen,  daß 
alle  Ketzereien  eines  Luther  und  Calvin  ihnen  gegenüber  geringfügig 
erscheinen. 

Aber  auch  das  schien  nicht  genügend,  dem  Verhaßten  sicheres 
Verderben  zu  bereiten.    So  kam  man  auf  den  teuflischen  Gedanken, 


I 


—     169     — 

den  Papst  glauben  zu  machen,  daß  in  der  Person  des  Simplicio 
niemand  anders  als  seine  Heiligkeit  selbst  dem  Gelächter  preisgegeben 
sei.  So  wahnsinnig  eine  solche  Absicht  erscheinen  muß,  wenn  \m  sie 
im  Geiste  des  Galilei  auch  nur  einen  Augenblick  voraussetzen,  so 
klug  war  sie  als  Erfindung  seiner  Feinde  ersonnen.  Urban  gehörte 
in  seinem  Denken,  in  seiner  Gelehrsamkeit  der  aristotelischen  Schule 
an;  er  hatte  mit  Galilei  lange  und  wiederholt  über  die  Lehre  des 
Copernicus  disputiert  —  so  mußte  auch  er  notwendig  in  den  Gründen 
des  Simplicio  gegen  die  Erdbewegung  seine  eigenen  wiederfinden; 
und  blieb  ein  Zweifel  möglich,  wenn  Simplicio  den  Beweis  aus  Ebbe 
und  Flut  nicht  nur  mit  den  Worten  des  Papstes  widerlegt,  sondern 
selbst  für  alle  Welt  verständlich  hinzufügt,  daß  er  diesen  Gegenbeweis 
von  einer  eminentissima  persona  gehört  habe?  Es  bedurfte  nur  der 
Hinweisung  auf  das  Zitat,  um  auch  das  Schlimmste  glaublich 
erscheinen  zu  lassen. 

Das  Gift  war  wirksam;  als  der  Florentinische  Gesandte  auf  Ver- 
anlassung seines  Ministers  im  September  1632  zum  ersten  Male  dem 
Papst  von  Galilei  und  seinen  Dialogen  zu  reden  versuchte,  fand  er 
statt  des  alten  Wohlwollens  die  leidenschaftlichste  Erbitterung.  Was 
Xiccolini  nach  dieser  ersten  Unterredung  befürchten  mußte,  sollte 
sich  in  vollstem  Maße  verwirklichen:  der  Papst  machte  aus  der  Ver- 
folgung Galileis  seine  eigene  Sache.  Die  Akten  der  Inquisition 
beweisen,  daß  in  den  entscheidenden  Momenten  des  Prozesses  jedesmal 
der  Papst  in  Person  in  die  Schranken  tritt,  daß  der  Papst  befiehlt, 
wo  Galilei  und  die  Welt  mit  ihm  die  Richter  des  Heiligen  Offiziums 
prüfen  und  erkennen  sieht. 

Aber  auch  der  zornige  Wille  des  Herrschers  war  an  Formen  des 
Rechts  gebunden;  der  Form  nach  wenigstens  war  Galilei  durch  die 
Zensur  der  römischen  und  florentinischen  Inquisition  gerechtfertigt. 
Wenn  sich  nachträglich  die  einmal  gewährte  Erlaubnis  als  gefährlich 
für  die  Interessen  der  Religion  erwies,  so  konnte  man  nicht  ohne 
weiteres  den  Mann  verantwortlich  machen,  der  sein  Werk  dem  Willen 
des  Zensors  bedingungslos  überliefert  hatte.  Man  konnte  das  Buch 
einer  neuen  Zensur  unterwerfen,  man  konnte  es  verbieten;  aber  um 
gegen  den  Verfasser  überdies  ein  Urteil  der  Inquisition  zu  erwirken, 
bedurfte  es  einer  anderen  Schuld,  einer  besser  begründeten  Anklage. 

Einfach  genug  ergab  sich  diese  ernstere  Schuld  nach  der  gewöhn- 
lichen Erzählung,  wie  sie  in  allen  Büchern  wiederkehrt:    Das  Ver- 


—     170     — 

gehen,  das  die  Inquisition  zu  ricliton  hatte,  war  luieh  diesen  Berichten 
die  offenkundige  Veiiotzuni;  eines  geheimen  Befehls,  der 
Galilei  im  Februar  UUG  erteilt  war.  , .Unter  Androhung  des  Inqui- 
sitionsprozesses'',  heißt  es,  ..war  ihm  damals  im  Xamen  des  Papstes 
und  der  Heiligen  Inquisition  auferlegt,  die  Meinung  des  Copernicus 
fernerhin  in  keiner  Weise  in  Worten  oder  Schriften  zu  lehren.  So 
genügte  die  Abfassung  der  Dialoge,  um  einen  strafbaren  Ungehorsam 
zu  beweisen.  Der  Fall,  den  man  im  Jahre  IGLG  mit  Strafe  bedroht 
hatte,  war  eingetreten." 

Unvollständige,  willkürlich  zusammengestellte  Auszüge  aus  den 
Akten  der  römischen  Inquisition  sind  die  Quelle  dieser  Auffassung, 
wie  aller  früheren  Kenntnis  über  Galileis  Prozeß.  In  einer  kaum 
erklärlichen  Weise  ist  es  gelungen,  den  inneren  Zusammenhang  der 
Vorgänge,  die  zu  Galileis  Verurteilung  führten,  zu  verdunkeln;  und 
doch  haben  nicht  wenige  urteilsfähige  Männer  das  Manuskript  in 
Händen  gehabt  und  benutzt,  in  dem,  wenn  nicht  alle,  so  doch  die 
wichtigsten  Aktenstücke  zum  Prozeß  von  1633  erhalten  sind.  Auf 
Befehl  Napoleons  wurde  die  denkwürdige  Handschrift  im  Jahre  1812 
den  römischen  Archiven  entnommen  und  nach  Paris  gebracht; 
35  Jahre  lang  ist  sie  dort  aufbew'ahrt  worden;  aber  merkwäirdiger- 
weise  haben  die  französischen  Gelehrten,  denen  sie  zu  Gebote  stand, 
nur  das  mit  einiger  Ausführlichkeit  in  die  Öffentlichkeit  gebracht, 
was  einer  geringschätzigen  Auffassung  von  Galileis  Wirken  und  Denken 
entsprach.  Im  Jahre  1847  wurde  das  Manuskript  dem  Papst  Pius  IX. 
ausgeliefert  und  von  neuem  den  römischen  Archiven  einverleibt. 
Wenige  Jahre  darauf  veröffentlichte  Mar  in  i,  Sekretär  des  Papstes 
und  Vorsteher  des  päpstlichen  Archivs,  Auszüge  und  Mitteilungen 
aus  den  x\kten,  wie  man  erzählt,  um  ein  Versprechen  zu  lösen,  gegen 
das  die  französische  Regierung  sich  zur  Rückgabe  entschlossen  hatte. 
Die  Schrift  Marinis  ^ ,  die  lange  Zeit  die  Hauptquelle  für  die  Geschichte 
des  Prozesses  geblieben  ist,  mußte  von  vornherein  als  unvollständig 
und  überaus  parteiisch  erscheinen.  Wir  wissen  jetzt,  daß  sie  durch 
geschickte  Anordnung  und  Auslassung  den  ursprünglichen  Zusammen- 
hang so  verändert  hat,  daß  ein  Unterschied  zwischen  diesem  Verfahren 
und  eigentlicher  Geschichtsfälschung  schwer  zu  entdecken  ist. 


^  Marino    Marini,     Galileo    e    Tlnquisizione,    Memorie    storico-critiche, 
Roma  1850. 


II 


—      171      — 

Seit  dem  Jahre  1867  ist  der  flößte  Teil  des  rüniischen  Manu- 
t;krij)ts  der  Öffentlichkeit  üherweben.  Henri  de  rKpinois  hatte 
die  iM'laiibnis  zur  Vciaiistaltiiiif^  einer  Kopie  in  Iioni  zu  erlangen 
gewußt  und  darauf  die  Aktenstücke  in  dem  guten  Glauben  ver- 
öffentlicht, dadurch  die  vielfachen  Verdächtigungen  aus  dem  AV'ege 
zu  räumen,  die  sich  an  Marinis  unvollständige  Veröffentlichung 
knüpften.^  Diese  Mitteilungen  verraten  nu>hr,  als  der  schlimmste 
Verdacht  voraussehen  konnte.  Sie  beweisen,  daß  in  der  Tat  das 
Verbot  vom  Jahre  1616  den  Mitteljjunkt  der  Verhandlungen  im 
Jahre  16;k>  bildet.  Unter  den  Aktenstücken,  die  de  l'Epinois  zuerst 
veröffentlidit  hat,  befindet  sich  auch  das  entscheidende,  das  vorher 
überall  erwähnt  und  besprochen,  aber  von  niemand  gekannt  war, 
das  Aktenstück,  das  jenes  Verbot  vom  Jahre  1616  verbürgt. 

Die  Erkenntnis  seines  Wortlauts  ist  für  das  Verständnis  des 
Prozesses  unerläßlich.  Die  Lage  der  Dinge  im  Februar  1616  war 
ja  folgende:  am  23.  Februar  war  durch  den  Beschluß  von  11  Domini- 
kanern und  Jesuiten  die  Lehre  des  ("opernicus  oder  vielmehr  diese 
Lehre,  so  wie  sie  der  unwissende  Pater  Caccini  verstanden  hatte,  für 
absurd  in  der  Philosophie  und  in  bezug  auf  den  Glauben  für  formell 
ketzerisch  erklärt.  Ein  Dokument  mit  dem  Datum  des  25.  Februar 
berichtet  nun  folgendes: 

„Donnerstag  am  25.  Februar  1616,  Der  HeiT  Kardinal  Mellinus 
hat  dem  ehrwürdigen  Herrn  Assessor  und  Kommissarius  des  Heihgcn 
Offiziums  notifiziert,  daß  auf  Grund  des  Urteils  der  Patres  Theologen 
über  die  Lehrmeinungen  des  Galilei,  —  insbesondere  daß  die  Sonne  das 
Zentrum  der  "Welt  und  ohne  örtliche  Bewegung  sei  und  daß  die  Erde 
sich  auch  in  täglicher  Bewegung  bewegt,  —  Seine  Heiligkeit  dem 
Herrn  Kardinal  Bellarmin  befohlen  hat,  genannten  Galilei  vor  sich 
zu  laden  und  ihn  zu  ermahnen,  daß  er  der  genannten  Meinung  ent- 
saire,  und  wenn  er  sich  weigern  sollte,  zu  gehorchen,  sollte  der  Pater 
Kommissarius  in  Gegenwart  von  Notar  und  Zeugen  ihm  den  Befehl 
erteilen,  gänzlich  darauf  zu  verzichten,  eine  derartige  Lehre  und 
Meinung  zu  lehren  und  zu  verteidigen  oder  sie  zum  Gegenstand  einer 
Erörterung  zu  machen;  wenn  er  sich  aber  nicht  dabei  beruhigte, 
sollte  man  ihn  ins  Gefängnis  werfen." 

Darauf   fol£:t   das   entscheidende   Aktenstück   mit   dem   Datum 


'  H.  de  TEpinois,  Galilee,  son  proces,  sa  condainnation.    Paris  1807. 


—     172     — 

des  2l)  steil.  Ich  versuche,  so  gut  als  müghch  das  barbarische  Latein 
zu  verdeutschen,  aber  ich  ändere  nichts  an  der  abschreckenden  Form: 

..h'reitag,  den  26.  desselben  Monats.  Ln  Palast  des  Herrn  Kar- 
dinals Bellarniin  und  in  seinen  Gemächern  hat  der  Herr  Kardinal, 
nachdem  genannter  Galilei  vorgeladen  und  vor  seiner  Eminenz  er- 
schienen war,  in  Gegenwart  des  sehr  ehrwürdigen  Bruders  Michael 
Angelo  Segnitius  de  Lauda  vom  Orden  der  Prädikatoren,  des  General- 
kommissars des  Heiligen  Offiziums,  vorgenannten  Galilei  ermahnt 
wegen  des  Irrtums  obengenannter  Meinung,  daß  er  sie  aufgeben  möge, 
und  unmittelbar  darauf  in  meiner  und  der  Zeugen  Gegenwart 
und  während  derselbe  Herr  Kardinal  gleichfalls  noch  anwesend  war, 
hat  der  obengenannte  Pater  Kommissarius  dem  vorgenannten  noch 
ebendaselbst  anwesenden  und  vorgeladenen  Galilei  im  Namen  Seiner 
Heiligkeit  des  Papstes  und  der  ganzen  Kongregation  des  Heiligen 
Offiziums  befohlen  und  vorgeschrieben,  daß  er  die  obengenannte 
Meinung,  daß  die  Sonne  das  Zentrum  der  Welt  und  unbeweglich  sei 
und  die  Erde  sich  bewege,  ganz  und  gar  aufgebe  und  sie  fernerhin 
in  keinerlei  Weise  für  wahr  halte,  lehre  oder  verteidige,  in  Worten 
oder  Schriften;  sonst  werde  gegen  ihn  im  Heiligen  Offizium  verfahren 
werden;  und  bei  diesem  Befehl  hat  derselbe  Galilei  sich  beruhigt  und 
zu  gehorchen  versprochen.  So  geschehen  zu  Rom,  an  obengenanntem 
Ort,  in  Gegenwart  von  Badino  Xores  aus  Xicosia  im  Königreich 
Cypern  und  Augustin  Mongart  aus  der  Abtei  Rottz  der  Diözese  von 
Politianum,  Hausgenossen  des  genannten  Kardinals  als  Zeugen." 

Es  geschieht  also,  wie  leicht  ersichtlich,  am  26.  Februar 
etwas  ganz  anderes,  als  am  25.  der  Papst  befohlen  hatte. 
Das  vollständige  Verbot  sollte  der  Vertreter  der  Inquisition  erteilen, 
falls  Galilei  sich  weigerte,  zu  gehorchen.  Aber  der  Pater  Segnitio 
de  Lauda  spricht  den  Befehl  unter  Andi-ohung  des  Inquisitions- 
verfahrens aus,  ohne  daß  von  einer  Weigerung  Galileis  die  Rede  war. 
Wir  wissen,  daß  er  schon  damals  an  eine  solche  Weigerung  nicht 
gedacht  hat.  Ganz  sinnlos  erscheint  in  solcher  Verbindung,  daß  der 
Kardinal  Bellarmin  die  Verhandlung  mit  einer  milden  Mahnung 
eröffnet  und  dann  der  Inquisitionskommissar  mit  dem  schärfsten 
Befehl  in  die  Schranken  tritt.  Aber  nicht  nur  mit  dem  Befehl  des 
Papstes  ist  der  Vorgang,  wie  ihn  der  Bericht  vom  26.  Februar  schildert, 
unvereinbar,  sondern  auch  mit  den  bestimmtesten  Aussagen  Galileis 
und  dem  klaren  Zeugnis  des  Kardinal  Bellarmin,  also  mit  der  gleich- 


—     173     — 

lautenden  Anjjahe  der  beiden  unzweifelhaft  beteilif^^en  Personen: 
nach  Aussa^'e  beider  Zeui^^'U  ist  der  wirkliehe  Vorifani,'  am  20.  Februar 
darauf  hinausj,M'k(»nunen.  daü  der  Kardinal  Bellarniin  Galilei  von 
dem  Beschlossenen  in  Kenntnis  setzte  und  ihn  aufforderte,  sich  danach 
zu  richten.     Galilei  fü^e  sich  und  versprach,  zu  g:ehorchcn. 

r^ach  meiner  festen  Überzeuf^uns  ist  die  einzi<?e  Lösun«;  der 
Widersprüche,  zui^leich  der  Schlüssel  zum  Geheimnis  des  ganzen 
Prozesses,  in  einer  Auffassung  zu  suchen,  die  sich  mir  bei  der  ersten 
Keschäftigung  mit  diesen  Dokumenten  aufgedrängt  und  seitdem  in 
wahrhaft  überraschender  Weise  von  allen  Seiten  bestätigt  hat,  in 
der  einfachen  Annahme  nämlich,  daß  das  Aktenstück  vom  26.  Februar 
1Ü16  nicht  im  Jahre  1616,  sondern  im  Jahre  1632  entstanden, 
also  untergeschoben  ist.  Ich  habe  an  anderer  Stelle  diese  An- 
nahme, ohne  die  meiner  Überzeugung  nach  der  ganze  Verlauf  des 
Prozesses  vom  Jahre  1633  unverständlich  ist  und  die  nach  meinem 
l)esten  Wissen  mit  keiner  anderweitig  bekannten  Tatsache,  mit  keinem 
beglaubigten  Dokument  in  Widerspruch  steht,  ausführlich  begründet.^ 

Die  erste  authentische  Nachricht  über  dies  merkwürdige  Akten- 
stück rührt  vom  11.  September  1632  her.  An  diesem  Tage  schreibt 
der  Gesandte  Xiccolini  nach  Florenz,  er  erfahre  von  dem  Pater 
Kiccardi  unter  dem  Siegel  des  Geheinmisses  die  hochwichtige  Mit- 
teilung: es  habe  sich  in  den  Archiven  gefunden,  daß  Galilei  im  Jahre 
1616  im  Xamen  des  Papstes  und  der  Inquisition  der  Befehl  erteilt 
worden  sei,  auf  jede  Erörterung  der  copernicanischen  Lehre  zu  ver- 
zichten. Dies  allein,  fügte  der  Pater  hinzu,  genüge,  um  Galilei  zu- 
grunde zu  richten. 

In  der  Tat  hat  man  sich  im  Jahre  1633  des  Dokuments, 
von  dem  wir  reden,  bedient,  um  Galilei  zugrunde  zu 
richten,  in  der  Tat  hat  es  sich  genau  in  dem  Augenblick  vor- 
gefunden, wo  es  an  einer  handgreiflichen  Schuld  für  den  strengen 
Richter  fehlte.  Diese  beiden  Tatsachen  sind  konstatiert;  dann  aber 
auch  die  dritte,  daß  dieses  Dokument  von  denen,  die  es  benutzten, 
ohne  weiteres,  ohne  Prüfung,  allen  Widersprüchen  und  der  aller- 
verdächtigstcn  Form  zum  Trotz  als  ein  glaubwürdiges  betrachtet 
und  verwertet  ist. 


^  Der  InquLsitionsprozeß  des  Galileo  Galilei,   Berlin  1870;   vergl.  auch 
Anhang  II  A,  wo  die  neueren  Studien  zu  dieser  Frage  behandelt  sind. 


—     174     — 

Daß  OS  ein  Goriiigos  war,  mit  oinoiii  solclicn  Schriftstück  in  der 
Haiui.  Galilei  zu  verurteilen,  sieht  man  leicht:  der  Nachweis,  daß 
durch  Galileis  Dialoge  die  Meiinino;  des  Copernicus  in  irgendeiner 
Weise  als  Lehre  vorgetragen  sei,  war  trotz  der  mehrfach  besprochenen 
Einschaltungen  leicht  zu  führen.  Die  spätere  Erlaubnis  der  Inqui- 
sition hatte  nun  keine  Bedeutung;  denn  der  Zensor,  der  die  Erlaubnis 
erteilt  hatte,  kannte  den  Befehl  von  1616  nicht.  Galilei  hatte  ihn, 
wie  die  Anklage  sagt,  trügerischerweise  verheimlicht. 

Am  13.  Februar  1633  kam  Galilei  nach  ungewöhnlich  langer 
beschwerlicher  Reise  in  Rom  an;  man  gestattete  ihm  vorläufig  den 
Aufenthalt  im  Hause  des  Florentiner  Gesandten;  nur  durfte  er  das 
Haus  nicht  verlassen,  mit  anderen  als  den  Hausgenossen  nicht  ver- 
kehren. Erst  2  Monate  später,  am  12.  April,  erschien  er  zum  ersten 
Male  zum  Verhör  im  Palast  der  Inquisition. 

Man  suchte  vor  allem,  durch  ein  Geständnis  des  Angeklagten 
seine  Schuld,  d.  h.  eine  Verletzung  des  Befehls  vom  Februar  1616, 
festzustellen.  Man  befragte  ihn  über  die  Vorgänge  im  Jahre  1616. 
Gahlei  erzählt  von  den  Verhandlungen,  die  dem  Verbot  der  coperni- 
canischen  Lehre  vorangegangen  waren,  von  der  schließlichen  Ent- 
scheidung der  Kongregation  des  Index.  Auf  Befragen  erklärt  er, 
daß  ihm  diese  Entscheidung  durch  den  Kardinal  Bellarmin  persön- 
lich mitgeteilt  sei. 

Weiter  wird  gefragt:  ob  bei  dieser  mündlichen  Mitteilung  des 
Kardinals  andere  Personen  zugegen  gewesen  seien  und  welche.  Galilei 
erinnert  sich,  daß  einige  Dominikanerväter  zugegen  waren,  aber  er 
kannte  sie  nicht  und  hatte  sie  niemals  sonst  gesehen.  Ob  von  diesen 
Vätern  oder  von  jemand  sonst  ihm  in  bezug  auf  denselben  Gegenstand 
ein  Befehl  erteilt  sei  und  welchen  Inhalts?  Galilei  erzählt  dann  den 
Vorgang  vom  26.  Februar  nach  seiner  Erinnerung:  er  weiß  nur,  daß 
der  Kardinal  Bellarmin  ihm  mitgeteilt  hat,  daß  die  Meinung  des 
Copernicus  als  schriftwidrig  weder  für  wahr  gehalten  noch  verteidigt 
werden  könne.  Ob  jene  Dorainikanerväter  dabei  zugegen  waren  oder 
erst  später  kamen,  ist  seinem  Gedächtnis  entfallen.  Er  hält  für  mög- 
lich, daß  die  Mitteilung  des  Kardinals  einen  Befehl  enthalten  habe, 
aber  er  erinnert  sich  dessen  nicht. 

Der  Inquirent  hält  offenbar  während  der  ganzen  Verhandlung 
jenes  Protokoll  vom  26.  Februar  1616  in  Händen,  er  blickt  von  Zeit 


—     175     — 

zu  Zeit  liiiiein,  und  Galilei  muß  überzeugt  sein,  daß  man  alles  weiß; 
so  wagt  er  nicht,  seinen  Krinnerungen  zu  trauen,  er  redet  von  einem 
Befehl,  nur  weil  ei  sieht,  daß  ein  Hei'ehl  registriert  ist. 

Der  Inquirent  fragt  weiter:  ob  er  sich  dessen,  was  ihm  damals 
gesagt  und  als  Befehl  auferlegt  wurde,  erinnern  werde,  wenn  es  ihm 
vorgelesen  werde?  Galilei  ist  bestürzt,  weil  er  merkt,  daß  man  noch 
ein  Geständnis  verlangt,  und  er  bereits  gesagt  hat,  was  er  weiß.  Er 
(Mwidert:  ,,Ich  erinnere  mich  nicht,  daß  mir  etwas  anderes  gesagt 
wurde;  ich  weiß  nicht,  ob  ich  mich  dessen,  was  mir  damals  gesagt 
wurde,  erinnern  werde,  auch  wenn  es  mir  vorgelesen  würde.  Ich 
spreche  freimütig  aus,  was  mir  erinnerlich  ist,  weil  ich  mir  bewußt 
bin,  dem  erteilten  Befehl  nicht  zuwider  gehandelt  zu  haben." 

Darauf  sagt  ihm  der  Inquirent:  in  dem  Befehl,  der  ihm  damals 
in  Gegenwart  von  Notar  und  Zeugen  erteilt  wurde,  sei  enthalten, 
daß  er  die  genannte  Meinung  in  keiner  Weise  für  wahr  halten,  ver- 
teidigen oder  lehren  dürfe.  Er  möge  wenigstens  sagen,  ob  er  sich 
erinnere,  in  welcher  Weise  und  von  wem  ihm  dies  insinuiert  sei. 
Offensichtlich  wird  der  Versuch  gemacht,  Galilei  durch  Andeutungen 
ein  vollständiges  Geständnis  zu  entlocken:  man  erwartet,  daß  er 
nun  endlich  sich  des  Kommissars  der  Inquisition  und  der  Androhung 
des  Inquisitionsprozesses  erinnert.  Aber  die  Andeutungen  sind 
Galilei  unverständlich;  er  wiederholt,  nur  noch  ängstlicher,  was  er 
bereits  viermal  geantwortet  hat:  „Ich  erinnere  mich  nicht,  daß  mir 
dieser  Befehl  von  jemand  sonst  als  durch  das  mündliche  Wort  des 
Kardinal  Bellarmin  insinuiert  worden  w'äre;  ich  erinnere  mich,  daß 
der  Befehl  war:  ,, nicht  für  wahr  zu  halten  noch  zu  verteidigen"';  es 
kann  sein,  daß  auch  dabei  gewesen  ist:  „nicht  zu  lehren".  Ich  erinnere 
mich  dessen  nicht,  auch  nicht,  daß  die  Bestimnmng  „in  keiner  Weise" 
dabei  gewesen  ist,  aber  es  kann  sein,  daß  sie  dabei  gewesen  ist;  denn 
ich  habe  kein  Xachdenken  darauf  verwandt  und  nicht  weiter  gesorgt, 
die  Worte  im  Gedächtnis  zu  behalten,  weil  ich  ein  paar  Monate  später 
ein  schriftliches  Zeugnis  über  den  Vorgang  von  dem  Kardinal  Bellarmin 
erhalten  hatte,  in  dem  sich  nur  die  Worte:  ., nicht  für  wahr  halten 
und  nicht  verteidigen"  finden." 

Gahlei  legt  darauf  die  Abschrift  einer  schriftlichen  Erklärung 
vom  Mai  1616  vor^  in  der  Kardinal  Bellarmin,  um  ihn  gegen  Ver- 


'  Vcrcl.  Bd.  1  8.  64Ü. 


—     176     — 

leumdungen  zu  schützen,  mit  seiner  ]N'amensimterschrift  bezeugt,  es 
sei  ihm  keinerlei  Strafe  auferlegt,  sondern  nur  das  später  von  der 
Kongregation  des  Index  veröffentlichte  Dekret  mitgeteilt 
worden,  des  Inhalts,  daß  die  dem  Copernicus  zugeschriebene  Lehre 
der  Heiligen  Schrift  zuwider  ist  und  somit  weder  für  wahr  gehalten 
noch  verteidigt  werden  darf. 

Die  wesentliche  Abweichung  dieser  schriftlichen  Erkläiung  von 
dem  Inhalt  des  Inquisitionsprotokolls  liegt  offenbar  nicht  in  den 
einzelnen  Worten,  die  Galilei  fremd  klingen,  sondern  darin,  daß  nach 
dem  Wortlaut  dieser  Erklärung  die  einzige  Regel  für  die  Beurteilung 
eines  späteren  Vergehens  in  dem  Dekret  der  Indexkongregation  gegen 
die  copernicanische  Lehre  zu  finden  war.  Dies  Dekret,  das  bekanntlich 
die  copernicanische  Lehre  als  Hypothese  gelten  ließ,  war  die  bestinmite 
Piichtschnur  für  den  Zensor,  als  er  die  Dialoge  prüfte;  die  Erlaubnis 
zum  Druck  bewies  dann,  daß  der  Zensor  kein  Vergehen  gegen  das 
Dekret  gefunden  hatte.  ^N'ach  dem  InquisitionsprotokoU  dagegen 
war  Galilei  ein  Befehl  unter  der  bestimmten  Androhung  des  Inqui- 
sitionsprozesses erteilt,  der  weit  über  den  Inhalt  des  Dekrets  hinaus- 
ging; ein  Befehl,  in  dem  jede  Art  der  Erörterung,  also  auch  die 
hypothetische,  untersagt  war;  ein  Befehl,  der  über  Galilei  eine  völlige 
Ausnahmestellung  verhängte  und  der  für  den  Zensor  keine  weitere 
Vorschrift  enthielt  als  die,  eine  jede  Schrift  dieses  Mannes,  die 
von  Copernicus  rede,  unter  allen  Umständen  zu  verwerfen. 

Der  eigentliche  Inhalt  dieses  Protokolls  bleibt  Galüei  vollständig 
unbekannt;  nur  die  Andeutungen  in  den  Fragen  des  Untersuchungs- 
richters hält  er  fest,  aber  dabei  wird  ihm  bis  zuletzt  verschwiegen, 
daß  nicht,  wie  er  sich  erinnert,  der  Kardinal  Bellarmin,  sondern  ein 
Vertreter  der  Inquisition  den  entsprechenden  Befehl  gesprochen 
haben  soU.  Die  Frage,  wer  ihm  den  Befehl  erteilt,  wird  nicht  wieder- 
holt, nachdem  Galilei  fünfmal  geantwortet  hat:  „Niemand  anders  als 
der  Kardinal  Bellarmin."  Durch  keine  weitere  Frage  wird  auch  nur 
versucht,  diesen  Widerspruch  zu  lösen,  obgleich  nach  der  Aussage 
Galileis  und  dem  gewichtigen  Zeugnis  des  Kardinal  Bellarmin  die 
Anklage,  einen  speziellen  Inquisitionsbefehl  bei  der  Erlangung  der 
Druckerlaubnis  verheimücht  zu  haben,  vollkommen  unhaltbar  wurde. 
Diese  Tatsache  ist  in  einer  späteren  schriftlichen  Verteidigung,  die 
Galilei  seinen  Richtern  neben  dem  Originalzeugnis  des  Kardinal 
Bellarmin  überreichte,  in  den  klarsten  Worten  erwiesen.     Galilei  ist 


—     177     — 

auch  hier  der  Meinung,  daß  die  weitergehenden  Worte,  die  man  ihm 
vorgelesen  hat,  die  Worte:  ,,in  keiner  Weise  zu  lehren"  als  mündhche 
Worte  des  Kardinal  Bellarniin  verzeichnet  sind.  Denn  er  weiß  nur 
von  der  Anrede  des  Kardinals;  nur  in  diesem  Sinne  sucht  er  sich  zu 
entschuldigen,  daß  er  diese  Worte  nicht  beachtet  habe.  ,,Aus  diesem 
Zeugnis",  heißt  es  in  der  am  10.  Mai  eingereichten  Verteidigungs- 
schrift Galileis  „ist  klar  zu  ersehen,  daß  mir  nur  mitgeteilt  worden, 
die  dem  Copernicus  zugeschriebene  Lehre  von  der  Bewegung  der  Erde 
könne  WTder  für  wahr  gehalten  noch  verteidigt  werden,  und  davon, 
daß  mir  außer  diesem  allgemeinen  Erlaß,  der  allen  gilt,  noch  irgend 
etwas  füi"  mich  allein  auferlegt  wäre,  findet  sich  in  dem  Zeugnis  keine 
Spur.  Da  ich  nun  dies  authentische  Zeugnis  von  der  Hand  des- 
selben Mannes  mir  zur  Erinnerung  bewahrte,  der  mir  die  Vor- 
schrift zur  Kenntnis  gebracht,  so  habe  ich  an  die  Ausdrücke,  die 
bei  der  mündlichen  Mitteilung  des  Befehls  gebraucht  wurden,  nicht 
weiter  gedacht,  und  deshalb  sind  die  beiden  Bestimmungen,  „in 
keiner  Weise"  „zu  lehren",  die  der  mir  erteilte  Befehl,  wie  ich  höre, 
außer  dem  „Fürwahrhalten  und  Verteidigen"  enthält,  für  mich  ganz 
neu  hinzugekommen  und  wie  nie  gehört.  Wenn  aber  diese  beiden 
Bestimmungen  weggelassen  und  nur  die  anderen  beibehalten  werden, 
die  im  Zeugnis  des  Kardinals  verzeichnet  sind,  so  bleibt  kein  Zweifel 
möghch,  daß  der  Befehl,  der  in  ihm  auferlegt  wird,  dieselbe  An- 
ordnung ist,  wie  die  im  Dekret  der  Index-Kongregation. 
Und  darin  scheint  mir  eine  hinreichende  Entschuldigung  dafür  zu 
liegen,  daß  ich  dem  Meister  vom  Heiligen  Palast  von  der  mir  persön- 
lich erteilten  Vorschrift  keine  Mitteilung  gemacht  habe,  da  sie  dieselbe 
ist,  wie  die  Anordnung  der  Kongregation  des  Index." 

In  den  Akten  findet  sich  keine  Andeutung,  daß  diese  Verteidigung 
weitere  Berücksichtigung  gefunden  hat;  der  Wortlaut  des  Urteils 
beweist,  daß  man  außerstande  war,  sie  zu  widerlegen.  Aber  wir  hören 
aus  dem  Munde  des  Papstes  Urban  in  seiner  Unterredung  mit  dem 
Florentiner  Gesandten,  daß  es  bei  diesem  Tribunal  nicht  üblich  war, 
sich  mit  einer  Verteidigung  aufzuhalten,  daß  vielmehr  alles  darauf 
hinauskam,  zu  urteilen  und  zum  Widerspruch  zu  z^^dngen. 

Über  diesen  eigentlichen  Kern  der  Verhandlungen,  näm- 
lich darüber,  daß  die  Verteidiger  der  Inquisition  die  Verteidigung 
Galileis  in  ihrem  wahren  Zusammenhang  durchaus  unterdrückt  haben, 
ist  man  bisher  allgemein  hinweggegangen.     Dagegen  hat  man  mit 

Wohlwill,  Galilei.    II.  12 


—     178     — 

der  größten  Ausführlichkeit  und  Vollständigkeit  aus  den  Akten  die 
demütigen,  nach  dem  ersten  Eindruck  völlig  würdelosen  Äußerungen 
zusammengestellt,  in  denen  Galilei  nach  dem  Rat  seiner  Freunde, 
um  nur  so  bald  wie  möghch  seine  Freiheit  wieder  zu  gewinnen,  seine 
eigenthchen  Gesinnungen  vollkommen  preisgibt. 

In  der  Tat,  als  man  ihn  nach  jener  Vernehmung  drei  Wochen 
lang  in  den  Gemächern  des  Inquisitionspalastes  zurückgehalten  und 
der  unerträgliche  Mangel  an  Bewegung  ihn  aufs  Ki^ankenlager  gebracht 
hatte,  erschien  er  im  zweiten  Verhör  vollständig  gebrochenen  Mutes. 
Er  erklärte  sich  bereit,  wenn  man  ihm  nur,  wie  er  wünsche,  Gelegen- 
heit und  Zeit  vergönne,  deutlichst  darzutun,  daß  er  die  verworfene 
Ansicht  von  der  Erdbewegung  mit  nichten  geteilt  und  ebensowenig 
sie  jetzt  für  wahr  halte.  „Den  Anlaß  zu  finden,"  sagt  er,  „wird  mir 
leicht  werden,  da  in  dem  von  mir  herausgegebenen  Buch  die  redenden 
Personen  sich  verabredet  haben,  noch  ciimial  zusammenzukommen, 
um  über  andere  naturwissenschaftliche  Gegenstände  miteinander  zu 
reden.  Da  ich  bei  dieser  Gelegenheit  ein  oder  zwei  Unterredungen 
werde  hinzufügen  müssen,  so  verspreche  ich,  die  zugunsten  der 
gedachten  falschen  und  verworfenen  Meinung  angeführten  Gründe 
nochmals  vorzunehmen  und  auf  die  bündigste  Weise,  die  unser  barm- 
herziger Herrgott  mir  eingeben  wird,  zu  widerlegen.  Ich  bitte  dem- 
gemäß diesen  Hohen  Gerichtshof,  mir  bei  diesem  guten  Vorsatz 
behilfhch  zu  sein  und  mir  dessen  Verwklichung  möglich  zu  machen." 

Das  ist  eine  von  den  Stellen,  bei  denen  es  selbst  die  Getreuen 
der  Kirche,  die  eifrigen  Vertreter  der  römischen  Inquisition  für  un- 
erläßhch  halten,  ihr  schmerzhches  Bedauern  auszusprechen,  daß  der 
große  Mann  so  gänzüch  seiner  Würde  vergessen  konnte.  Gewiß  soll 
hierfür  keine  Rechtfertigung  versucht  werden.  Aber  die  Schrift- 
steller, die  dies  fromme  Mitleid  nicht  unterdrücken  können,  über- 
sehen oder  vergessen  das  wichtigste,  daß  nämlich,  wenn  bei  Gaülei 
von  einer  sittlichen  Schuld  die  Rede  sein  soll,  diese  Schuld  in  vollem 
Maße  sich  auf  beiden  Seiten  findet;  es  bleibe  dahingestellt,  auf  welcher 
Seite  die  größere.  Der  ganze  Verlauf  des  Prozesses,  die  Geschichte 
Ganieis  bis  zu  seinem  Ende  beweist  aufs  unwidersprechlichste,  daß 
auf  beiden  Seiten  das  gesprochene  Wort,  ja  der  geschworene  Eid 
mit  der  vollkommensten  Gleichgültigkeit  behandelt  wird.  Die  Richter 
Galileis  wollen  nicht  die  Wahi'heit,  sie  wollen  Unterwerfung,  sie 
wollen  nicht  seine   Gesinnungen  kennen,   sie  wollen  Worte  hören» 


I 


—     179     — 

von  denen  sie  überzeugt  sind,  daß  Galilei  sie  ohne  Glauben  spricht. 
Und  so  redet  und  verspricht  Galilei  ohne  Glauben,  was,  wie  er  meint, 
nach  ihrem  Sinne  klingt. 

Wie  wenig  die  Richter  selbst  dem  Versprechen  trauten,  daß  er 
nun  auch  gegen  den  Copernicus  schreiben  wollte,  geht  daraus  hervor, 
daß  ihm  später  ausdrücklich  auferlegt  wurde,  weder  für  noch  gegen 
die  verbotene  Lehre  zu  schreiben. 

Am  10.  Mai  hatte  Galilei  seine  Verteidigung  eingereicht;  erst 
am  21.  Juni,  volle  6  Wochen  später,  erhielt  er  eine  letzte  Vorladung. 
Was  inzwischen  in  seiner  Sache  geschehen  ist,  deckt  tiefes  Dunkel; 
über  die  Verhandlungen  der  Richter  ist  nicht  das  Mindeste  erhalten. 

Galilei  deutet  die  Verzögerung  in  günstigem  Sinne.  Man  hatte 
ihm  von  neuem  gestattet,  seinen  Aufenthalt  im  Palaste  des  Floren- 
tiner Gesandten  zu  nehmen.  Dieser  wurde  nicht  müde,  in  ritterHchster 
Weise  für  ihn  tätig  zu  sein.  Als  mederum  der  andauernde  Mangel 
an  Bewegung  sich  für  Galilei  nachteilig  äußerte,  wußte  Mccolini  eine 
Erlaubnis  zu  erwirken,  daß  er  im  halbgeschlossenen  Wagen  durch 
die  Vorstädte  fahren  dürfe.  Vergünstigungen  dieser  Art  waren  nie 
einem  Inquisitionsgefangenen  zuteil  geworden;  so  befestigte  sich  in 
ihm  die  Zuversicht  auf  einen  guten  Ausgang  Er  baute  auf  den  un- 
widersprechhchen  Beweis,  den  seine  Verteidigung  in  den  wichtigsten 
Punkten  der  Anklage  für  seine  Unschuld  geliefert  hatte.  Aber  schon 
am  29.  Mai  hatte  der  Papst  geäußart,  daß  wohl  die  Dialoge  ein  Verbot 
und  Galilei  selbst  wegen  Übertretung  des  Befehls  von  1616  eine  heil- 
same Buße  treffen  werde. 

So  erwartete  Galilei  nichts  Geringeres  als  völlige  Freiheit,  als 
man  ihn  zum  letzten  Mal  in  den  Palast  des  Heiligen  Offiziums  berief. 
Li  furchtbarer  Weise  sollte  er  enttäuscht  werden.  Der  Untersuchungs- 
richter nahm  ihm  wie  gewöhnlich  den  Eid  ab,  die  Wahrheit  sagen 
zu  wollen.  Er  fragt  daim,  ob  er  aus  sich  selbst  noch  etwas  zu  sagen 
habe.  Gahlei  erwidert:  ,,Ich  habe  nichts  zu  sagen".  Ob  er  für  wahr 
halte  oder  für  wahr  gehalten  habe  und  seit  welcher  Zeit,  daß  die  Sonne 
das  Zentrum  der  Welt  und  die  Erde  nicht  das  Zentrum  der  Welt  sei, 
vielmehr  eine  tägliche  Bewegung  habe?  Galilei:  ,, Lange  Zeit  vor 
der  Entscheidung  der  Heiligen  Kongregation  des  Index  und  ehe  mir 
der  Befehl  erteilt  wurde,  war  ich  unentschieden  und  hielt  die  beiden 
Meinungen  des  Ptolemaeus  und  Copernicus  für  diskutierbar,  weil  die 
eine  wie  die  andere  in  der  Natur  wahr  sein  konnte;  aber  nach  der 

12* 


—     180     — 

Entscheidung,  da  mk  durch  die  Khigheit  der  Oberen  Gewißheit 
gegeben  war,  hörte  in  mir  jeder  Zweifel  auf,  und  ich  hielt  und 
ich  halte  noch  jetzt  für  durchaus  wahr  und  nicht  anzuzweifeln  die 
Meinung  des  Ptolemaeus,  daß  die  Erde  ruht  und  die  Sonne  sich 
bewegt." 

Darauf  wurde  ihm  gesagt,  aus  der  Art  und  Weise,  wie  in  seinem 
später  erschienenen  Buch  diese  Lehre  behandelt  und  verteidigt  ■werde, 
ja  schon  daraus,  daß  er  dieses  Buch  geschrieben  und  veröffentlicht 
habe,  gehe  hervor,  daß  er  noch  nach  dieser  Zeit  diese  Meinung  für 
wahr  gehalten  habe;  so  möge  er  frei  die  Wahrheit  sagen:  ob  er  sie 
für  wahr  halte  oder  gehalten  habe,  Galilei  wiederholt,  sein  Buch 
beweise,  wie  die  natürlichen  und  astronomischen  Gründe  die  Sache 
unentschieden  lassen,  und  er  zeige  daher,  wie  aus  vielen  Stellen  seiner 
Dialoge  zu  sehen,  daß  man,  um  mit  Sicherheit  zu  erkennen,  zur  Ent- 
scheidung aus  erhabenerer  Wissenschaft  seine  Zuflucht  nehmen  müsse. 
„So,"  sagt  er,  „schließe  ich  in  mir,  daß  ich  nach  der  Entscheidung 
der  Oberen  die  verurteilte  Meinung  nicht  für  wahr  halte  und  nicht 
für  wahr  gehalten  habe." 

Der  Richter  wiederholt:  aus  seinem  Buche  und  aus  den  Gründen, 
die  er  für  die  Erdbewegung  anführe,  sei  zu  entnehmen,  daß  er  die 
Meinung  des  Copernicus  für  wahr  halte  oder  wenigstens  damals  für 
wahr  gehalten  habe;  und  wenn  er  sich  nicht  entschließe,  die  Wahrheit 
zu  gestehen,  so  werde  man  gegen  ihn  mit  den  geeigneten  Rechts- 
initteln  vorgehen, 

Galilei:  „Ich  halte  die  Meinung  des  Copernicus  nicht  für  wahr 
und  habe  sie  nicht  dafür  gehalten,  seitdem  mir  vorgeschrieben  war, 
daß  ich  sie  aufgeben  sollte;  im  übrigen  bin  ich  hier  in  euren  Händen, 
macht  mit  mir,  was  euch  gefällt,"  Noch  einmal  wiederholt  der 
Richter,  er  möge  die  Wahrheit  sagen,  sonst  werde  man  zur  Folter 
schreiten.  Galilei  antwortet:  „Ich  bin  hier,  um  mich  zu  unterwerfen, 
und  ich  habe  diese  Meinung  seit  der  Entscheidung  nicht  für  wahr 
gehalten,  wie  ich  gesagt  habe,"  Darauf  entheß  man  ihn  in  sein 
Gefängnis  im  Inquisitionspalast, 

So  der  Wortlaut  des  Protokolls  über  das  letzte  Verhör,  wie  er 
jetzt  in  der  Aktensammlung  vorliegt.  Es  ist  daraus  fast  allgemein 
geschlossen  worden,  daß  man  sich  tatsächlich  damit  begnügt  habe, 
in  dieser  Weise  Galilei  gleichsam  nur  den  Vorgeschmack  der  Folter 
empfinden  zu  lassen.    Doch  besteht,  wie  ich  in  einer  ausführlichen, 


—     181     — 

diesem  Gegenstand  gewidmeten  Studie^  nachgewiesen  habe,  der 
begründete  Verdacht,  daß  dieses  Protokoll  erst  nachträglich  unter 
Vernichtung  eines  früheren,  an  gleichem  Ort  vorhanden  gewesenen 
Berichts  an  die  Stelle,  an  der  es  sich  jetzt  befindet,  verbracht  worden 
ist.  Aus  der  das  Urteil  gegen  Galilei  enthaltenden  Sentenz  scheint 
hervorzugehen,  daß  zum  mindesten  der  „erste  Grad  der  Tortur", 
die  „territio  realis",  d.  h.  ein  Verhör  am  Ort  und  im  Angesicht  der 
Folterwerkzeuge  gegen  ihn  angewandt  worden  ist. 

Gewiß  ist  aber  jedenfalls,  wie  sehr  die  Worte  zu  widersprechen 
scheinen,  daß  es  auch  bei  diesem  letzten  Verhör  dem  Kichter  der 
Inquisition  nicht  auf  die  Wahrheit  der  Aussagen  ankam.  Denn  wie 
uns  heute  die  Akten  verraten,  war  schon  am  16.  Juni,  also  5  Tage 
vor  diesem  Verhör,  durch  einen  bestimmten  Befehl  der  Ausgang  des 
Prozesses  den  Richtern  vorgeschrieben.  „Sanctissimus",  heißt  es  in 
dem  Schriftstück,  „hat  befohlen,  den  Galilef  de  intentione  (d.  h.  über 
die  Absicht  und  Gesinnung,  die  seinem  Buch  zugrunde  liegt)  zu 
befragen  unter  Androhung  der  Tortur,  als  ob  er  sie  ertragen  solle, 
und  alsdann  ihn  in  der  vollen  Kongregation  des  Heiligen  Offiziums 
abschwören  zu  lassen  und  zum  Gefängnis  nach  Belieben  der  Heihgen 
Kongregation  zu  verurteilen."  Es  folgt  dann  der  wesentliche  Inhalt  des 
bald  darauf  wirklich  zur  Ausführung  gebrachten  Urteils.  Es  ist  daraus 
ersichtlich,  daß  die  Aussage  Galileis  im  letzten  Verhör,  ob  er  die  Absicht 
gestehe  oder  nicht,  auf  den  Ausgang  keinen  Einfluß  ausüben  sollte. 

Am  Tage  nach  diesem  Verhör  mußte  Galilei  in  einer  feierlichen 
Sitzung  der  Inquisition  den  Irrtum,  daß  die  Erde  sich  bewege  und 
die  Sonne  ruhe,  abschwören.  Auf  den  Knien  liegend  sprach  er  die 
Worte  der  Verwünschungsformel  nach:  „Ich  schw^öre  ab,  verwünsche 
und  verfluche  mit  redlichem  Herzen  und  nicht  erheucheltem  Glauben 
alle  diese  Irrtümer  und  Ketzereien,  sowie  überhaupt  jeden  anderen 
Irrtum  und  jede  Meinung,  welche  der  Heiligen  katholischen  und 
römisch-apostolischen  Kirche  entgegen  ist;  auch  schwöre  ich,  in 
Zukunft  weder  mündlich  noch  schrifthch  etwas  zu  sagen  oder  zu 
behaupten,  w^as  ähnlichen  Verdacht  der  Ketzerei  gegen  mich  begründen 
könnte;  und  sollte  ich  einen  Ketzer  oder  der  Ketzerei  Verdächtigen 
kennen,  so  werde  ich  ihn  dem  Heiligen  Offizium  oder  dem  Inquisitor 
oder  meinem  Diözesanbischof  anzeigen." 

^  Ist  Galilei  gefoltert  worden?    Leipzig  1877  bei  Duncker  &  Humblot; 
s.  ferner  Anhang  II,  B. 


—     182     — 

Das  Urteil,  das  alsdann  nach  dem  Befehl  des  Papstes  gegen 
Galilei  ausgesprochen  wurde,  ging  dahin,  daß  die  Dialoge  vollständig 
verboten  wurden,  Galilei  zum  Gefängnis  in  den  Kerkern  der  Inqui- 
sition verurteilt  wurde,  solange  es  dem  Heiligen  Offizium  gefalle, 
und  daß  er  als  heilsame  Buße  drei  Jahre  lang  einmal  die  Woche  die 
71  Bußpsalmen  zu  sprechen  habe. 

Die  Sage  läßt  Galilei,  vde  er  kaum  nach  der  Abschwörung  sich 
erhoben  hat,  von  dem  Gefühl  der  Wahrheit  übermannt  mit  dem 
Fuße  stampfen  und  halblaut  die  Worte  herausstoßen:  „Und  sie 
bewegt  sich  doch!"  Es  ist  kein  Zweifel  möglich,  daß  dieses  trotzige 
Wort  nicht  nur  nach  der  Verwünschungsformel  ohne  Sinn  ist,  sondern 
auch  in  keiner  Weise  dem  Charakter  des  Mannes  entspricht,  der  sich 
in  der  Stunde  der  Gefahr  bereit  erklärt  hat,  seine  eigene  Lehre  zu 
widerlegen.  Und  so  ist  in  der  Tat  dies  Wort  von  keiner  glaubwürdigen 
Quelle  verbüi'gt,  vermutHch  erst  später  erfunden  oder  doch  erst 
spät  aus  einer  volkstümlichen  Überlieferung  in  die  geschichthche 
Erzählung  eingedrungen. 

Aber  was  in  der  Stunde  der  Erniediigung  kein  Ohr  aus  seinem 
Munde  vernommen,  das  hörte  und  glaubte  in  jenen  Tagen  jedermann, 
und  das  wußten  vor  allen  übrigen  die  Männer,  zu  deren  Füßen  kniend 
er  seinen  Irrtum  abgeschworen  hatte;  von  ihnen  allen,  Papst  und 
Kardinälen,  zweifelte  nicht  ein  einziger,  daß  Galilei  dem  Glauben, 
den  er  verleugnete,  nicht  einen  Augenblick  untreu  geworden  war. 

Kur  wenige  Worte  sind  über  die  Bedeutung  des  Urteils  Jiinzu- 
zufügen.  Wenn  man  in  dem  guten  Glauben  an  den  Prozeß  und  die 
vorhergehenden  Verhandlungen  geht,  daß  die  Beschlüsse,  die  uns 
heute  erschrecken,  in  dem  Lichte  ihrer  Zeit  wesentlich  anders, 
wesenthch  gemildert  erscheinen  müssen,  wenn  man  erwartet,  daß 
in  dem  Neuen,  Fremdartigen  der  copernicanischen  Lehre,  in  der 
Unvollkommenheit  der  damals  bekannten  Beweise  für  die  Entschei- 
dungen der  Inquisition  eine  mindestens  teilweise  Rechtfertigung 
gefunden  werden  müsse,  so  findet  man  sich  vollkommen  getäuscht. 
Von  einer  Prüfung  der  Wahrheit,  einer  Abwägung  der  Gründe  ist 
mi'gends  die  Rede:  so  wenig  im  Jahre  1616  das  Buch  des  Copernicus, 
so  wenig  sind  im  Jahre  1632  Galileis  Dialoge  geprüft  worden.  Je 
länger,  je  eingehender  man  die  Akten,  die  Gesandtschaftsberichte, 
die  Briefe  aus  den  Jahren  1632  und  1633  studiert,  um  so  gewisser 
sieht   man   neben   der   persönlichen  Intrigue,    Rachsucht   und  dem 


« 


—     183     — 

glühenden  Haß  persönlicher  Feinde  alles  übrige  als  bedeutungslos 
in  den  Hintergrund  treten. 

Bald  nach  der  Verurteilung  berichtet  ein  Freund  Galileis  aus 
Kom:  der  Jesuit  Pater  Grienberger  habe  ihm  wörtlich  folgendes 
gesagt:  „Wenn  Galilei  sich  die  Zuneigung  der  Väter  und  des  Kolle- 
giums zu  erhalten  gewußt  hätte,  so  würde  er  ruhmreich  in  der  Welt 
leben,  und  nichts  von  all  diesem  Mißgeschick  hätte  ihn  getroffen, 
und  er  hätte  nach  Belieben  über  alles  schreiben  können,  selbst  über 
die  Bewegung  der  Erde."  „So  seht  Ihr",  schreibt  Galilei  einem 
anderen  Freunde,  als  er  ihm  die  Worte  mitteilt,  „daß  es  nicht  diese 
oder  jene  Meinung  ist,  die  mir  den  Krieg  heraufbeschworen  hat, 
sondern  nur  die  Ungnade  der  Jesuiten." 

Wir  kennen  die  Intriguen  der  Jesuiten  nicht;  aber  wir  wissen, 
daß  der  Zorn  des  Papstes,  den  die  Jesuiten  zu  wecken  und  zu  schüren 
wußten,  die  Ursache  der  Verfolgung  und  der  Verurteilung  Galileis 
war.  Wir  wissen  heute,  daß  Urban  VIII.  Galilei  gegenüber  in  einer 
Person  Beleidigter,  Kläger  und  Richter  war.  Die  Kardinäle  der  In- 
quisition haben  nach  dem  Zeugnis  der  Akten  nur  seine  Befehle  aus- 
geführt. 

Hinfällig  erscheint  aber  auch  heute  die  verbreitete  Auffassung, 
nach  der  zwar  die  persönliche  Verfolgung  einer  Leidenschaft  einer 
milderen  Auffassung  im  Wege  gestanden,  übrigens  aber  in  der  Ver- 
letzung eines  bestimmten  Befehls  der  Inquisition  der  eigentliche  Grund 
der  Verurteilung  zu  suchen  wäre.  Es  ist  durch  die  Akten  konstatiert, 
daß  die  Tatsache  eines  solchen  Befehls  schon  im  Jahre  1633  im  höchsten 
Maße  zweifelhaft  erscheinen  mußte.  Ich  spreche  die  feste  Überzeugung 
aus,  daß  dieser  Befehl  nie  existiert  hat,  daß  vielmehr  das  einzige 
Aktenstück,  das  ihn  als  Tatsache  zu  verbürgen  scheint,  ein  Mach- 
werk jener  Feinde  ist,  denen  es  an  der  nötigen  Handhabe  fehlte,  ihr 
Opfer  mit  Sicherheit  zu  verderben. 


Achtes  Kapitel. 
Galilei,  der  Gefangene  der  Inquisition.^ 


Galilei  blieb  der  Gefangene  der  Inquisition  bis  ans  Ende  seines 
Lebens,  d.  li.  noch  beinahe  9  Jahre.  Es  war  freilich  keine  Gefangen- 
schaft im  dumpfen  Kerker  und  in  Ketten;  das  ursprüngliche  Urteil 
wurde  bald  gemildert;  man  mes  ihm  anfangs  einen  großherzoglichen 
Palast  in  Eom,  dann  nach  seinem  eigenen  Wunsch  die  Wohnung 
des  Erzbischofs  in  Siena  zum  Aufenthalt  an,  und  auf  wieder- 
holte Fürsprache  des  Gesandten  Niccolini  wm'de  ihm  schon  gegen 
Ende  des  Jahres  gestattet,  in  seine  Villa  in  Arcetri  nicht  weit  von 
Florenz  zurückzukehren.  Aber  sein  Tun  und  Lassen  blieb  unter  der 
Aufsicht  der  Inquisition,  dem  Papst  persönlich  blieb  es  vorbehalten, 
die  Vergünstigungen  nach  seinem  Belieben  fortdauern  oder  enden  zu 
lassen;  nur  auf  geringe  Entfernungen  durfte  Galilei  die  Villa  ver- 
lassen; der  Besuch  von  Florenz  war  auf  das  strengste  untersagt. 
Man  schrieb  ihm  vor,  sich  zurückgezogen  zu  halten,  niemals  viele 
Personen  zugleich  zu  Unterredungen  oder  Mahlzeiten  bei  sich  auf- 
zunehmen und  so  den  Verdacht  zu  meiden,  als  ob  er  sozusagen 
Akademie  in  seinem  Hause  hielte  oder  unter  seiner  Leitung  Er- 
örterungen über  unerlaubte  Dinge  stattfänden.  Der  Florentiner 
Inquisitor  überwachte  genau,  wer  mit  ihm  verkehrte.  Ketzer  und 
Leute  aus  ketzerischen  Staaten,  die  den  großen  Mann  aufsuchen 
wollten,  wurden  nicht  vorgelassen;  war  aber  der  Fremde  katholisch 
und  aus  katholischem  Lande,  so  durfte  er  Galilei  sehen  und  mit  ihm 
verhandeln,  aber  unter  der  Bedingung,  daß  dabei  nicht  von 
der  Bewegung  der  Erde  die  Rede  wäre.    So  oft  auf  besonderen 


^  Dieses  Kapitel  ist  Vorträgen  des  Verfassers  entnommen  (vergl.  Vor- 
rede).    Der  Herausgeber. 


-     185     — 

Wunsch  Galileis  ein  Freund  zu  kürzerem  oder  längerem  Aufenthalt 
nach  Arcetri  kam,  so  oft  wiederholte  der  Inquisitor  auf  päpstlichen 
Befehl  diese  Vorschrift. 

So  gering  achtete  man  die  bindende  Gewalt  der  furchtbaren 
Formel,  so  wenig  glaubten  diese  Herrscher  über  die  Gewissen  an  ihre 
eigene  Herrschaft.  Sie  täuschten  sich  nicht  in  ihrem  Gefangenen, 
aber  trotz  aller  Vorsicht  und  Klugheit  wurden  sie  von  ihm  hinter- 
gangen, wie  nur  jemals  Kerkermeister  von  ihren  Gefangenen  hinter- 
gangen sind. 

In  aller  Verfolgung,  allem  Schicksalswechsel  war  Galilei  in  der 
Nähe  und  Ferne  eine  kleine  Schar  der  treuesten,  hingebendsten 
Freunde  geblieben,  unter  ihnen  vor  allem  der  Pater  Castelli,  der  in 
Rom  seine  Sache  führte  und  immer  von  neuem  Versuche  unternahm, 
den  Papst  zu  überzeugen,  daß  er  einem  Unschuldigen  zürne,  daneben 
der  venetianische  Mönch,  der  Pater  Fiügenzio  Micanzio,  einer  von  den 
wenigen,  die  freimütig  ihrer  Entrüstung  über  das  Verfahren  gegen 
den  großen  Mann  den  rechten  Ausdruck  gaben.  Mit  der  Hilfe  solcher 
Freunde  gelang  es  Galilei,  der  systematischen  Überwachung  zum 
Trotz  sein  wertvollstes  Gut,  seine  Werke,  ins  Ausland  zu  retten. 
Schon  im  Juli  1633,  einen  Monat  nach  seiner  Verurteilung,  sandte 
Galilei  auf  geheimen  Wegen  das  verbotene  und  verdammte  Werk, 
dessen  Lehren  er  feierlich  abgeschworen  und  verflucht  hatte,  nach 
Straßburg  an  den  deutschen  Gelehrten  Bernegger  mit  der  Bitte, 
eine  lateinische  Übersetzung  zu  veranstalten,  aber  dabei  vollständig 
zu  verheimlichen,  daß  ein  solcher  Wunsch  von  ihm  ausgegangen  sei. 
Wie  man  sieht,  dachte  Galilei  von  der  Bedeutung  seines  Schwurs 
genau  so  wie  die  Männer,  die  ihn  ihm  aufgez^^•^mgen  hatten. 

Kaum  ein  Jahr  war  seit  dem  schwersten  Tage  seines  Lebens  ver- 
flossen, als  in  Holland,  der  Zuflucht  aller  verbannten  Geistesfreiheit, 
die  Dialoge  in  lateinischer  Sprache  erschienen;  wie  das  Vorwort  sagt, 
ohne  Vorwissen  und  sehr  ^vider  den  Willen  des  Verfassers;  aber  der 
Brief  ist  erhalten,  in  dem  w  heute  noch  aus  Galileis  überströmenden 
Dankesworten  für  den  Übersetzer  empfinden,  wie  sehr  ihn  die  Gabe 
Berneggers  beglückte. 

In  HoUand  erschien  dann  auch  in  italienischer  und  lateinischer 
Sprache  seine  größere  Schrift  über  das  Verhältnis  der  biblischen 
Texte  zur  Erkenntnis  der  Xatur,  besonders  zur  copernicanischen 
Lehre.    Es  war  eine  Schrift  von  wesentlich  ähnlichem  Inhalt,  wie  der 


—     186     — 

Brief  an  Castelli.  Galilei  hatte  sie  schon  im  Jahre  1615  geschrieben, 
aber  damals  und  noch  mehr  nach  dem  Verbot  aller  Werke  ähnlichen 
Inhalts  die  VeröffentHchung  bedenklich  gefunden.  Jetzt,  nach  seiner 
vollständigen  Verurteilung,  nachdem  ihm  jede  Art  der  Erörterung 
über  die  verbotene  Lehre  feierlich  untersagt  war,  jetzt  hielt  er  die 
Zeit  für  geeignet,  auch  dieses  Buch  in  aller  Welt  verkünden  zu  lassen, 
daß  er  in  seinen  Gesinnungen  niemals  einen  Augenblick  dem  wahren 
Glauben  untreu  geworden  war. 

Aber  neben  den  alten  Werken  erscheint  in  jenen  Tagen  ein 
neues,  als  ein  wunderbares  Zeugnis  der  außerordentlichen  geistigen 
Kraft,  die  Gahlei  bis  zu  seiner  Todesstunde  erhalten  blieb.  In  die 
ersten  Jahre  seiner  Gefangenschaft  fällt  die  Ausführung  seines  zweiten 
Hauptwerkes,  der  „Unterredungen  über  zwei  neue  Wissenschaften". 
Sie  enthalten  den  Inbegriff  der  Forschungen,  die  ihn  seit  jungen 
Jahren  fast  ohne  Unterbrechung  beschäftigt  hatten,  seine  Unter- 
suchungen über  die  gesamte  Bewegungslehre  und  über  die  Lehre 
von  der  Festigkeit  der  Körper.  In  diesem  Werke  finden  wir  zum  ersten 
Mal  in  vollständiger  Darstellung  und  Begründung  die  Entdeckungen, 
durch  die  Galilei  eine  Wissenschaft  der  Mechanik  geschaffen  hat, 
die  Gesetze  des  freien  Falls,  des  Falls  auf  schiefer  Ebene,  der  Wurf- 
bewegimg,  die  Pendelgesetze,  den  Satz  vom  Parallelogramm  der 
Bewegungen,  kurz  den  Kern  aUer  neuen  Bewegungslehre.  Wenn  ein 
einzelnes  Werk  in  solchem  Sinne  genannt  werden  kann,  so  gibt  es 
keines,  dem  nächst  dem  Buch  des  Copernicus  ein  größerer^  Anteil 
an  der  völligen  Erneuerung  der  Naturwissenschaft  zukommt,  als 
diese  Discorsi.  Auf  diesen  Blättern  war  von  Copernicus,  war  von 
Weltsystemen  nicht  die  Rede;  es  war,  wenn  man  es  oberflächlich 
kennen  lernte,  ein  rein  geometrisches  Buch.  Hatten  die  frommen 
Väter  in  Rom  eine  Ahnung  von  der  gewaltigsten  aller  Revolutionen, 
die  aus  dieser  mathematischen  Methode  hervorwachsen  sollte?  Oder 
w^ar  es  nichts  weiter  als  der  kleinlichste  Haß,  der  sie  beseelte,  als  sie, 
mit  der  Erniedrigung  des  verm.eintlichen  Feindes  nicht  zufrieden, 
alles,  was  von  ihm  stammte,  mit  dem  Bannspruch  trafen,  die  un- 
geborenen Schöpfungen  seines  Geistes  nicht  ausgenommen? 

Dahin  gingen  in  der  Tat  die  Beschlüsse  der  römischen  Inquisition. 
Als  Mcanzio  in  Venedig  beim  Vertreter  der  Inquisition  Erkundigungen 
einzog,  ob  einer  Herausgabe  der  neuen  Schrift  kein  Hindernis  ent- 
gegenstehe, wurde  ihm  ein  Schriftstück  mitgeteilt,  das  an  alle  In- 


—     187     — 

quisitoren  sämtlicher  katholischen  Länder  versandt  war:  es  enthielt 
das  allerstrengste  Verbot  gegen  alles,  was  von  Galilei  bereits  gedruckt 
sei  oder  noch  etwa  gedruckt  werden  sollte.  Der  Ingrimm  in  Micanzios 
Briefen,  als  er  von  dieser  „Barbarei"  erfuhr,  ist  ein  wahres  Labsal 
neben  der  allgemeinen  Demut  der  übrigen  Beteiligten,  die  sich  v\ader- 
standslos  einer  unwiderstehlichen  Gewalt  gegenübersehen.  „Ich 
weiß,  was  gegen  die  Tyrannei  zu  tun  ist",  schreibt  er  an  Galilei; 
aber  die  Kücksicht  auf  den  gefangenen  Freund  lähmt  seine  Ent- 
schlüsse; nur  das  eine  steht  ihm  fest:  der  Wille  der  Barbaren  muß 
vereitelt  werden.  ,, Solche  Werke  untergehen  lassen,"  ruft  er  aus, 
„das  tue  ich  nicht,  und  wenn  die  ganze  Hölle  wider  mich  wäre." 

Durch  Vermittlung  Micanzios  wurde  nach  vielen  vergeblichen 
Bemühungen  und  Verhandlungen  wiederum  der  berühmte  hollän- 
dische Buchhändler  Ludwig  Elzevir  für  das  Unternehmen  gewonnen. 
Zeitlebens  hatte  Galilei  im  frommen  Eifer,  als  eine  Gefahr  für  die 
Kii'che,  zu  verhüten  gesucht,  daß  die  Wissenschaft  gezwungen  werde, 
in  den  Ländern  des  neuen  Glaubens  ihre  Zuflucht  zu  suchen.  Jetzt 
gab  es  für  ihn  selbst  keinen  Drucker  mehr,  als  in  Leyden  und  in 
Amsterdam. 

Als  im  Jahre  1638  das  neue  Werk  in  Holland  erschien,  war 
Galilei  in  seinem  74.  Jahr;  noch  war  sein  Geist  in  ruheloser  Tätigkeit 
mit  neuen  Werken  beschäftigt;  seine  Briefe  aus  jenen  Tagen  machen 
den  Eindruck,  als  suche  er  den  Überfluß  immer  neuer,  ihm  zu- 
strömender Ideen  und  Entwürfe  von  sich  abzuwehren;  die  Fülle  der 
Gedanken,  sonst  die  Quelle  seiner  höchsten  Genüsse,  scheint  ihm  zur 
Qual  zu  werden  in  einem  Zustand  mehr  und  mehr  verfallender  Körper- 
kräfte. Nach  längerem  schmerzhaften  Augenleiden  hatte  er  im  Laufe 
des  Jahres  1637  erst  rechts  das  Augenlicht  verloren  und  war  dann 
im  selben  Jahre  vollständig  erblindet.  Auch  in  diesem  hilfsbedürftigen 
Zustand  blieb  er  in  der  einsamen  Villa  in  Arcetri;  nur  sein  Sohn 
Vincenzo  und  sein  Schüler  Viviani  harrten,  nun  doppelt  unentbehr- 
lich, an  seiner  Seite  aus. 

Zu  wiederholten  Malen  hatte  Galilei  in  früheren  Jahren  sich  mit 
Gesuchen  an  die  Gnade  des  Papstes  gewandt,  um  für  die  Imrze  Zeit, 
die  ihm  zu  leben  blieb,  den  entlegenen  Ort  mit  seiner  Heimat  Florenz 
vertauschen  zu  dürfen;  aber  mit  rohen  Worten  hatte  man  Galilei 
damals  die  Wiederholung  derartiger  Gesuche  untersagt  und  ihm 
andernfalls  die  Einschließung  in  einem  römischen  Kerker  angedroht. 


—     188     — 

So  schwieg  Galilei,  aber  seine  Freunde,  seine  fürstlichen  Gönner, 
auswärtige  Diplomaten  erneuten  trotz  aller  fehlgeschlagenen  Be- 
mühungen von  Jahr  zu  Jahr  ihre  Versuche,  für  den  Gefangenen  von 
seinem  persönlichen  Feind  die  Freiheit  zu  erbitten. 

Erst  im  Jahre  1638  ließ  man  sich  in  Rom  herbei,  den  Florentinier 
Inquisitor  mit  näheren  Erkundigungen  zu  beauftragen;  insbesondere 
wurde  von  ihm  ein  Gutachten  darüber  verlangt,  ob,  wenn  man 
Galilei  einen  zeitweiligen  Aufenthalt  in  Florenz  gewähre,  nicht  zu 
befürchten  sei,  daß  er  in  Zusammenkünften  und  Unterredungen 
^^-iederum  seine  verurteilte  Lehi'e  von  der  Erdbewegung  zu  verbreiten 
suchen  werde.  Der  Inquisitor  begab  sich  in  Gesellschaft  eines  Arztes 
nach  Arcetri.  Hier  fanden  sie  Galilei  unheilbar  erblindet,  von  den 
heftigsten  Schmerzen  und  namentlich  einer  so  anhaltenden  Schlaf- 
losigkeit gepeinigt,  daß  er  nach  Aussage  seiner  Hausgenossen  von 
24  Stunden  nicht  eine  schlief,  im  ganzen  in  einem  so  elenden  Zustand, 
daß  er  mehr  das  Aussehen  eines  Leichnams  hatte  als  eines  Lebenden. 
„Die  ViUa",  so  fügt  der  Inquisitor  in  seinem  Schreiben  hinzu,  „ist 
weit  von  der  Stadt  entfernt  und  von  allen  bewohnten  Gegenden  so 
abgelegen,  daß  er  nur  selten,  mit  Schwierigkeiten  und  vielen  Kosten 
sich  den  Besuch  eines  Arztes  verschaffen  kann."  Der  Inquisitor  meint, 
daß,  wenn  Seine  Heiligkeit  von  ihrer  unendlichen  Huld  gegen  ihn 
Gebrauch  machen  und  ihm  den  Aufenthalt  in  Florenz  gestatten 
woUe,  bei  solchem  Zustande  von  seinen  Unterredungen  nichts  zu 
befürchten  sei;  für  alle  Fälle  werde  eine  gute  Ermahnung  genügen, 
ihn  in  den  nötigen  Schranken  zu  halten. 

Auf  dieses  Gutachten  hin  wurde  Galilei  für  kurze  Zeit  der  Aufent- 
halt in  Florenz  gestattet;  aber  es  wurde  der  Befehl  hinzugefügt, 
seine  Wohnung  nicht  zu  verlassen  und  bei  Strafe  der  Exkommuni- 
kation und  lebenslänglicher  Einkerkerung  mit  niemand,  wer  es 
auch  sei,  über  die  verurteilte  Lehre  von  der  Erdbewegung 
zu  reden. 

Läßt  sich  ein  vollständigeres  Bekenntnis  der  Ohnmacht,  läßt 
sich  eine  großartigere  Huldigung  der  Gewalt  dem  Geist  und  der 
Wissenschaft  gegenüber  denken,  als  dieser  Befehl  gegen  den  74  jährigen, 
blinden,  gefangenen  INIann,  der  mehr  ein  Leichnam  als  ein  Lebender 
nach  Florenz  getragen  wd,  um  seinen  Arzt  aufzusuchen,  als  dieses 
letzte  Verbot  bei  allen  Strafen  des  Diesseits  und  Jenseits,  nicht  von 
der  Bewegung  der  Erde  zu  reden?    So  war  das  Leben  Galileis  bis  zu 


—     189     — 

seinem  letzten  Atemzuge  ausgefüllt  von  dem  großen  Kampfe,  zu  dem 
ihn  in  jungen  Jahren  der  unsterbliche  Meister  begeistert  hatte.  Das 
Auge,  das  die  weiten  Räume  des  Himmels  durchmessen,  an  Sonne 
und  Mond,  an  Venus  und  Mars,  an  Jupiter  und  Saturn  die  ent- 
scheidenden Beweise  für  den  Copernicus  verfolgt  hatte  —  es  war 
erloschen;  das  hinreißende,  beredte  Wort,  das  alle  Hörer  bezwang, 
alle  Zweifelnden  überzeugte  und  allen  Widersachern  wie  Vernichtung 
klang  —  es  drang  nicht  mehr  über  die  engen  Räume  hinaus,  die  der 
Wille  des  mächtigen  Feindes  in  Rom  ihm  zur  Schranke  gesetzt  hatte; 
und  dennoch  war  noch  jetzt  der  Gedanke,  der  das  müde  Gehirn 
durchzuckte,  der  mögliche  Gedanke  und  die  Möglichkeit  des  Worts 
der  Schrecken  derer,  die  beschlossen  hatten,  daß  die  Erde  steht  und 
die  Sonne  sich  bewegt! 

So  blieb  ihm  auch  bis  zum  Tode  die  Freiheit  versagt;  nur  wenige 
Wochen  blieb  er  in  Florenz,  um  dann  für  immer  in  die  Villa  von 
Ai'cetri  zurückzukehren.  Von  seinem  Gefängnis  reden  noch  seine 
letzten  Briefe;  als  Gefangener  der  Inquisition  ist  er  in  Arcetri  am 
8.  Januar  1642  gestorben. 


Neuntes  Kapitel. 
Nach  Galileis  Tode. 


Dem  heiligen  Tribunal,  als  dessen  Gefangener  Galilei  gestorben 
war,  galt  das  Grab  nicht  als  die  Schranke  seiner  Macht;  es  instruierte 
seinen  Prozeß  gegen  den  Toten,  wenn  nach  dem  Tode  die  Klage 
erhoben  wurde;  es  unterbrach  sich  nicht  im  heüigen  Werk,  wenn  der 
Tod  den  Angeklagten  überraschte,  ehe  das  Urteil  gesprochen  war; 
an  der  Leiche,  am  Namen  und  Gedächtnis  vollstreckte  die  Inquisition 
den  Spruch,  den  der  Lebende  durch  ungesühnten  Frevel  verwirkt 
hatte;  aber  sie  hielt  auch  die  rächende  Hand  über  dem  Grabe  des 
Mannes,  der  in  Demut  ihre  Bußen  auf  sich  genommen  hatte. 

Galilei  hatte  in  seinem  Testament  bestimmt,  daß  seine  Leiche 
in  dem  Begräbnis  seiner  Vorfahren  in  der  Kirche  Sa.  Croce  beigesetzt 
werde.  Gegen  die  Ausführung  dieser  Bestimmung  wurden  unmittel- 
bar nach  seinem  Tode  von  theologischer  Seite  Bedenken  erhoben. 
Man  bestritt  ihm  als  verurteiltem  ,,HaeretLker"  das  Recht  zu 
testamentarischer  Verfügung;  man  äußerte  Zweifel  gegen  seinen 
Anspruch  auf  ein  kirchhches  Begräbnis.  Von  Staats  wegen  veranlaßte 
Gutachten  wiesen  die  Berechtigung  dieser  Bedenken  zurück,  doch 
wurde,  wie  es  scheint,  um  höherer  Entscheidung  nicht  vorzugreifen, 
der  Sarg  zunächst  zu  vorläufiger  Bewahrung  in  eine  Seitenkapelle 
von  Sa.  Croce  gebracht. 

Unter  Galüeis  Verehrern  war  inzwischen  der  Gedanke,  ihm  ein 
würdiges  Denkmal  zu  setzen,  zur  Sprache  gekommen;  kein  Ort 
schien  dafür  geeigneter  als  in  derselben  Hauptkirche  die  Stätte  un- 
mittelbar neben  derjenigen,  wo  seit  80  Jahren  die  Gebeine  des  JVIichel- 
angelü  Buonarotti  ruhten;  in  wenigen  Tagen  war  durch  Beiträge 
der  angesehensten  Florentiner  eine  erhebhche  Summe  für  die  Er- 
richtung eines  marmornen  Grabdenkmals  an  dieser  Stelle  gesichert. 


—     191     — 

Mit  der  j^achricht  von  Galileis  Tode  wurden  auch  diese  Ab- 
sichten und  Vorbereitungen  durch  den  Florentiner  Inquisitor  in  Rom 
zur  Kenntnis  gebracht.^  Gleichzeitig  meldete  der  Nuntius:  es  heiße, 
daß  der  Großherzog  Galilei  ein  prächtiges  Grabdenkmal  neben  dem 
von  Michelangelo  Buonarotti  errichten  lassen  wolle,  und  daß  er  be- 
absichtige, der  Academia  della  Crusca  den  Gedanken  für  die  Auf- 
schrift zu  geben.  2 

Papst  Urban  befahl,  dem  Inquisitor  zu  antworten:  er  möge  in 
geschickter  Weise  dem  Großherzog  zu  Gehör  bringen,  daß  es  un- 
ziemlich sei,  einem  Manne  ein  Denkmal  zu  errichten,  dem  im  Tribunal 
des  heiligen  Offiziums  Bußen  auferlegt  seien,  und  der  gestorben, 
während  diese  Bußen  noch  in  Kraft  waren;  es  möchten  andernfalls 
die  Guten  ein  Äi-gernis  nehmen  und  auf  die  Frömmigkeit  des  Groß- 
herzogs ein  Tadel  fallen.  Dränge  er  damit  nicht  durch,  so  möchte 
er  darauf  achten,  daß  zum  mindesten  in  der  Grabschrift  keine  Worte 
Platz  fänden,  die  den  Ruf  des  heiligen  Tribunals  beeinträchtigen 
könnten,  und  in  demselben  Sinne  sollte  er  die  Rede  beim  Begräbnis 
überwachen.^ 

Zwei  Tage  darauf  hatte  der  großherzogliche  Gesandte  eine 
Audienz  beim  Papste.  Urban  stand  damals  im  74.  Lebensjahr,  Nicco- 
lini  schildert  ihn  als  körperlich  verfallen,  das  Haupt  so  eingesunken, 
daß  es  mit  den  Schultern  gleich  zu  liegen  schien;  aber  seine  Worte 
atmeten  den  unversöhnlichen  GroU  gegen  den  Toten.  Wie  zufällig 
lenkte  er  die  Rede  auf  Galilei;  im  Vertrauen  und  nur  gesprächsweise, 
wie  er  sagte,  nicht  damit  er  darüber  nach  Florenz  berichte,  ließ  er 

^  Der  Inhalt  des  Briefes  ergibt  sich  aus  dem  Wortlaut  der  Antwort, 
wie  sie  in  der  Sitzung  der  Generalkongregation  vom  23.  Januar  1642  beschlossen 
wurde.  Vergl.  S.  Gherardi,  II  processo  Galileo,  Firenze  1870  p.  36  (Ed.  Naz. 
XIX  p.  390).  Der  erteilten  Weisung  gemäß  schreibt  am  25.  Kardinal  Bar- 
berini  an  den  Florentiner  Inquisitor.  Der  Brief  ist  zuerst  mitgeteilt  von  Arturo 
Wolynski,  Nuovi  Documenti  inediti  del  processo  di  Galileo  Galüei,  Firenze 
1878  p.  29,  aus  diesem  Buche  abgedruckt  in  Edizione  Nazionale  XVIII  p.  379 
und  neuerdings  nach  der  im  Archiv  der  Inquisition  zu  Florenz  erhaltenen 
Kopie  bei  Cioni  a.  a.  0.  S.  61. 

-  Aus  dem  Vatikanischen  Archiv  mitgeteilt  in  A.  Favaro,  Nuovi  Studi 
Galileiani.     Venezia  1891  p.  378  und  in  Ed.  Naz.  XVIII  p.  378. 

^  Vergl.  Gherardi,  II  processo  Galileo  riveduto  sopra  documenti  di 
nuova  fönte.  Firenze  1870  p.  36  (Ed.  Naz.  XIX  p.  290).  Der  am  23.  Januar 
erteilten  Weisung  gemäß  schreibt  am  25.  Kardinal  Barberini  nach  Florenz. 
Vergl.  Ed.  Naz.  XVHI  p.  379  und  Cioni  a.  a.  O.  S.  61. 


—     192     - 

den  Gesandten  wissen,  was  über  die  Absichten  des  Großherzogs 
verlautete  und  wie  er  darüber  denke.  Noch  einmal  brach  er  in  heftige 
Worte  aus  gegen  die  falsche  und  irrige  Meinung  und  gegen  den  Mann, 
der  sie  gelehrt,  nachdem  sie  verdanmit  worden,  auch  in  Florenz  sie 
vielen  anderen  beigebracht  und  damit  der  gesamten  Christenheit  ein 
Ärgernis  gegeben  habe.  „Und  als  er  darauf  kam",  so  berichtet  Nicco- 
lini,  „von  den  einzelnen  Behauptungen  zu  reden  und  von  den  Ant- 
worten, die  er  selbst  Galilei  gegeben  und  wie  dieser  bekannt  habe, 
daß  er  eines  Besseren  belehrt  sei,  ging  viele  Zeit  damit  hin." 

Xiccolini  konnte  keine  Neigung  empfinden,  um  des  toten  Mannes 
viWlen  das  gute  Verhältnis  zu  gefährden,  das  man  auf  Kosten  von 
Ehre  und  Würde  erhalten  hatte,  solange  Galilei  lebte.  Er  riet,  wenn 
man  wirklich  beabsichtigt  habe,  was  dem  Papst  zu  Ohren  gekommen, 
die  Ausführung  auf  eine  andere  Zeit  zu  vertagen,  um  sich  nicht  un- 
angenehmen Folgen  auszusetzen;  habe  doch  Seine  Heiligkeit  nach 
persönlicher  Entschließung  und  ohne  darüber  mit  dem  Herzog  zu 
reden,  den  Leichnam  der  Gräfin  Mathilde  aus  der  Karthause  von 
Mantua  entführen  und  nach  St.  Peter  in  Rom  bringen  lassen,  unter 
dem  Vorwande,  daß  die  Kirchen  sämtlich  des  Papstes  seien  und  daß, 
die  darin  ruhen,  nur  die  christliche  Behörde  angehen.  ^ 

Es  bedurfte  kaum  so  nachdi-ücklicher  Vorstellungen.  Die  An- 
deutung, daß  man  sich  Schwierigkeiten  aussetzen  dürfte,  die  Aus- 
sicht auf  „lange  Verhandlungen,  die  zu  nichts  Gutem  führen  könnten", 
genügten,  um  in  Florenz  den  persönlichen  Sympathien  gegenüber 
den  Ausschlag  zu  geben.  Von  irgendwelchem  Widerstände,  wie  ihn 
selbst  der  Papst  in  der  W^eisung  an  den  Inquisitor  als  möglich  voraus- 
gesehen hatte,  hat  die  Antwort  des  Staatssekretärs  Gondi  an  den 
Gesandten  nichts  zu  melden.  „Von  dem  Grabdenkmal  für  den  ver- 
storbenen Mathematiker  Galilei",  schreibt  er,  „ist  allerdings  auch 
hier  die  Rede  gewesen,  aber  nicht  in  einer  Weise,  als  ob  eine  dahin- 
gehende Entschließung  des  Großherzogs  auch  nur  naheliege;  auf  jeden 
Fall  werden  Eure  Vorstellungen  über  den  Gegenstand,  den  der  Papst 
mit  so  großem  Zartgefühl  berührt  hat,  uns  zu  gebührender  Erwägung 
die  Veranlassung  geben.  "^ 


1  Ed.  Naz.  XVIII  p.  378. 

2  Brief  des  Staatssekretärs  Gondi  vom  29.  Jan.  1642  (Ed.  Naz.  XVIII 
p.  380).  Niccolinis  Bericht  über  seine  weitere  Unterredung  mit  dem  Papst 
vom  8.  Febr.  1642  in  Ed.  Naz.  XVIII  p.  381. 


—     193     — 

Infolge  dieser  gebührenden  Erwägung  unterblieb  nicht  allein  die 
Errichtun<(  des  Denkmals;  soweit  wir  unterrichtet  sind,  ist  nichts 
von  aliedt'Mi,  was  zur  Ehre  des  Toten  zu  geschehen  pflegt,  in  jenen 
Tagen  für  Galilei  geschehen;  von  einer  Überführung  des  Sarges  in 
die  Faniiliengruft  war  nicht  mehr  die  Rede;  der  abgelegene  Glocken- 
turm der  Seitenkapelle  von  Sa.  Croce,  in  den  man  ihn  zu  vorläufiger 
Bestattung  gebracht  hatte,  bewahrte  fast  ein  volles  Jahrhundert 
hindurch  die  Überreste  des  großen  Mannes.  Und  wie  an  dieser  ab- 
gelegenen Stätte  viele  Jahre  hindurch  kaum  ein  Zeichen  des  Danks 
und  der  Verehrung  sein  Grab  geschmückt  hat,  so  blieb  auch  sein 
Gedächtnis  noch  durch  Generationen  unter  dem  Banne  des  römischen 
Richterspruches. 

Es  ist  unerläßlich,  um  Galileis  willen,  um  auch  heute  nur  ihm  selbst 
gerecht  zu  werden,  die  Tatsache  klarzustellen,  daß  an  den  verhängnis- 
vollen Wirkungen  dieses  Richterspruchs  in  höherem  Maße  fast  als 
der  Eifer  und  die  Wachsamkeit  der  Inquisition  und  ihrer  all- 
verbreiteten Organe  die  unbegrenzte  Gefügigkeit  derjenigen  beteiligt 
ist,  die  berufen  gewesen  wären,  der  despotischen  Gewalt  gegenüber 
das  Recht  und  die  Ehre  der  Wissenschaft  zu  vertreten.  Unterliegt 
es  keinem  Zweifel,  daß  eine  so  völlige  Ertötung  mannhafter  Über- 
zeugungstreue, wie  sie  die  Geschichte  der  italienischen  Wissenschaft 
in  dem  Jahrhundert  nach  Galileis  Tode  bekundet,  als  die  Frucht 
eben  jener  entsittlichenden  Gewaltherrschaft  betrachtet  werden  muß, 
der  nach  der  Ausrottung  aller  haeretischen  Bestrebungen  im  16.  Jahr- 
hundert Italien  unterlag,  so  bleibt  darum  nicht  minder  das  Erstaunen 
darüber  gerechtfertigt,  daß  der  Triumph  der  brutalen  Gewalt  ein  so 
vollständiger  gewesen  ist,  daß  es  gelingen  konnte,  den  natürlichen 
Wahrheitstrieb,  der  Galilei  in  die  Hände  der  Inquisition  geführt  hat, 
in  der  Denkweise  auch  der  besten  seiner  Nachfolger  so  weit  zu  be- 
täuben, daß  nach  jenem  ersten  ein  zweiter  Inquisitionsprozeß  gegen 
einen  Anhänger  der  copernicanischen  Lehre  nicht  mehr  nötig  ge- 
worden ist. 

Mit  dem  Verzicht  aber,  den  sich  der  großen  wissenschaftlichen 
Wahrheit  gegenüber  die  namhaftesten  Gelehrten  Italiens  auferlegten, 
hing  die  Vernachlässigung  zusammen,  die  in  den  nächsten  Generationen 
nach  seinem  Tode  Galileis  Andenken  erfuhr.  Nicht,  daß  es  an  den 
Gesinnungen  gefehlt  hätte,  an  Liebe  und  Verehrung  für  den  Meister, 
an  dem  Verlangen,  sie  vor  den  Augen  der  Welt  zu  betätigen  und  an 

Woblwill,  GalUei.    II.  13 


—     194     — 

dem  heißen  Grimm  wider  die  feindlichen  Mächte,  die  solcher  Be- 
tätigung zu  wehren  schienen.  Aber  Zorn  und  Verlangen  waren  ohn- 
mächtig, weil  es  an  der  unbeugsamen  Ki-aft  des  Willens  fehlte,  der 
widerstehenden  Mächten  zum  Trotz  aus  Empfindungen  Taten  reifen 
läßt. 

Die  äußere  Veranlassung,  um  Galileis  willen  und  zugleich  für  die 
Befreiung  der  Wissenschaft  von  den  Fesseln  der  Dekrete  in  die 
Schranken  zu  treten,  bot  sich  bald  genug. 

Im  Jahre  1651  erschien  in  Bologna  das  „Abnagestum  novum" 
des  Jesuiten  Johann  Baptista  Riccioli.    Mit  dem  Namen  Almagest 
\Yurde  bekanntUch  seit  der  arabischen  Periode  der  Wissenschaft  das 
große  Werk  bezeichnet,  in  dem  der  Alexandriner  Claudius  Ptolemäus 
das  astronomische  Wissen  des  Altertums,  mit  den  eigenen  Forschungen 
zusammengefaßt,  der  Nachwelt  überliefert  hat.    In  ähnhcher  Weise 
woUte  Riccioli  im  ,,Almagestum  novum"  den  Stand  der  Erkenntnis 
und  der  Forschung  in  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  für  das  eigene 
Zeitalter  zur  Darstellung  bringen.      Dieser  Absicht  entspricht  die 
außerordenthche  Reichhaltigkeit  des  Werks  in  seinen  Ausführungen 
über  alle  einzelnen  Zweige  der  astronomischen  Forschung,  die  Voll- 
ständigkeit in  der  Zusanmienstellung  der  bekannten  Beobachtungen, 
Messungen  und  Berechnungen;  doch  fehlt  dem  „neuen  Almagest", 
was  den  alten  vorzugsweise  charakterisiert,  die  Einheit  des  Systems 
in  der  Darstellung  der  Himmelserscheinungen;  seine  Vollständigkeit 
erstreckt  sich  auf  die  Wiedergabe  der  streitenden  Theorien  in  aller 
Mannigfaltigkeit  der  Abstufungen,  nicht  etwa  nur  im  allgemeinen 
Überbhck,  sondern  in  gesonderter  Anwendung  auf  jede  Gattung  von 
Himmelskörpern,  ja  bei  Behandlung  der  planetarisch  bewegten  auf 
jeden  einzelnen  Planeten  und  Nebenplaneten;  für  die  Bew^egungen 
eines  jeden  derselben  finden  sich  neben  den  alten  und  neuen  Deutungen, 
bei  denen  die  Erde  als  ruhend  im  Mittelpunkt  der  Welt  gedacht  wd, 
in  ausführlicher  Ableitung  die  Theorien  des  Copernicus  und  seiner 
Nachfolger;  nur  als  eine  Hypothese  neben  den  übrigen,  lernt  der 
Leser  die  eigene  des  Verfassers  kennen,  die  von  der  des  Tycho  Brahe 
nur  bei  den  entfernteren  Planeten  abweicht.    Riccioli  läßt  in  diesen 
Abschnitten  gewissermaßen  den  Parteien  selbst  das  Wort.     Erst  in 
der  folgenden  Hauptabteilung  des  Werks,  in  der  umfassenden  Ab- 
handlung „über  das  System  der  bewegten  Erde"  tritt  in  voller  Klar- 
heit hervor,  was  neben  und  über  der  wdssenschafthchen  Neigung  seina 


—     195     - 

Forschung  leitet:  es  ist,  wie  er  es  unumwunden  ausspricht,  das  Ver- 
langen, in  seiner  Darstelhmg  zugleich  eine  Apologie  für  die  Ent- 
scheidungen der  Heil.  Kongregation  der  Kardinäle  zu  geben.  Auf 
diesen  Teil  des  „Almagestum  novum"  ist  hier  etwas  näher  einzugehen, 
weil  die  Kritik  der  copernicanischeii  Lehre,  die  er  enthält,  auf  lange 
Zeit  hinaus  für  die  Wißbegierigen  Italiens  die  Hauptquelle,  die  einzige 
frei  zugängliche  der  Belehrung  über  das  wahre  Weltsystem  geblieben 
ist,  weil  dieselbe  ge^\'issermaßen  als  offizielle  Antwort  auf  Galileis 
„Dialoge"  betrachtet  werden  muß,  vor  allem  aber,  weil  in  dem  Ver- 
halten diesem  Buche  gegenüber  sich  am  schärfsten  Geist  und 
Charakter  der  italienischen  jN'achfolger  Galileis  im  17.  Jahrhundert 
kennzeichnen. 

Riccioli  hat  sich  seine  Aufgabe  nicht  leicht  gemacht;  vor  allem 
ist  er  bemüht,  der  copernicauischen  Lehre  gerecht  zu  werden.  Er 
spricht  es  offen  aus,  daß  das  Meiste,  was  man  bis  dahin  gegen  dieselbe 
vorgebracht,  aus  Mißverständnis  und  unzureichender  Kenntnis  ihres 
tiefen  Gedankengangs  hervorgegangen  sei;  von  diesem  Tadel  nimmt 
er  weder  Tycho  Brahe,  noch  seine  namhaften  Ordensgenossen  Clavius 
und  Scheiner  aus^;  er  stellt  dem  Anscheine  nach  vollständig  zusammen, 
was  zugunsten,  was  zur  Widerlegung  der  Erdbewegung  in  alten,  wie 
in  neuen  Zeiten  geltend  gemacht  worden  ist,  und  findet  auf  selten 
der  Copernicaner  nicht  minder  wie  bei  ihren  Gegnern  vielfach  zu- 
treffende Argumente  und  Entgegnungen.-  Auch  darin  weicht  er  von 
seinen  Vorgängern  ab,  daß  er  in  vielen  Fällen,  wo  diese  den  Aristoteles 
gegen  die  teuerer  ausspielen,  sich  grundsätzlich  auf  den  Boden  der 


^  Diese  Beurteilung  seiner  Vorgänger  könnte  denjenigen  seiner  Ge- 
sinnungsgenossen in  neueren  Zeiten  zur  Belehrung  dienen,  die  den  Kepler 
und  Galilei  gegenüber  ohne  Wahl  und  Prüfung  zahlreiche  Namen  als  Ver- 
treter der  gegnerischen  Ansicht  zusammenstellen,  um  zu  beweisen,  daß  unter 
den  ,, Sachverständigen"  eine  Mehrheit  für  Copernicus  nicht  vorhanden  war. 

^  Sehr  oberflächlich  wird  Ricciolis  Kritik  der  copernicanischen  Lehre 
in  den  meisten  neueren  Geschichtsdarstellungen  durch  die  Angabe  gekenn- 
zeichnet, daß  er  49  Gründe  für  und  77  wider  die  Bewegung  der  Erde  anführe ; 
dabei  wird  teils  angedeutet,  teils  sogar  ausgesprochen,  daß  es  dies  Übergewicht 
der  Zahl  der  widersprechenden  Gründe  sei,  das  ihn  zur  Entscheidung  gegen 
Copenücus  und  Galilei  bestimme;  ein  Blick  auf  die  kurze  abschließende 
Übersicht  auf  Fol.  478  des  2.  Bandes  genügt,  um  zu  erkennen,  daß  Riccioli 
von  den  77  Gegengründen  nur  eine  kleine  Zahl  als  unwidersprechlich  betrachtet 
wissen  will. 

13* 


—     196     — 

gegnerischen  Anschauungsweise  stellt.  Aber  all  dieses  Entgegen- 
kommen, alle  Versöhnlichkeit  in  der  Form  erscheinen  im  weiteren 
Zusammenhang  seiner  Erörterungen  als  nicht  viel  mehr  als  Aus- 
stattung und  Hilfsmittel  des  Angriffs  und  der  Herausforderung.  Die 
Überlegenheit  der  von  der  Kirche  gebilligten  Wissenschaft,  der  Triumph 
der  heiligen  Kongregationen  ist  um  so  größer,  je  achtungswerter  in 
Kicciolis  Auffassung  die  bekämpfte  Lehre  sich  darstellt,  je  bereit- 
williger er  dem  Anscheine  nach  dem  Gegner  die  Wahl  des  Stand- 
punkts und  der  Waffen  zugestanden  hat;  denn  trotz  aller  Zugeständ- 
nisse darf  er  zum  Schlüsse  als  Ergebnis  umfassendster  Untersuchungen 
zuversichtlich  hinstellen,  daß  bei  ausschließlicher  Berücksichtigung 
von  Vernunftgründen  und  unter  Beiseitelassung  aller  Autorität  als 
absolut  wahr  diejenige  Hypothese  angenommen  werden  muß,  die  die 
Unbewegüchkeit  oder  Kühe  der  Erde  voraussetzt-  und  als  falsch  und 
physischen,  ja  selbst  auch  physikomathematischen  Beweisen  zu- 
widerlaufend diejenige,  welche  der  Erde  entweder  nur  eine  tägliche, 
oder  eine  tägliche  und  eine  jährliche  Bewegung  zuschreibt!  Kepler 
gegenüber,  der  die  Meinung  ausgesprochen  hatte,  daß  von  denjenigen, 
die  der  copernicanischen  Lehre  beizustimmen  Bedenken  tragen,  die 
meisten  dazu  durch  religiöse  Gesinnung  bewogen  werden,  hielt 
Riccioli  sich  für  berechtigt  auszurufen:  „billig  ist  es,  daß  in  Zukunft 
die  Anhänger  der  copernicanischen  Hypothese,  wenn  es  deren  geben 
sollte,  den  Theologen  und  Dienern  der  Kirche  ausreichende  Kenntnis 
zugestehen,  um  ein  Urteil  über  diese  Hypothesen  abzugeben,  und 
anerkennen,  daß  die  copernicanische  Hypothese  nicht  aus  zu  großer 
oder  bloßer  Ehrfurcht  gegen  die  kirchlichen  Dekrete  oder  die  Heiligen 
Schriften  verworfen  werde,  sondern  auch  kraft  tieferen  EinbHcks  in 
beide  Hypothesen  und  aus  Gründen,  die  daraus  in  umsichtigster 
Weise  abgeleitet  worden  sind!" 

Mehr  noch  als  in  dieser  siegesgewissen  Rede  lag  eine  Aufforderung 
zum  Widerspruch  für  die  Anhänger  des  Copernicus  und  vor  aUem  für 
die  Freunde  und  Verehrer  Galileis  in  der  Methode,  den  Hilfsmitteln 
und  hundert  Einzelheiten  der  Beweisführung  Ricciolis.  Es  ist  bei 
aller  erschöpfenden  Gelehrsamkeit  das  Verfahren  nicht  des  hin- 
gebenden oder  auch  nur  des  in  einseitiger  Auffassung  befangenen 
Forschers,  sondern  das  des  berechnenden  Sach Verwalters,  das  uns 
in  dieser  Beweisführung  entgegentritt.  Nur  einzelnes  kann  zum  Beleg 
an  dieser  Stelle  hervorgehoben  werden. 


—     197     — 

Es  ist  zunächst  ein  scheinbar  völlig  unverdächtiges  Mittel,  dessen 
sich  Riccioli  bedient,  um  ausgehend  von  den  Gedanken  und  Be- 
rechnungen, die  in  Kepler  und  Galilei  den  unerschütterlichen  Glauben 
an  die  Wahrheit  der  copernicanischen  Lehre  begründet  hatten,  zur 
entgegengesetzten  Ansicht  zu  gelangen,  —  es  ist  die  Prüfung  der 
Beweisgründe  auf  ihre  formell  logische  Berechtigung.  Der  Gewohn- 
heit der  alten  Schule  gemäß  \\'urde  zu  diesem  Zweck  die  Behauptung, 
die  als  wissenschaftliche  AVahrheit  gelten  wollte,  in  die  Form  eines 
regelrechten  dreigliedrigen  Schlusses  gebracht;  sie  galt  als  erwiesen, 
wenn  sowohl  die  beiden  Vordersätze  „terminus  major"  und  „terminus 
minor",  wie  die  Ableitung  des  Schlusses  aus  denselben  sich  als 
einwurfsfrei  bewährten.  Nach  dieser  Vorschrift  hat  Riccioli  alles, 
was  irgend  einmal  für  oder  wider  die  Bewegung  der  Erde  gesagt  war, 
mit  Einschluß  der  eigenen  Behauptungen,  sorgsam  formuliert  und 
dann  Prämissen  und  Konklusion  der  Prüfung  unterworfen.  Xicht 
weniger  als  126  Behauptungen,  77  gegen  und  49  für  die  Bewegung  der 
Erde  hat  er  in  solcher  Weise  zergliedert. 

Das  erste  und  wichtigste  Ergebnis  dieser  umfassenden  Unter- 
suchung war  die  Erkenntnis,  daß  die  astronomische  Betrachtung 
weder  für  noch  gegen  die  Bewegung  der  Erde  entscheidende  Beweis- 
gründe gewähren  könne.  Überzeugend  war  für  die  Copernicaner  in 
erster  Linie  cüe  außerordentliche  Einfachheit  und  Symmetrie  der 
Anordnung  und  der  Bewegungen  der  Himmelskörper,  die  sich  bei 
Voraussetzung  der  zwiefachen  Bewegung  der  Erde  mit  Notwendigkeit 
ergab.  Das  mochte  genügen,  um  den  Glauben  an  die  Wahrheit  dieser 
Voraussetzung  zu  begründen;  für  die  Erkenntnis,  die  auf  gesicherten 
Schlüssen  beruht,  konnte  die  Folgerung  nur  dann  als  berechtigt 
erscheinen,  wenn  zunächst  der  Vordersatz  er^^^esen  war,  der  ganz 
allgemein  behauptet:  Einfachheit  und  Symmetrie  der  Anordnung, 
die  aus  der  Annahme  einer  Hypothese  sich  ergeben,  sind  untrügliche 
Beweise  für  die  Wahrheit  dieser  Hypothese.  Es  war  nicht  schwer, 
einen  solchen  Satz  zu  bestreiten  oder  doch  als  unerwiesen  erscheinen 
zu  lassen,  der  unzweifelhaft  der  beschränkten  menschlichen  Fassungs- 
kraft den  Maßstab  für  die  Gedanken  des  Weltordners  entnimmt. 
Nicht  besser  gesichert  erschien  das  Urteil,  das  aus  der  außerordent- 
lichen Verwicklung  des  Mechanismus  eines  Weltsystems,  zu  dem  die 
astronomische  Forschung  gelangt,  wenn  sie  die  Erde  im  Mittelpunkt 
des  Weltalls  ruhen  läßt,  den  Grund  entnimmt,  diese  Stellung  der 


—     198     — 

Erde  als  unannehmbar  zu  betrachten.  War  aber  dieses  zugestanden, 
so  durfte  die  Einfachheit  als  Vorzug  der  einen,  wie  die  Verwicklung 
als  Unzuträglichkeit  der  anderen  Lehre  als  nichts  beweisend  un- 
berücksichtigt bleiben,  wo  es  sich  um  die  Erörterung  über  wahr  und 
unwahr  handelte.  Die  Methode  der  Untersuchung  gewährte  somit 
das  Mittel,  für  die  Entscheidung  dieser  Hauptfrage  alles  das  als 
gleichgültig  und  wertlos  erscheinen  zu  lassen,  was  zur  Enthüllung 
des  großen  Gedankens  der  Erdbewegung  geführt  und  seine  Annahme 
den  Astronomen  unvermeidlich  gemacht  hatte. 

Riccioli  will  andererseits  nicht  leugnen,  daß  die  Deutungen  der 
copernicanischen  Lehre  den  Himmelserscheinungen  in  voUem  Maße 
Genüge  leisten,  und  wenn  auch  ihm  selbst  die  Übereinstimmung  der 
ptolemäischen  Astronomie  mit  der  Sinneswahrnehmung  als  ein 
wesenthcher  Vorzug  erscheint,  so  gesteht  er  doch  dem  Gegner  die 
Berechtigung  zu,  einer  Schlußfolgerung  zu  widersprechen,  die  aus 
dieser  Übereinstimmung  einen  Beweis  der  Wahrheit  entnehmen 
möchte.  Auch  für  eine  Widerlegung  der  copernicanischen  Lehre  und 
damit  für  eine  ausreichende  Lösung  der  Aufgabe,  die  buchstäbliche 
Wahrheit  der  HeiHgen  Schrift  durch  die  Wissenschaft  zu  rechtfertigen, 
war  demnach  die  eigentlich  astronomische  Betrachtung  nicht  zu 
verwerten. 

Wie  schon  im  Altertum  Ptolemäus  sich  begnügt  hatte,  die  An- 
nahme einer  Erdrotation  dadurch  zu  beseitigen,  daß  er  zeigte,  wie 
lächerhche  und  mdersinnige  Konsequenzen  sich  daraus  für  die 
Bewegungen  der  Vögel,  der  Wolken  und  anderer  Körper  an  der 
Oberfläche  der  Erde  ergeben  müßten,  so  glaubt  auch  Riccioli  die 
Entscheidung-  darüber,  ob  die  Erde  sich  bewegt,  der  Beobachtung 
fallender  und  geworfener  Körper  entnehmen  zu  können.  Der  Gedanke 
des  Ptolemäus,  die  astronomische  Lehre  an  ihren  physikalischen 
Konsequenzen  zu  prüfen,  trifft  nach  seiner  Ansicht  das  Richtige; 
nur  darauf  scheint  es  ihm  anzukomm.eu,  auf  Grund  einer  besseren 
Bewegungslehre  und  genauerer  Beobachtungen  diesen  Gedanken 
durchzuführen. 

Ähnliches  hatte  —  wie  wir  wissen  —  Galilei  zugunsten  der 
copernicanischen  Lehre  in  seiner  Theorie  der  Meeresflut  versucht. 
Riccioli  hat  diese  Achillesferse  der  Galileischen  Beweisführung  sich 
nicht  entgehen  lassen;  das  längste  Kapitel  seines  Buches  ist  der  Flut- 
lehre der  „Dialoge"  gewidmet;  wie  eine  Blase  oder  der  leichteste 


—     199     — 

Schaum  des  Meeres,  meint  er  triumphierend,  müsse  für  diejenigen, 
der  dies  Kapitel  liest,  Galileis  Lehre  zergehen.  Nicht  einer  besseren 
Bewegungslehre  oder  überhaupt  nur  besonderen  Scharfsinns  hat  er 
für  diese  Widerlegung  bedurft;  es  genügt  ihm,  durch  eine  vollständige 
Zusammenstellung  der  Beobachtungen  von  den  Tagen  der  Phönizier 
bis  in  die  allerneueste  Zeit  den  Beweis  zu  führen,  daß  die  Erscheinungen, 
wie  sie  an  den  Meeresküsten  aller  Erdteile  wahrgenommen  werden, 
wesentlich  andere  sind,  als  diejenigen,  die  Galileis  Theorie  verlangt. 
So  kann  er  dem  kühnen  Schlüsse  von  der  Tatsache  der  Fluten- 
erscheinungen auf  die  zwiefache  Bewegung  der  Erde,  die  zu  ihrer 
Erklärung  ausreicht  und  ohne  die  sie  unerklärlich  bleibt,  die 
nüchterne  Überlegung  entgegenstellen:  wenn  die  Erde  sich  bewegte 
und  durch  ihre  Bewegung  die  Flut  des  Meeres  so  bewirkte,  wie  Galileis 
Erklärung  es  angibt,  so  würde  die  Flut  des  Meeres  eine  andere  sein, 
als  sie  in  Wirklichkeit  ist,  folglich  ist  entweder  die  Erde  ohne  Bewegung, 
oder  sie  ist  durch  ihre  Bewegung  nicht  die  Ursache  der  Meeresflut 
in  derjenigen  Weise,  wie  Galilei  es  erklärt.  Daß  in  Wahrheit,  auch 
wenn  die  Erde  sich  bewegte,  eine  Bewegung  der  größeren  Wasser- 
massen, wie  Galilei  sie  ableitete,  keineswegs  stattfinden  müsse,  hat 
Kiccioli  in  einigen  kurzen  Bemerkungen  angedeutet;  doch  scheint 
weder  er  noch  sein  Ordensbruder  und  Mitarbeiter,  der  in  anderen 
Beziehungen  als  Forscher  hochverdiente  P.  Francesco  Maria  Grimaldi 
den  eigenthchen  Ursprung  des  Irrtums  begriffen  zu  haben. 

Auf  nahe  verwandte,  aber  ungleich  schwerere  Irrtümer  müssen 
die  experimentellen  Beweise  zurückgeführt  werden,  durch  die  Eiccioli 
und  Grimaldi  die  Bewegung  der  Erde  widerlegen  zu  können  meinten. 
Darf  man  bei  Galileis  Flutlehre  von  einer  Inkonsequenz  reden,  so 
bekundet  sich  in  den  „physikomathematischen"  Beweisen  der  beiden 
gelehrten  Jesuiten  ein  völliges  Mißverstehen  der  Galileischen 
Fundamentalsätze,  insbesondere  seiner  Erklärung  der  Tatsache, 
daß  durch  das  Hinzukommen  der  gleichförmigen  Kreisbewegung 
der  Erde  zu  den  Einzelbewegungen  irdischer  Körper  die  letzteren 
zwar  —  absolut  betrachtet  —  andere  werden,  für  die  Wahr- 
nehmung jedoch  nicht  anders  erscheinen,  als  wenn  die  Erde  ruht. 
Kiccioli  begreift  nicht,  was  Galilei  an  unzähligen  Beispielen  dargetan, 
daß  für  die  Wahrnehmung,  wie  für  jede  Wirkung  nur  derjenige  Teil 
der  Bewegung  vorhanden  ist,  an  dem  das  wahrnehmende  Auge  oder 
der  Gegenstand,  auf  den  eine  Einwirkung  stattfindet,  keinen  Anteil 


—     200     — 

hat;  nach  Gahleis  Vorgang  konstruiert  er  die  Bahn  eines  Körpers, 
der  im  Fallen  zugleich  die  Kreisbewegung  der  Erde  teilt,  nimmt  dann 
aber  an,  daß  die  Wirkungen  des  fallenden  Körpers  durch  die  Eigen- 
schaft der  durch  Konstruktion  bestimmten  gemischten  (absoluten) 
Bewegung  bedingt  seien ;  da  in  dieser  nach  Galileis  —  halb  scherzhafter 
—  Ableitung  die  Ungieichförmigkeit  und  Beschleunigung  der  ein- 
fachen Fallbewegung  verschwindet,  meint  Eiccioli  bei  Voraussetzung 
der  Bewegung  der  Erde  auch  an  den  Wirloingen  des  fallenden  Körpers 
erkennen  zu  müssen,  daß  er  mit  nahezu  beständiger  Geschwindig- 
keit zur  Erde  gelangt;  mm  wächst  aber  mit  der  Annäherung  an 
die  Erde,  wie  die  zunehmende  Stoßwirkung  erkennen  läßt,  die 
Geschwindigkeit  des  fallenden  Körpers;  es  kann  deshalb  der  senk- 
rechten Fallbewegung  keine  Kreisbewegung  beigemischt  sein,  und 
dadurch  ist  erwiesen,  daß  die  Erde  ruht. 

Abweichend  von  Tycho  Brahe  nimmt  Eiccioli  mit  Galilei  an, 
daß  in  der  Richtung  des  Meridians  geschossene  Kanonenkugeln  auch 
auf  rotierender  Erde  ihr  Ziel  erreichen,  weil  ihnen  auch  neben  der 
Sonderbewegung  der  Anteil  an  der  Erdbewegung  verbleiben  würde, 
aber  unklar  tiber  Sinn  und  I^atur  dieser  Zusammensetzung  zur  ab- 
soluten, auf  den  Weltraum  bezogenen  Bewegung,  meint  er,  die  Wirkung 
des  Schusses  müsse  um  so  schwächer  sein,  je  ferner  den  Polen,  je 
näher  dem  Äquator  geschossen  werde,  weil  mit  der  dadurch  bedingten 
stärkeren  Beimischung  der  Ki-eisbewegung  auch  die  Richtung,  in  der 
die  Kugel  eine  durch  das  Ziel  gelegte  vertikale  Ebene  trifft,  mehr 
und  mehr  vom  rechten  Winkel  abweicht,  mit  dem  Wachsen  dieser 
Abweichung  aber  die  Kraft  des  Stoßes  in  entsprechender  Weise  sich 
mindern  müsse;  da  nun  Unterschiede  in  der  Wirkimg  der  Kanonen- 
schüsse, die  dem  Abstand  vom  Äquator  entsprechen,  niemals  beob- 
achtet worden,  muß  eine  Beimischung  der  Kreisbewegung  als  aus- 
geschlossen, die  Erde  als  ruhend  angesehen  werden. 

Eine  Reihe  weiterer  Beweise  Ricciolis  gegen  die  Bewegung  der 
Erde  ist  auf  das  gleiche  Mißverständnis  zurückzuführen.  Der  Fehl- 
griff in  allen  diesen  Betrachtungen,  auf  die  Riccioli  den  höchsten  Wert 
legt,  verdeutMcht,  wie  schwer  es  den  Zeitgenossen  fiel,  sich  den 
Gedankengang  der  Galilei  sehen  Lehre  zu  eigen  zu  machen. 

Aber  der  Verteidiger  der  heiligen  Kongregation  hat  offenbar  das 
Bedürfnis  empfunden,  diesen  Früchten  seiner  gelehrten  Ai'beit,  die 
dem  Laien  unzugänglich  bheben,  Gegengründe  für  Jedermanns  Ge- 


—     201     — 

brauch  hinzuzufügen,  Beweise,  die  man  vielleicht  —  wie  er  selbst 
das  angedeutet  hat  —  als  Grundlage  jenes  Urteils  der  theologischen 
Konsultoren  betrachten  dürfte,  das  die  copernicanische  Lehre  als 
„töricht"  und  absurd  in  der  Philosophie  verwirft. 

Bei  dieser  volkstümlichen  Aufgabe  kam  es  denn  freilich  weniger 
darauf  an,  die  notwendigen  Voraussetzungen  der  Gegner,  dieselben, 
die  in  den  physikomathematischen  Beweisen  bereitwillig  zugrunde 
gelegt  werden,  als  berechtigt  anzuerkennen,  und  ebensowenig  scheint 
es  Riccioli  beunruhigt  zu  haben,  daß  er  auf  diesem  Wege  mit  seiner 
eigenen  Wissenschaft  in  groben  Widerspruch  gerät.  Nichts  Geringeres 
erstrebt  er  in  der  hier  berührten  Gattung  von  Beweisen,  die  sich  in 
allen  Abschnitten  des  Buches  über  das  System  der  bewegten  Erde 
eingestreut  finden,  als  dem  unmittelbaren  Zeugnis  der  Sinne  das 
Vorrecht  zu  sichern  gegenüber  den  möglichen  Deutungen  und  mathe- 
matischen Betrachtungen.  Um  sie  zu  kennzeichnen,  genügt  zu  er- 
Wtähnen,  daß  Riccioli  mit  allem  Nachdnick  in  der  Weise  des  Aristoteles 
gegen  die  Bewegung  der  Erde  die  Tatsache  verwertet,  daß  wir  die 
Körper  aller  Orten  in  senkrechter  Richtung  zur  Erdoberfläche  fallen 
sehen. 

Nirgends  war  die  Antwort  Galileis  klarer.  Wer  seiner  Belehrung 
gegenüber  noch  eine  Antwort  für  möglich  hielt,  mußte  vor  allem 
nicht  minder  klar  und  bestimmt  bezeichnen,  welche  Abweichung  in 
der  Bewegung  des  fallenden  Körpers  er  auf  bewegter  Erde  zu  sehen 
erwartet.  Riccioli  schweigt  darüber;  er  ist  in  der  Tat  um  der  Kon- 
sequenz willen  außerstande,  wie  seine  Vorgänger  ein  Zurückbleiben 
des  fallenden  Körpers  nach  Westen  zu  erwarten;  er  deutet  nicht  an, 
daß  er  —  Borelli  und  Newton  voraus  —  an  ein  Vorauseilen  nach 
Osten  gedacht  hat,  er  wagt  auch  nicht  zu  behaupten,  daß,  wenn  die 
Erde  in  Wahrheit  sich  bewegte,  man  etwa  die  Bewegung  des  fallen- 
den Körpers  in  derjenigen  Ivrummen  Linie  erfolgend  sehen  würde, 
die  aus  der  Zusammensetzung  des  senla-echten  Falls  mit  der  Kreis- 
bewegung der  Erde  resultiert;  kurz,  er  sagt  und  glaubt  nicht,  daß 
für  ein  menschliches  Auge  die  Erscheinung  des  freien  Falls  auf  der 
bewegten  Erde  in  irgendwelcher  Beziehung  sich  von  derjenigen  auf 
der  ruhenden  unterscheiden  würde;  aber  indem  er  in  langer  Aus- 
führung mit  Exkursen  ins  Gebiet  der  Logik,  Metaphysik  und  Theologie 
als  einen  Widersinn  ohne  Gleichen,  als  eine  Verleugnung  der  gewissesten 
Wirklichkeit  die  Behauptung  geißelt,  daß  die  Körper  nicht  in  senk- 


—     202     — 

rechter  Linie  fallen,  läßt  er  den  Leser  glauben,  daß  eben  dies  von  den 
Copernicanern  behauptet  würde,  daß  sie  vorgeben,  mit  sehenden  Augen 
statt  der  Senkrechten  eben  jene  Kurve  bei  jedem  fallenden  Körper 
zu  erblicken,  und  dieser  vermeintlichen  Verblendung  gegenüber  ruft 
er  pathetisch  aus:  wenn  es  für  den  Sinn  nicht  evident  ist,  daß  die 
schweren  Körper  in  geraden  Linien  fallen,  dann  ist  ihm  nichts  mehr 
evident,  und  nichtig  ist  dann  alle  Wissenschaft  der  Natur. 

Es  würde  nicht  schwer  sein,  wie  in  dieser  Verteidigungsrede  für 
das  älteste  und  bequemste  Argument  gegen  die  Bewegung  der  Erde, 
so  in  vielen  anderen  Teilen  des  Buches  schlechthin  sophistische 
Deduktionen  nachzuweisen,  die  mit  ehrlicher,  wissenschaftlicher 
Überzeugung  nichts  gemein  haben  und  denen  gegenüber  deshalb  auch 
die  Wissenschaft  auf  Widerlegung  verzichten  durfte,  aber  auch  der 
überzeugte  Copernicaner  konnte  nicht  glauben,  daß  um  derartiger 
Bestandteile  v^illen  dem  „Almagestum  novum"  gegenüber  gering- 
schätziges Schweigen  die  gebührende  Antwort  gewesen  wäre.  Ricciohs 
Buch  bot  sich  dar  als  der  Inbegriff  der  zeitgenössischen  Wissenschaft 
auch  in  betreff  der  Erkenntnis  über  das  w^ahre  Weltsystem;  wenn 
man  in  Abrede  stellen  konnte,  daß  sein  Inhalt  diesem  Anspruch 
genügte,  so  Heß  sich  doch  nicht  verkennen,  daß  seine  Verteidigung 
der  alten  Weltanschauung,  unvergleichbar  mit  allem,  was  bis  dahin 
die  Anhänger  der  Schulphilosophie  in  gleicher  Absicht  geleistet,  auf 
voller  Kenntnis  der  gegnerischen  Lehre  und  ihrer  Vorzüge  beruhte, 
seine  Beurteilung  vieKach  wldiche  Mängel  traf,  seinen  Einwendungen 
in  nicht  wenigen  Punkten  die  Berechtigung  nicht  zu  bestreiten  war. 

Hatte  Riccioli  von  den  Argumenten,  die  bis  in  die  Mitte  des 
17.  Jahrhunderts  von  den  Anhängern  der  Erdbewegung  zur  Sprache 
gebracht  waren,  kaum  irgendeins  unberücksichtigt  gelassen,  so 
richtete  sich  naturgemäß  sein  Hauptangriff  gegen  Galüei  und  dessen 
„Dialoge".  Es  ^\ird  nicht  leicht  eine  lehrende  oder  ki-itische  Be- 
trachtung, ein  sinnreicher  Vergleich,  geschweige  eine  Ungenauigkeit 
oder  eine  irrtümliche  Vorstellung  dieses  Buches  nachzuweisen  sein, 
die  er  nicht  zum  Gegenstand  der  Erörterung  gemacht  hätte,  häufig 
genug  einer  recht  'widersinnigen  Erörterung,  weil  es  ihm  ersichtlich 
mehr  darauf  ankam,  möghchst  zahkeiche  Sätze  ihrem  Wortlaute 
nach  anfechtbar  als  im  Zusammenhang  der  Darstellung  und  der 
Absicht  des  Verfassers  gemäß  verständlich  erscheinen  zu  lassen. 
Aber  so  zahkeich  und  mannigfaltig  dabei  die  Mißdeutungen  und 


—     203     — 

Mißverständnisse  unterlaufen,  so  blieben  doch  auch  Galilei  gegenüber 
für  den  unbefangenen  Leser  der  teilweise  oder  durchaus  berechtigten 
Entgegnungen  nicht  wenige,  vor  allem  waren  gegen  den  einzigen 
Beweis  für  die  zwiefache  Bewegung  der  Erde,  der  diese  Bewegung 
in  ihren  Wirkungen  für  die  unmittelbare  Wahrnehmung  veranschau- 
licht erscheinen  üeß,  die  ernstesten  Bedenken  erhoben;  der  erneuten 
Prüfung  mindestens  und  der  klaren  Darlegung  bedurfte  es,  was  für 
die  Haltbarkeit  des  ganzen  Baus  die  Ausschaltung  dieses  wichtigen 
Teils  bedeutete. 

Zu  den  Fragen  und  Aufgaben,  die  in  solcher  Weise  Eicciolis 
Buch  den  copernicanisch  denkenden  Zeitgenossen  und  vor  allen  den 
Anhängern  Galileis  stellte,  kam  für  die  letzteren  der  persönliche 
Angriff  gegen  den  toten  Meister.  Bei  aller  Mäßigung  in  der  Bekämpfung 
der  gegnerischen  Ansicht  trägt  Riccioli  doch  kein  Bedenken,  überall 
da,  wo  er  die  eigenen  Beobachtungen  oder  die  tatsächlichen  Wahr- 
nehmungen anderer  von  denjenigen  abweichen  sieht,  auf  die  Galilei 
seine  Behauptungen  begründet,  ihm  Unehrlichkeit  in  klaren  Ausdrücken 
vorzuwerfen. 

Schlimmeres  noch  forderte  der  Plan  seines  Werkes.  Den  physi- 
kalisch-astronomischen Abschnitten  des  Buchs  über  die  Bewegung 
der  Erde  schließt  Riccioli  den  theologischen  an.  Der  vollständigen 
Zusammenstellung  der  Bibelstellen,  die  auf  die  Bewegung  der  Sonne 
und  die  Ruhe  der  Erde  Bezug  haben  oder  möglicherweise  zu  beziehen 
sind,  läßt  er  die  Deutungen  der  Laien  und  der  Männer  der  Kii'che 
folgen ;  den  Abschluß  bilden  die  Dekrete  der  römischen  Kongregationen 
aus  den  Jahren  1616  und  1620;  diesen  folgt  in  lateinischer  Übersetzung 
der  vollständige  Text  des  Urteils  gegen  Galilei  und  der  Abschwörungs- 
formel.  So  erschienen  die  demütigenden  Worte,  in  denen  der  unglück- 
liche Mann  der  Lehre  von  der  Erdbewegung  entsagt,  gewissermaßen 
als  die  letzten,  die  in  dieser  Angelegenheit  zu  reden  waren. 

Den  Zeitgenossen  bedeutete  diese  Veröffentlichung  eine  nach- 
drucksvoUe  Erneuerung  des  Andenkens  an  die  Schmach,  die  die 
römische  Inquisition  Galilei  angetan.  Wohl  war  es  der  Zeit  nach 
nicht  die  erste.  Eine  französische  Übersetzung  der  Sentenz  und  der 
Abschwörungsformel  hatte  Mersemie  schon  im  Jahre  1635  drucken 
lassen,  eine  Wiedergabe  des  italienischen  Originals  war  in  dem  „Anti- 
copernicus  catholicus"  des  Venetianers  Polacco  im  Jahre  1644  er- 
schienen.    Beide  Schriften  hatten  um  ihres  anderweitigen  Inhalts 


—     204     — 

vrillen  geringe  Verbreitung  gefunden.  Erst  durch  das  „Almagestura 
no\aim"  ist  daher  die  Geschichte  des  GaUleischen  Prozesses  nach 
der  römischen  DarsteUung,  die  Motivierung  und  der  ausführÜche 
Wortlaut  der  Sentenz  allgemein  zugänglich  und  bekannt  geworden. 
In  den  weitesten  Kreisen  las  man  jetzt  zum  ersten  Male,  daß  Galilei 
von  dem  starken  Verdacht  der  Ketzerei  sich  nur  durch  die  feierliche 
Verleugnung  und  Verwünschung  seines  Glaubens  gereinigt  hatte. 
Man  begreift,  daß  vor  allem  gegen  diesen  Teil  des  Werkes  von  Riccioli 
sich  der  Unwillen  und  die  Entrüstung  der  Nächstbeteihgten  richtete. 
Nicht  ohne  tiefe  Erregung  konnte  Großherzog  Ferdinand  in  den 
Ausführungen  der  Sentenz  das  Gedächtnis  der  eigenen  Demütigung 
erneuert  sehen,  ^  Aufs  peinlichste  ergriff  die  Veröffentlichung  den- 
jenigen, der  vor  allem  sich  berufen  glaubte,  das  Andenken  Galileis 
zu  schützen :  seinen  letzten  Schüler,  Vinzenzio  Viviani.  Noch  16  Jahre 
später,  als  ihm  aus  Bologna  Eicciolis  Tod  gemeldet  wurde,  sprach 
er  sich  in  bitteren  Worten  über  dessen  Verfahren  gegen  Galilei  aus: 
der  Abdruck  der  Sentenz,  meinte  Viviani,  habe  be^^iesen,  daß  die 
Abneigung  des  elirwürdigen  Herrn  mehr  dem  Manne  als  seinen  Be- 
hauptungen gegolten  habe.^ 

In  gleicher  Gesinnung  erwiderte  der  Mathematiker  Montanari, 
an  den  diese  Worte  gerichtet  waren :  ,,Owie  oft  habe  ich  mitingiimm 
daran  gedacht,  wie  schlecht  der  Pater  Galilei  behandelt  hat,  ja  bis- 
weilen hat  mich  darüber  die  Laune  angewandelt,  seine  Verteidigung 
zu  übernehmen  und  ihm  eine  Apologie  zu  schreiben. "^  Es-  ist  das 
einzige  Mal,  daß  in  den  bisher  zugänglichen  Handschriften  auch  nur 
als  einer  Laune  einer  solchen  Absicht  gedacht  wird.  Montanari  fügt 
hinzu,  was  nicht  für  ihn  allein  entscheidend  war,  um  den  aufsteigenden 
Gedanken  zu  verbannen:  „Aber  diese  Sekte  ist  allzumächtig!"  So 
hatte  es  bei  ihm  wie  bei  den  übrigen  bei  dem  schmerzlichen  Empfinden, 
den  bitteren  Worten  gegen  den  Jesuiten  von  Bologna  und  bei  dem 
Einfall,  daß  man  wohl  gegen  ihn  schreiben  könnte,  sein  Bewenden. 
Es  fand  sich  niemand  unter  den  itaUenischen  Gelehrten,  der  der 


^  Nach  Vivianis  Erzählung  in  dem  in  der  nächstfolgenden  Note  zitierten 
Briefe. 

2  Brief  Vivianis  an  Geminiano  Montanari  vom  26.  Sept.  1671,  mit- 
geteilt in  A.  Favaro  Miscellanea  Galileiana  inedita.     Venezia  1887  p.  111. 

^  Brief  Montanaris  an  Viviani  vom  29.  Sept.  1671  bei  Favaro  a.  a.  O. 
p.  127. 


—     205     — 

„mächtigen  Sekte"  zum  Trotz  gewagt  hätte,  durch  eine  Darlegung 
der  guten  Gründe  für  die  Annahme  einer  Bewegung  der  Erde  zugleich 
den  Richtern  der  Inquisition  und  ihrem  Verteidiger  die  gebührende 
Antwort  zu  erteilen. 

Auch  eine  eingehende  Würdigung  oder  Widerlegung  der  Angriffe 
Ricciolis  in  den  Grenzen  wissenschaftlicher  Erörterung  ist  weder 
damals  noch  später  von  Anhängern  des  Copernicus  gegeben  oder 
versucht  worden.  Daß  es  dafür  in  Itahen  auch  in  jenen  Tagen  nicht 
an  den  geeigneten  Persönlichkeiten  fehlte,  ist  zur  Genüge  der  kurzen 
und  treffenden  Abwehr  zu  entnehmen,  die  zwei  italienische  Gelehrte 
gegen  einen  Teil  der  gegnerischen  Beweisführung  gerichtet  haben. 

Nachdem  14  Jahre  hindurch  die  Herausforderung  des  „Alma- 
gestum  novum"  dem  Anscheine  nach  unbeachtet  gebheben  war, 
wiederholte  Riccioli  dieselbe  in  seiner  1665  erschienenen  ,,Astronomia 
reformata".  In  einer  kürzeren  Besprechung  der  copernicanischen 
Lehre  hebt  er  hier  aus  dem  umfassenden  Rüstzeug  des  älteren  Werks 
neben  den  theologischen  nur  das  bereits  erwähnte  physikomathe- 
matische  Argument  als  unwiderlegliches  Zeugnis  gegen  die  Bewegung 
der  Erde  hervor.  Dabei  verhehlt  er  nicht,  daß  selbst  im  Kreise  seiner 
liebsten  Freunde  und  bei  Männern,  die  ,,die  Heihge  Autorität  ver- 
ehrend die  copernicanische  Hypothese  absolut  verwerfen",  dieses 
Argument  zu  lebhaften  Einwendungen  Veranlassung  gegeben  habe. 
Um  der  Freunde  willen  verwendet  er  um  so  größere  Mühe  auf  eine 
erweiterte  und  verbesserte  Begründung.  Gegen  eben  diesen  Beweis 
haben  dann  in  der  Öffentlichkeit  Johann  Alfonso  Borelli  und  Fra 
Stefano  degli  Angeli  Einspruch  erhoben. 

Borelli  war  derjenige  unter  den  Nachfolgern  GaHleis,  der  am  ent- 
schiedensten auch  in  dem  Anteil  an  den  großen  Fragen  der  Astronomie 
und  der  Weltanschauung  dem  Meister  sich  anschloß.  In  Briefen  an 
Mitglieder  der  Academie  del  Cimento,  zu  deren  hervorragendsten 
Genossen  er  gehörte,  sehen  wir  ihn  mit  Neid  nach  Frankreich  bhcken, 
w^o  in  den  Zusammenkünften  der  Gelehrten  und  selbst  in  Jesuiten- 
ki'eisen  die  copernicanische  Lehre  frei  erörtert  wird,  und  keiner  Be- 
denken trägt,  ihr  zuzustimmen.  Borelli  äußert  den  Wunsch,  daß 
durch  Veröffenthchung  von  Berichten,  die  darauf  Bezug  nehmen, 
den  Italienern  zum  Bewußtsein  gebracht  werde,  wie  ungleich  größerer 
Freiheit  der  Erörterung  die  Wissenschaft  sich  außerhalb  ihres  Landes 
erfreue.    Auf  diese  Weise,  hofft  er,  werde  man  dazu  gelangen,  die 


—     206     — 

verhängnisvolle  Sentenz  gewissermaßen  „umgänglicher,  zahmer  und 
weniger  furchtbar"  zu  machen.^ 

Aber  über  die  Wünsche  ging  auch  Borelli  nicht  hinaus.  In  seiner 
Schrift  über  die  Mediceischen  Planeten,  die  ein  Jahr  nach  Ricciolis 
zweitem  Werk  erschien^,  bringt  er  über  die  Ursache  der  Bewegung 
der  Planeten  um  die  Sonne  Vorstellungen  zur  Sprache,  die  noch  heute 
unter  den  Vorläufern  des  Newton  sehen  Gravitationsgedankens  er- 
wähnt werden  müssen,  aber  in  dieser  Schrift,  die  ihrem  wesentlichen 
Inhalte  nach  das  hehozentrische  System  als  Wahrheit  voraussetzt, 
ist  in  den  Worten  jede  Bezugnahme  auf  die  Bewegung  der  Erde 
vermieden. 

Als  BoreUi  mit  der  Abfassung  seines  Buches  beschäftigt  war, 
kam  ihm  der  Gedanke,  anhangsweise  Galileis  Ansicht  über  die  Ent- 
stehung der  Flut  zu  verteidigen,  da  will  er  zeigen,  wie  die  Flut  der 
Jupitersgewässer,  wenn's  deren  gäbe,  der  regelmäßigen  Periode  der 
Trabanten  folgen  müßte,  ganz  so,  wie  die  Flut  der  Erde  unserm 
Monde  folgt.  Aber  wie  er  dem  Gedanken  nachgeht,  hält  es  ihn  zurück; 
er  hat  vor  kurzem  die  „physischen  Dialoge"  des  P.  Fabri  über  die 
Bewegung  der  Erde  kennen  gelernt;  die  argwöhnische  Art  der  Leute 
dieses  Schlages  macht  ihn  ängsthch;  „ich  weiß  nicht",  schreibt  er, 
„wde  ich  mich  entschheßen  soll".  Wer  ihn  so  schwanken  und  fürchten 
sieht,  weiß  das  Ende  der  Erwägung  im  voraus.  Der  Anhang  Avm'de 
nicht  geschrieben. 

Weniger  bedenklich  erschien  es  Borelli,  sich  über  die  Bew^eiski'aft 
des  physikomathematischen  Arguments  des  P.  Riccioli  in  der  Öffent- 
lichkeit auszusprechen.  In  seiner  1667  erschienenen  Schrift  „über  die 
Kraft  des  Stoßes"  erörtert  er  ganz  allgemein  die  Stoßwirkung  eines 
fallenden  Körpers,  der,  während  er  fällt,  zugleich  an  der  seitwärts 
gerichteten  Bewegung  der  unter  ihm  befindlichen  Ebene  teilnimmt; 
er  zeigt,  daß  die  Kraft  des  Stoßes  bei  dieser  Art  der  Bewegung  nicht 
durch  die  Richtung  und  Geschwindigkeit  der  resultierenden  gemischten 
Bewegung  bestinmit  wird,  sondern  nur  durch  die  Geschwindigkeit, 
die  der  Körper  vermöge  des  senkrechten  FaUs  erlangt.  Die  gleiche 
Betrachtung  überträgt  er  dann  auf  das  Problem  einer  gemischten 

1  Fabbrioni,  lettere  inedite  di  uomini  illustri  I  p.  124,  Brief  vom 
20.  Februar  1665. 

^  J.  A.  BoreUii  Theoricae  Mediceorum  planetarum  ex  causis  physicis 
deductae  Florentiae  1666. 


—     207     — 

Bewegimg,  die  dadurch  entsteht,  daß  der  Körper  in  der  Richtung 
des  Radius  einer  sich  drehenden  Kugel  mit  gleichförmig  beschleunigter 
Bewegung  fällt  und  zugleich  an  der  gleichförmigen  Drehungsbewegung 
des  Radius  teilnimmt.  An  das  Ergebnis,  daß  auch  hier  die  Kraft  des 
Stoßes  auf  die  mitbewegte  Unterlage  ausschheßhch  von  der  gleich- 
förmig beschleunigten  Bewegung  in  der  Richtung  des  Radius  abhängt, 
knüpft  Borelli  die  Bemerkung:  es  sei  daraus  mit  Leichtigkeit  die 
Widerlegung  des  Arguments  zu  entnehmen,  das  man  unter  dem 
^amen  einer  physikomathematischen  Beweisführung  und  Evidenz 
vor  kurzem  veröffentlicht  habe. 

Charakteristisch  für  den  Verfasser  und  das  Zeitalter,  in  dem  er 
sehreibt,  ist,  daß  in  diesem  Zusammenhang  die  Lehre,  auf  die  sich 
das  physikomathematische  Ai'gument  bezieht,  nur  durch  eine  Um- 
schreibung angedeutet  vriid.  Ms  den  Zweck  des  Arguments  bezeichnet 
Borelli  wörtlich:  zu  entscheiden,  ob  die  gleichförmig  beschleunigte 
Bewegung  eines  Körpers  in  der  Richtung  zum  Zentnmi  eines  Kreises 
eine  einfache  sei  oder  ob  ihr  eine  gleichförmige  Kreisbewegimg  in  der 
Peripherie  desselben  Kreises  beigemischt  sei.  Ohne  Riccioh  und  sein 
Buch  zu  nennen,  ohne  in  der  längeren  Auseinandersetzung  auch  nur 
ein  einziges  Mal  der  Erde  und  damit  des  eigenthchen  Gegenstandes 
seiner  Beweisfühnmg  ausdrückhch  zu  gedenken,  zeigt  er,  daß  die 
gesuchte  Entscheidung  durch  die  Beobachtung  der  Stoßwh'kung  nicht 
zu  gewinnen  sei,  weil  diese  die  gleiche  bleibe,  möge  nun  die  Bewegung 
die  des  einfachen  freien  Falls  oder  eine  in  der  angedeuteten  Weise 
gemischte  sein. 

Wenn  bei  diesem  durchsichtigen  Versteckenspiel  die  Absicht 
zugrunde  lag,  den  falschen  Beweis  für  jeden  Sachverstäncügen  in 
aller  Schärfe  zu  widerlegen,  ohne  „den  argwöhnischen  Leuten"" 
Angriffspunkte  für  den  Verdacht  zu  geben,  so  hat  Borelli  dieser  Ab- 
sicht aufs  vollständigste  entsprochen.  Wer  in  jener  Zeit  sein  Buch 
„über  die  Kraft  des  Stoßes"  las,  verstand,  daß  Borelli  einen  ver- 
meintlichen Beweis  gegen  die  copernicanische  Lehre  als  absurd  er- 
kennen ließ;  daß  er  das  erkennen  ließ,  ohne  es  auszusprechen,  zeigte, 
daß  er  keineswegs  gewillt  war,  den  Fehdehandschuh  aufzunehmen, 
den  der  Vorkämpfer  der  römischen  Dekrete  den  Copernicanern  hin- 
geworfen hatte. 

Eine  ähnliche  Denkweise  äußert  sich  in  etwas  anderer  Art  in 
der  Schrift,  die  gleichfalls  im  Jahre  1667  der  Paduaner  Mathematiker 


—     208     — 

Fra  Stefano  degli  Angeli  gegen  Riccioli  richtete.^  Allerdings  deutet 
schon  der  Titel  „Betrachtungen  über  die  Kraft  einiger  von  dem 
P.  Giambattista  Riccioli  angeführten  physikomathematischen  Beweis- 
gründe gegen  das  copernicanische  System"  auf  eine  eigentliche  Streit- 
schrift; es  war  kein  Zufall,  daß  eine  solche,  während  das  übrige 
Italien  zu  verstummen  schien,  gerade  aus  Venedig  kam.  Im  übrigen 
ging  der  Gebrauch,  den  der  Bruder  Stefano  degli  Angeli  von  der 
größeren  Freiheit  des  republikanischen  Staatswesens  gemacht  hat, 
über  die  Grenzen  der  schuldigen  Ehrfurcht  gegen  kirchliche  Verbote 
nicht  hinaus.  Er  glaubt,  eine  Behauptung,  die  auf  Sätze  der  Bewegungs- 
lehre begründet  war,  als  irrtümlich  abgeleitet  erweisen  zu  dürfen, 
ohne  dem  Verdachte  ausgesetzt  zu  sein,  daß  er  auf  dieses  Ergebnis 
aus  unerlaubten  Gründen  Wert  lege.  Nichts  anderes  bestimmt  ihn, 
Riccioli  entgegenzutreten,  als  das  Bedürfnis,  zu  zeigen,  daß,  wenn 
er  die  Unbewegtheit  der  Erde  verteidigt,  dies  nicht  aus  Blindheit 
und  Unmssenheit  geschehe.  Auch  konnten  die  Haeretiker  auf  den 
Gedanken  kommen,  daß  die  Heilige  Kongregation,  wenn  sie  die  Lehi-e 
von  der  Erdbewegung  als  falsch  und  absurd  in  der  Philosophie  be- 
zeichnet habe,  dabei  von  den  Beweisgründen  des  P.  Riccioli  geleitet 
gewesen  sei;  da  diese  Beweisgründe  unzureichend  und  schwach  seien, 
komme  es  darauf  an,  mit  offenem  Visier  und  freier  Stirn  zu  zeigen, 
daß  sie  als  solche  von  den  Italienern  erkannt  seien. 

Es  ist  die  Redeweise,  deren  Galilei  sich  bei  ähnlicher  Veranlassung 
bedient  hatte,  die  auch  hier  den  Überzeugten  und  doch  zu  bedingungs- 
loser Unterwerfung  entschlossenen  Copernicaner  verrät.  Zum  Über- 
flusse wiederholt  der  P.  Stefano  degli  Angeli  am  Schlüsse  seiner 
Widerlegung:  er  möchte  nicht,  daß  um  dieses  Widerspruchs  willen 
die  Meinung,  daß  die  Erde  sich  bewege,  seinen  Lesern  in  besserem 
Licht  erschiene ;  denn  diese  Meinung  sei  falsch  und  irrtümlich  und 
mit  Recht  von  der  Heiligen  Mutter  Kirche  verdammt  worden.  „Und 
wenn  die  hier  besprochenen  Gründe",  fügt  er  hinzu,  „als  ausreichend 
nicht  betrachtet  werden  können,  so  gibt  es  deren  andere,  die  in  vollem 
Maße  wirksam  sind";  daß  diese  anderen  Gründe  ausschließlich  oder 


^  Montanari  behauptet  in  dem  bereits  zitierten  Brief  an  Viviani,  er 
habe  als  erster  im  gleichen  Sinne  gegen  Riccioli  geschrieben,  und  sein  Manu- 
skript habe  dem  P.  Stefano  die  Anregung  gegeben,  seine  ,, Betrachtungen" 
zu  veröffentlichen.  In  der  Tat  sind  in  dieser  Schrift  Montanaris  Ansichten 
erwähnt. 


—     209     — 

wesentlich  theologischer  Natur  seien,  deutet  P.  Stefano  an,  doch 
scheint  er  Wert  darauf  zu  legen,  es  nicht  ausdrücklich  zu  sagen. 

Seine  Schrift  gab  die  Veranlassung  zu  einer  Erwiderung,  die  im 
Namen  des  P.  Riccioli  dessen  jüngerer  Freund  Michele  Manfredi 
veröffenthchte,  Riccioli  beharrte  bei  seiner  Meinung,  ja  in  einem 
Nachwort  erhebt  er  weitergehend  unverhohlenen  Widerspruch  gegen 
die  ersten  Grundsätze  der  Galilei  sehen  Bewegungslehre,  die  er  bis 
dahin  zugestanden  habe,  um  selbst  unter  Anerkennung  der  gegne- 
rischen Anschauungsweise  deren  vermeintliche  Konsequenzen  zu 
widerlegen. 

Eine  zweite  Entgegnung  des  Paduaner  Gelehrten  folgte,  weitere 
Gegenschriften  von  beiden  Seiten  schlössen  sich  an.  An  eine  Erörterung 
über  die  Hauptfrage  knüpfte  sich  eine  weitere,  scheinbar  rein  mathe- 
matischen Iiilialts,  z\vischen  den  beiden  Gegnern  Ricciolis,  Borelli 
und  degli  Angeli.  Der  Streit  der  beiden  Gelehrten  bezog  sich  auf  die 
Form  der  krummlinigen  Bahn,  die  ein  fallender  Körper  im  Weltraum 
beschreiben  würde,  wenn  er  zugleich  an  der  Rotationsbewegung  der 
Erde  teilnimmt.  Schärfer  als  der  Paduaner  in  die  Konsequenzen  des 
Gahlei  sehen  Beharrungsgesetzes  eindringend  erkannte  und  ver- 
teidigte BoreUi,  daß  die  gesuchte  Form  nicht  die  einer  Aj'chimedischen 
Spirale  sein  könnte,  weil  der  aus  der  Höhe  konmiende  Körper  auch 
im  Fallen  die  größere  Geschwindigkeit  des  Kreises,  dem  er  ursprüng- 
lich angehörte,  beibehält.  Borelli  übersah  nicht,  daß  die  gleiche  Er- 
wägung einen  bestinmiten  Unterschied  für  den  Fall  auf  ruhender 
und  bewegter  Erde  ergibt;  er  folgerte,  daß,  wenn  der  fallende  Körper 
mit  der  Erde  rotiert,  er  vorauseilend  von  der  Senkrechten  abweichen 
muß.  So  weisen  diese  vorsichtigen,  den  Glauben  an  die  Wahrheit 
der  Erdbewegung  ausdrückhch  verleugnenden  Betrachtungen  aufs 
bestinmiteste  auf  die  Wirkungen  hin,  durch  die  in  späterer  Zeit  zuerst 
die  Rotation  der  Erde  auch  für  den  Augenschein  wahrnehmbar 
gemacht  w^orden  ist. 

Nichts  deutet  freilich  an,  daß  Borelli  selbst  daran  gedacht  hätte, 
seine  Folgerung  zugunsten  der  copernicanischen  Lehre  zu  verwerten, 
durch  neue  Versuche  die  täghche  Bewegung  der  Erde  als  Wahrheit 
zu  erweisen,  ja  es  scheint  kaum,  daß  er  auch  nur  sich  bewußt  gewesen 
ist,  den  Weg  zu  solchem  Beweis  für  die  kommenden  Generationen 
bezeichnet  zu  haben.  In  einem  1668  gedruckten  Brief  an  Michael 
Angelo  Ricci,  in  dem  er  den  hier  besprochenen  Gegenstand  ausführ- 

Wohlwill,  Galilei.    Ii.  14 


—     210     — 

lieh  behandelt,  der  aber  eben,  weil  er  gedruckt  ist,  als  eine  vollständige 
Wiedergabe  seines  Gedankengangs  in  so  bedenklicher  Eichtung  nicht 
ohne  weiteres  gelten  kann,  bekennt  er,  daß  der  erste  Einblick  in  die 
Notwendigkeit  jenes  Ergebnisses  ihn  zunächst  in  Verwirrung  gesetzt 
habe.  Der  weitere  Zusammenhang  läßt  für  diese  Beunruhigung  keine 
andere  Deutung  zu,  als  daß  Borelli  wenigstens  vorübergehend  geglaubt 
hat,  seiner  Folgerung  gegenüber  müsse  die  feststehende  Tatsache  der 
Beobachtung,  daß  die  Körper  in  der  Senkrechten  fallen,  wenn  auch 
in  anderem  Sinne  als  Aiistoteles  und  Riccioli  gewollt,  als  Beweis 
gegen  die  Bewegung  der  Erde  betrachtet  werden.  Die  Widerlegung 
dieser  möglichen  Auffassung  bildet  den  eigentlichen  Inhalt  des  Briefes 
an  Ricci.  BoreUi  zeigt,  daß  seine  theoretisch  unbestreitbare  Folgerung 
unter  keinen  Umständen  praktische  Bedeutung  gewinnen  könne;  er 
berichtet  ausführlich,  ^^ie  seinen  eigenen  Erfahrungen  gemäß  bei 
Versuchen  über  den  freien  FaU  auch  aus  geringer  Höhe  Störungen 
aller  Art  verhindern,  daß  der  fallende  Körper  zu  wiederholten  Malen 
die  gleiche  Stelle  des  Bodens  treffe,  er  berechnet  dann  unter  ver- 
schiedenen Voraussetzungen  die  zu  erwartende  geringfügige  Ab- 
weichung von  der  Senkrechten  für  den  Körper,  der  aus  einer  Höhe 
von  240  Fuß  fallend  die  Erde  trifft,  und  schließt,  daß  diese  Abweichung 
unter  aUen  Umständen  innerhalb  der  Grenzen  unvermeidlicher 
Versuchsfehler,  also  unmerklich  bleibe.  Nichts  weiter  ist  daher  das 
Ergebnis  seiner  umständlichen  Erörterungen  als  die  Erkenntnis,  daß 
die  Beobachtungen  über  den  freien  Fall  weder  im  Sinne  Ricciolis 
gegen  die  Bewegung  der  Erde  entscheiden,  noch,  der  besseren  Theorie 
der  Bewegungserscheinungen  entsprechend  aufgefaßt,  ein  Zeugnis  zu- 
gunsten des  Copernicus  ablegen  können. 

Die  besprochenen  gedruckten  Äußerungen  Boreliis  werden  durch 
eine  Abhandlung  ergänzt,  die  sich  unter  den  Handschriften  der 
Academie  del  Cimento  gefunden  hat  und  mit  großer  Wahrscheinlich- 
keit gleichfalls  ihm  zuzuschreiben  ist.^  Daß  der  Verfasser  sie  für  die 
Öffentlichkeit  bestimmt  hatte,  darf  vielleicht  aus  den  formellen  Er- 
klärungen geschlossen  werden,  durch  die  er  einleitend  und  abschließend 
der  größeren  Entschiedenheit  seiner  Äußerung  den  bedenklichen  Schein 
zu  nehmen  bemüht  ist.  Er  zweifle  in  keiner  Weise,  schickt  er  voraus, 
daß  die  copernicanische  Hypothese  falsch  sei,  weil  die  Heilige  Kon- 


^  Targioni-Tozzetti  Notizie  II  p.  791 — 799. 


—     211     — 

gregation  dies  dekretiert  habe;  was  er  in  Zweifel  ziehe,  sei  nur  die 
Kraft  und  das  Gewicht  der  natürlichen  Beweise  und  insbesondere 
desjenigen,  den  der  ehrwürdige  P.  Riccioli  gelehrt  habe.  Unter  dem 
Schutze  dieser  feierlichen  Verwahrung  folgen  dann  die  physiko- 
mathematischen  Erörterungen,  die  in  voller  Ausführlichkeit  die  Trug- 
schlüsse der  gegnerischen  Beweisführung  zergliedern. 

„Die  Beweise  Ricciohs",  schließt  Borelli,  „bestärken  mich  in 
der  Meinung,  daß  es  keinen  natürlichen  noch  mathematischen  Beweis 
gebe,  der  der  copernicanischen  Hypothese  widerspricht";  aber  noch- 
mals setzt  er  hinzu:  „abgesehen  von  der  Heiligen  Autorität,  der  wir 
alle  uns  unterwerfen  müssen,  ohne  die  Kjaft  der  natürlichen  Beweise 
in  Betracht  zu  ziehen." 

So  von  Gehorsam  und  Resignation  umrahmt,  enthalten  doch 
Borellis  Worte  das  Kühnste,  was  in  den  ersten  hundert  Jahren  nach 
Galileis  Tode  ein  italienischer  Naturforscher  geschrieben  hat.  Es 
kann  daher  nicht  befremden,  daß  sie  noch  mehr  als  hundert  Jahre 
ungedruckt  geblieben  sind,  weniger  noch,  daß  die  Leiter  der  Academie 
del  Cimento  sie  zur  Aufnahme  in  ihre  Veröffentlichungen  nicht  geeignet 
befunden  haben.  Aber  mit  der  freimütigen  Äußerung  blieben  von 
diesen  Veröffentlichungen  auch  die  physikalischen  Erörterungen  der 
Handschrift  ausgeschlossen.  In  der  Tat  fehlt  in  den  berühmten 
,,Saggi"  der  Florentiner  Akademiker^  jede  Bezugnahme  auf  die 
copernicanische  Theorie, 

Eine  Erklärung  für  diese  Lücke,  die  ohne  Zweifel  einer  Be- 
schränkung auch  in  den  Forschungen  der  bedeutendsten  wissen- 
schaftlichen Genossenschaft  Italiens  entsprach,  w^ii'd  in  gewissem 
Maße  durch  die  Zwecke  der  Akademie  und  ihrer  Begründer  gegeben, 
die  in  dem  Namen  der  Accademia  del  Cimento  ausgesprochen  ist. 
Durch  Versuche  und  Beobachtungen  für  die  wahre  Wissenschaft 
zunächst  nur  den  Boden  zu  bereiten,  war  unzweifelhaft,  den  Neigungen 
ihres  fürstlichen  Leiters  entsprechend,  die  eigentliche  Bestimmung 
der  Florentiner  Vereinigung.  Die  bekannten  Veröffentlichungen  aus 
den  Protokollen  der  Akademie  del  Cimento  beweisen,  daß  demgemäß 
in  den  Verhandlungen  nur  ausnahmsweise  allgemeinere  Betrachtungen 
sich  an  die  Experimente  knüpften.    Damit  steht  im  Einklänge,  daß 


^  Saggi  di  natural!  sperienze  fatte  nell'  Accademia  del  Cimento  Firenze 
1667. 

14* 


—     212     — 

der  Astronomie  im  engeren  Sinne  angehörige  und  insbesondere  mathe- 
matische   Behandlung    fordernde    Gegenstände    unerörtert    blieben. 
Aber  die  grundsätzlichen  Bestimmungen  allein  genügen  nicht,  um 
verständlieh  zu  machen,  daß  auch  von  der  experimentellen  Unter- 
suchung alles  ausgeschlossen  blieb,   was  zur  Aufklärung  über  die 
Bewegungserscheinungen  auf  bewegter  Erde  oder  verwandter  Probleme 
dienen  konnte,  daß  also  neben  den  mannigfachen  anderweitigen  Ver- 
suchen Galileis  und  Gassendis,  die  für  die  Experimente  der  Akademiker 
den  Ausgangspunkt  bildeten,  diejenigen,   die   zur  Begründung,  Er- 
läuterung und  Bestätigung  der  copernicanischen  Lehre  dienen  konnten, 
keinerlei  Berücksichtigung  fanden.     Die  Beschränkung,  die  sich  die 
Florentiner  Forscher  in  dieser  Beziehung  auferlegten,  war  ohne  Zweifel 
durch  die  Zeitverhältnisse,  insbesondere  durch  die  Lage  der  Dinge  in 
Toscana  bedingt.   Der  Verdächtigung  keinen  Angriffspunkt  zu  bieten, 
war   eine   Lebensbedingung   für   eine   Genossenschaft,   die   ohnedies 
durch  ihr  Dasein,  durch  die  Natur  ihrer  Aufgaben  und  die  neue  "Weise, 
in  der  sie  Wahrheit  zu  gewinnen  suchte,  zum  Argwohn  Veranlassung 
gab.    Den  offenen  wie  den  heimlichen  Gegnern  wären  Bemühungen, 
die  selbst  um  ferner  Hegender  Konsequenzen  willen  auf  die  verbotene 
Lehre  zu  beziehen  waren,  willkommen  gewesen  als  Beweise  für  die 
Gefahr,    die    hinter    den    scheinbar    harmlosen    Experimenten    der 
Akademiker  drohte.     Daß  es  Erwägungen  dieser  Art  gewesen  sind, 
Rücksichten  auf  die  kirchlichen  Dekrete  sowohl,  wie  auf  die  Argus- 
augen ihrer  Wächter,  um  derentwillen  die  Accademia  del  -Cimento 
nicht  nur  die  copernicanische  Lehre,  sondern  alles,  was  mit  dieser 
zusammenhängt,  zu  berühren  vermieden  hat,  wird  in  erhöhtem  Maße 
wahrscheinlich,  wenn  man  beachtet,  in  welcher  Weise  in  der  denk- 
würdigen   einzigen    Veröffentlichung    derselben    Akademie    Galileis 
gedacht  wird.     Es  waren  insgesamt  —  mit  Einschluß  der  beiden 
Fürsten  an  ihrer  Spitze  —  Schüler  und  Verehrer  Galileis,  die  in  dem 
Verlangen,  eine  Wissenschaft  zu  fördern,  die  er  geschaffen,  auf  den 
Wegen,  die  er  beschritten,  seiner  Führung  zu  folgen,  sich  zur  gemein- 
samen Arbeit  vereinigt  hatten.    Wer  immer  in  späterer  Zeit  und  bis 
auf  den  heutigen  Tag  über  den  kurzen  Lebenslauf,  die  Bestrebungen 
und  die  Leistungen  der  Akademie  berichtet,  hat  diesen  Zusammen- 
hang mit  dem  großen  Lehrer  und  Vorgänger  nachdi'ücklich  hervor- 
heben müssen.    Und  doch  scheinen  die  einleitenden  Betrachtungen, 
die  dem  Bericht  über  die  Versuche  der  Akademie  vorausgeschickt 


—     213     — 

sind,  von  einem  solchen  Verhältnis  nichts  zu  wissen,  der  Name 
Galileis  kommt  in  dieser  Einleitung  nicht  vor.  Er  wird  in  dem  Buche 
selbst  zwar  genannt,  wo  immer  seine  Versuche  zur  Sprache  kommen, 
aber  auch  hier,  wo  unter  anderen  Torricelli  als  der  große  und  geist- 
reiche, sein  Gedanke  als  erhaben  und  bewunderungswürdig  bezeichnet 
wird,  sucht  man  vergebens  nach  irgendwelchem  Ausdi'uck  der  Ehr- 
erbietung, ja  nach  dem  gewöhnlichsten  Höflichkeits-Beiwort  neben 
dem  Namen  Galilei. 

Einer  verbreiteten  Auffassungsweise  gemäß  wird  man  geneigt 
sein,  für  diese  befremdende  Kälte  die  Ursache  in  einem  unmittel- 
baren äußeren  Zwange  zu  sehen,  den  die  Inquisition  ausübte.  Ein 
starres  Gesetz  —  so  ist  die  übliche  Annahme  —  trat  in  dem  besonderen 
Falle  Galileis  jeder  schriftstellerischen  Äußerung  entgegen,  die  dem 
Verurteilten  des  Heihgen  Offiziums  Ehre  zu  erweisen  wagte.  Es  wu'd 
hier  darzulegen  sein,  daß  die  geschichthch  bekannt  gewordenen  Tat- 
sachen diese  Ansicht  der  Dinge  nur  in  beschränktem  Maße  recht- 
fertigen. 

Als  Gesetz  und  Regel  wird  in  wohl  autorisierten  Schriften  aus 
den  letzten  Jahren  des  16.  Jahrhunderts  hingestellt,  daß  die  Namen 
derjenigen,  die  sich  der  Haeresie  schuldig  gemacht,  der  Dunkelheit 
und  Vergessenheit  verfallen  sollen,  daß  aus  den  Schriften,  die  sie 
nennen,  die  ehrenden  Epitheta  und  alles,  was  zu  ihrem  Lobe  gesagt 
ist,  zu  tilgen  seien.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  wenigstens 
vereinzelte  Inquisitoren  dieser  Regel  gemäß  auch  Galilei  gegenüber 
verfahren  zu  müssen  glaubten.  Noch  seinen  letzten  Lebensjahren 
gehören  die  Mtteilungen  über  zwei  Fälle  an,  in  denen  die  Vertreter 
der  Inquisition  sich  rühmenden  Wendungen  widersetzten,  bei  denen 
eine  Beziehung  auf  die  Dinge,  die  man  Galilei  zum  Vorwurf  machte, 
in  keiner  Weise  in  Frage  kam. 

In  einer  Denkrede,  die  der  Franzose  Bouchard  im  Auftrage  des 
Kardinals  Barberini  zu  Ehren  des  1637  verstorbenen  Peiresc  gehalten, 
hatte  er  Galileis  in  rühmenden  Worten  gedacht.  Castelli,  der  Galilei 
darüber  berichtete,  war  durch  die  starken  Ausdrücke  des  Redners 
überrascht;  aber  der  Palastmeister  des  Heiligen  Offiziums  (der  aus 
Galileis  Lebensgeschichte  bekannte  Padre  Moströ)  fand  für  den  Ab- 
druck unzulässig,  was  beim  mündlichen  Vortrag  nicht  zu  verhindern 
gewesen  war;  „er  will  nicht",  schrieb  Bouchard  entrüstet  an  Vicenzo 
Capponi,  „daß  ich  irgendeinen  Haeretiker  gelehrt  nenne,  nicht  einmal 


—     214     — 

den  de  Thou,  und  besonders  nicht  Galilei";  nur  das  Verdienst  der 
teleskopischen  Entdeckungen  glaubte  der  römische  Zensor  Galilei 
zugestehen  zu  dürfen.  So  strich  er  den  „Ersten  der  Mathematiker" 
und  ließ  dafür  den  französischen  Redner,  den  „scharfen  und  wahrhaft 
hellsehenden  Beobachter  der  oberen  und  himmlischen  Dinge"  an- 
erkennen.^ 

Einige  Jahre  später  hatte  der  Pisaner  Professor  Paganino  Gau- 
denzio  in  einer  Schrift  „über  die  Seelenwanderung  nach  Pythagoras" 
Galileis  gedacht  und  ihn  dabei  den  hochberühmten  genannt;  der 
Inquisitor  widersprach,  und  Gaudenzio  erlangte  mit  Mühe  die  Er- 
laubnis, von  dem  „allgemein  bekannten"  Manne  (notissimo)  zu 
reden.2 

Daß  ähnliche  Fälle  kleinlicher  Korrekturen  auch  sonst  noch  vor- 
gekommen sind,  ohne  wie  die  erwähnten  von  eifrigen  Anhängern 
Galileis  lebhaft  erörtert  und  dadurch  der  Nachwelt  erhalten  zu  werden, 
ist  als  wahrscheinlich  anzusehen ;  auch  wird  durch  einen  glaubwürdigen 
Berichterstatter  mitgeteilt,  daß  der  Nachfolger  des  Padre  Moströ  in 
der  Würde  eines  Palastmeisters  des  Heiligen  Offiziums  selbst  einfachen 
Zitaten  aus  Galileis  Schriften  gegenüber  sich  abweisend  verhalten 
habe.  Dennoch  ist  die  Annahme,  daß  in  der  Regel  dem  angeführten 
Grundsatze  gemäß  die  Zensur  gegen  Äußerungen  über  Galilei  und 
Zitate  aus  seinen  Werken  geübt  sei,  als  keineswegs  zutreffend  zu 
bezeichnen.  Über  die  An>Tendbarkeit  einer  für  Haeretiker  berechneten 
Vorschrift  auf  Verurteilte,  die  x^de  Galilei  der  Haeresie  nicht  geständig 
waren,  sondern  nur  als  schwer  verdächtig  abgeschworen  hatten, 
bestanden  —  wie  die  früher  erwähnten  Gutachten  beweisen  — 
Meinungsverschiedenheiten;  im  einzelnen  Falle  lag  daher  —  so  lange 
nicht  ein  römisches  Machtwort  den  Zweifel  ausschloß  —  die  Ent- 
scheidung in  der  Hand  des  Zensors;  größere  oder  geringere  Strenge 
der  Auffassung,  aber  auch  zufällige  Umstände,  persönliche  Bezie- 
hungen, Neigungen  und  Abneigungen  konnten  dabei  ihren  Einfluß 
üben;  ein  Inquisitor,  dessen  Denken  über  die  Fragen  der  Wissen- 
schaft in  den  Schranken  der  aristotelischen  Physik  befangen  war, 
urteilte  auch  als  Zensor  anders  als  der  Jünger  der  neuen  physiko- 
mathematischen  Schule.    So  erklärt  sich,  daß  man,  das  Einzelne  ins 

^  Vergl.  A.  Favaro,  Spigolature  Galileiane  dalla  Autografoteca  Campori 
in  Modena.     Modena  1882  p.  27  und  Ed.  Naz.  XVIII  p.  299  u.  367. 
2  Ed.  Naz.  XVIII  p.  304. 


—     215     — 

Auge  fassend,  die  Inquisition  bald  eines  beispiellos  barbarischen  Ver- 
fahrens gegen  Galileis  Andenken  geziehen,  bald  über  jeden  Tadel 
erhaben  gefunden  hat. 

Verweist  man,  wie  es  geschehen  ist,  zum  Beleg  für  die  letztere 
Ansicht  auf  anerkennende  Worte,  die  sich  in  nicht  wenigen  Werken 
gelehrter  Jesuiten  und  anderer  auf  gegnerischem  Boden  stehender 
Schriftsteller  finden,  so  ist  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  diesen  gegen- 
über die  Zensur  von  vornherein  eine  andere  Stellung  einnahm;  von 
demselben  Palastmeister  des  Heiligen  Offiziums,  der  Zitate  strich, 
nur  weil  sie  Galileis  Schriften  entnommen  waren,  wd  uns  mitgeteilt, 
daß  er  für  Schriften  des  Pater  Kircher  die  Erlaubnis  erteilte,  ohne 
sie  anzusehen.^ 

Aber  die  Erlaubnis  der  Inquisition  erlangte  auch  der  Buchhändler 
Carlo  Manolessi  in  Bologna  für  die  von  ihm  in  den  Jahren  1655  und 
1656  veranstaltete  Gesamtausgabe  der  Werke  Galileis.  Die  Sammlung 
ist  unvollständig,  die  äußere  Ausstattung  der  beiden  Bände  läßt  zu 
wünschen  übrig;  aber  an  offener  und  warmer  Kundgebung  der  Ver- 
ehrung für  Galilei  kann  diese  erste  Ausgabe  mit  jeder  späteren  wett- 
eifern. Die  Widmung  an  den  Großherzog  Ferdinand  und  das  Vor- 
wort an  den  Leser  verherrhchen  ihn  in  Ausdrücken,  wie  sie  zu  keiner 
Zeit  volltönender  zu  seinem  Ruhme  gesprochen  worden  sind.  Als 
ob  es  keine  Rücksichten  zu  achten  gäbe,  redet  der  Herausgeber  von 
den  ruchlosen  Verfolgern,  „denen  zum  Trotz  ein  immer  höherer, 
glorreicherer  Ruf  dem  Namen  und  den  Werken  unseres  großen  Galilei 
zuteil  wird".  Den  Vorreden  schließt  sich  eine  Votivtafel  an,  die  in 
schwülstigem  Latein  Galileis  Entdeckungen  in  den  Himmel  erhebt. 
Zu  vollster  Bestätigung  aller  hohen  Worte  folgt  das  Gedicht,  durch 
das  vor  Zeiten  auch  Kardinal  Maffeo  Barberini,  der  spätere  Papst 
Urban,  dem  Entdecker  der  Mediceischen  Planeten  und  der  Sonnen- 
flecken seine  Huldigung  dargebracht  hatte,  mit  den  Versen  das  über- 
aus freundschafthche  Schreiben  des  Kardinals,  in  dessen  Begleitung 
er  sie  Galilei  übersandt  hatte.  Aber  auch  alles,  was  früheren  Ausgaben 
der  einzelnen  Werke  an  rühmenden  Worten  in  Prosa  und  Poesie 
vorausgeschickt  war,  ist  in  die  Gesamtausgabe  von  neuem  auf- 
genommen. 

^  Nach  einem  Brief  des  Jesuitenpaters  Baldigiani  an  Vincenzio  Viviani 
vom  Jahre  1678.  Vergl.  Favaro  Miscellanea  Galileiana  inedita,  Venezia  1887 
p.  143. 


—     216     — 

Der  Veröffentlichung  dieser  ersten  Gesamtausgabe  sind  aller- 
dings Verhandlungen  mit  der  Inquisition  vorausgegangen;  aber  die 
Bedenken,  die  man  in  Bologna  und  Eom  erhob,  bezogen  sich  wesent- 
lich auf  den  Abdruck  solcher  Schriften  —  teils  im  Manuskript  be- 
wahrter, teils  früher  gedruckter  —  ,die  ihrem  Inhalte  nach  als  völhg 
unvereinbar  mit  den  Dekreten  gegen  die  copernicanische  Lehre 
betrachtet  werden  mußten.  An  die  „Dialoge"  freihch  wagte  Manolessi 
nicht  zu  denken,  dagegen  wünschte  er  unter  anderm  Keplers  „Disser- 
tatio  cum  nuncio  sidereo",  an  geeigneter  Stelle  einzuschalten,  in  der, 
wie  wii-  gesehen,  die  Bedeutung  der  ersten  teleskopischen  Ent- 
deckungen als  Bestätigung  der  copernicanischen  Lehre  nachdrücklich 
hervorgehoben  und  erläutert  wird.  Als  der  Inquisitor  von  Bologna 
seine  Zustimmung  verweigerte,  übersandte  Manolessi,  um  nichts  un- 
versucht zu  lassen,  die  Schrift  dem  Palastmeister  und  dem  General- 
konmiissar  der  Inquisition  in  Rom  und  bat  alsdann  den  Prinzen 
Leopold  von  Medici,  durch  den  Toscanischen  Residenten  oder  einen 
der  Kardinäle  aus  dem  Hause  Medici  seinen  Einfluß  zugunsten  der 
gewünschten  Entscheidung  zur  Geltung  zu  bringen.  Es  scheint,  daß 
nach  einiger  Zeit  der  Kardinal  Johann  Karl  von  Medici  Schritte  in 
diesem  Simie  getan  hat;  sie  mußten  vergeblich  bleiben,  wo  es  sich 
um  die  Aufnahme  einer  Schrift  handelte,  deren  Inhalt  bestimmten 
kirchlichen  Verordnungen  zuwiderlief. 

Kicht  beabsichtigter  Duldung,  sondern  nur  dem  Zufall  ungenauer 
Prüfung  wird  man  es  zuzuschreiben  haben,  wenn  den  Dekreten  zum 
Trotz  auch  in  dem  neuen  Abdruck  des  Kundus  sidereus  und  den 
Briefen  verwandten  Inhalts  Wendungen  stehen  geblieben  sind,  die 
den  festen  Glauben  an  die  Bewegung  der  Erde  verraten.  Wie  in  der 
Editio  princeps  ruft  auch  in  der  Ausgabe  von  Bologna  der  Verfasser 
der  „Botschaft  von  den  Sternen"  zuversichtlich  aus:  „ja,  sie  bewegt 
sich,  das  werde  ich  mit  tausend  Gründen  beweisen."  Dagegen  ent- 
gingen den  Bücken  des  Zensors  nicht  die  Sätze  am  Schlüsse  der  Briefe 
über  die  Sonnenflecken,  die  dem  gleichen  Glauben  an  den  baldigen 
Triumph  der  copernicanischen  Lehre  kräftigsten  Ausdruck  verleihen. 
Offenbar  handelt  es  sich  um  diese,  wenn  Manolessi  nach  Florenz 
berichtet:  es  sei  ihm  von  den  Oberen  nichts  gestrichen,  nur  in  den 
Sonnenfleckenbriefen  habe  man  ungefähr  20  Zeilen  am  Ende  des 
Werks  beseitigt.  Daß  diese  Zeilen  den  Gegenstand  weiterer  Ver- 
handlungen gebildet  haben,  ist  den  erhaltenen  Briefen  des  Heraus- 


—     217     — 

gebers  nicht  zu  cntnehnif  n.  Sc  muß  dahin  gestellt  bleiben,  ob  hier 
Manolessi  gewagt  hat,  um  Galileis  willen  ungehorsam  zu  sein,  ob 
andere  Ursachen  die  Anordnung  des  Zensors  unwirksam  gemacht 
haben.  Tatsächlich  blieb  sie  unausgeführt;  denn  im  gleichen  Wort- 
laut wie  in  allen  übrigen  Ausgaben  der  Sonnenflecken-Briefe  liest 
man  in  der  von  Bologna  auf  der  letzten  Seite  von  dem  „leuchtenden 
Geleit,  um  dessentwillen  für  das  große  copernicanische  System  fortan 
weder  Finsternis  noch  widrige  Winde  zu  fürchten"  seien. 

Xeben  derartigen  Einzelheiten  in  den  älteren  bereits  gech-uckten 
Werken  scheint  vorübergehend  auch  die  Aufnahme  einiger  bis  dahin 
nicht  gedruckter  Schriften  in  die  Ausgabe  von  Bologna  vom  Inqui- 
sitor in  Frage  gestellt  zu  sein^;  was  immer  seine  Gründe  gewesen 
sein  mögen,  er  hat  sich  überzeugen  oder  überreden  lassen:  keine 
dieser  Schriften  blieb  von  der  Gesamtausgabe  ausgeschlossen. 

So  rufen  die  uns  vorliegenden  Berichte  des  Herausgebers  ins- 
gesamt den  Eindruck  hervor,  daß  ihm  von  selten  der  Inquisition  zwar 
die  Erfüllung  seiner  Aufgabe  nicht  eben  erleichtert  worden,  daß  aber 
doch  weder  der  Plan  einer  Sammlung  der  Werke  Galileis,  der  an  sich 
eine  Ehrenbezeugung  bedeutete,  auf  grundsätzliche  Bedenken  stieß, 
noch  die  uneingeschränkt  rühmenden  Äußerungen  in  allen  Teilen 
der  beiden  Bände  zum  Widerspruch  Veranlassung  gaben.  Auch  ohne 
den  Kommentar  dieser  handschriftlichen  Erläuterungen  gewährt  die 
Tatsache,  daß  ein  solches  Werk  mit  allen  erforderlichen  Erlaubnissen 
fast  unter  den  Augen  der  Heiligen  Kongregation  gedruckt  worden  ist, 
einen  entscheidenden  Beweis  dafür,  daß  allgemein  geltende  Vor- 
schriften der  kirchhchen  Behörden  der  geziemenden  Äußenmg  über 
Galileis  Verdienste  nicht  entgegenstanden. 

Man  hat  deshalb  auch  keinen  Grund,  zu  vermuten,  daß  etwa 
erst  durch  die  bessernde  Hand  eines  Inquisitors  aus  den  Entwürfen 
zur  VeröffentUchung  der  Akademie  del  Cimento  die  Dankbarkeit 
gegen  Galilei  spurlos  getilgt  sein  möge.  Aber  selbst  wenn  in  dieser 
Beziehung  bekannt  werden  sollte,  was  bisher  kein  zeitgenössisches 
Zeugnis  auch  nur  andeutet  —  es  würde  deshalb  nicht  minder  durch 
die  große  Lücke  in  dem  „goldenen  Buch  der  Experimentalforschung" 
(wie  itahenische  Gelehrte  die  „Saggi"  genannt  haben),  für  alle  Zeiten 


^  Brief  Manolessis  an  Viviani  vom  29.  Mai  1655  cf.  Favaro  Documenti 
inediti,  p.  87. 


—     218     — 

das  Maß  der  Geistesfreiheit  in  dem  Kreise  Ferdinands  und  Leopolds 
von  Toscana  bedeutsam  gekennzeichnet  sein;  denn  nur  vermöge  der 
traditionellen  Willfährigkeit  der  Regierenden  konnte  die  Inquisition 
in  Toscana  die  Macht  erlangen,  zu  fordern,  was  hier  geschehen  ist, 
nur  mit  ihrer  Zustimmung  diese  Forderung  einem  Werke  gegenüber 
zur  Geltung  bringen,  an  dem  das  großherzogliche  Haus  den  unmittel- 
barsten Anteil  hatte. 

Was  in  der  hier  berührten  Beziehung  die  Veröffentüchungen  des 
17.  Jahrhunderts  fast  nur  durch  Unterlassungen  verraten,  haben 
handschiifthch  erhaltene  Aufzeichnungen  mannigfaltig  bestätigt,  ver- 
deutlicht und  ergänzt.  Es  sind  vor  allem  der  Briefwechsel  und  die 
Schriften  des  Mathematikers  Vincenzio  Viviani,  die  uns  in  einer  Folge 
lebhaftester  Bemühungen,  Galilei  zu  ehren,  ohne  sich  mit  der  Kirche 
und  der  Inquisition  in  Widerspruch  zu  setzen,  den  Geist  des  Zeit- 
alters vergegenwärtigen. 

Kaum  zwanzigjährig  beim  Tode  des  großen  Lehrers,  hatte 
Viviani  in  den  Jahren,  die  er  im  steten  Verkehr  mit  ihm  verleben 
durfte,  für  ein  langes  Leben  unauslöschhche  Eindrücke  in  überwältigen- 
der Fülle  empfangen.  So  hat  er  zeitlebens  Galilei  als  seinen  Wohltäter 
verehrt;  keine  Pflicht  schien  ihm  höher  zu  stehen  als  die,  für  das 
Glück,  das  ihm  als  dem  letzten  Schüler  eines  solchen  Mannes  zuteil 
geworden  war,  sich  dankbar  zu  beweisen.  In  dieser  Gesinnung  ist 
er  den  Angehörigen  des  Meisters  von  dessen  letzter  Stunde  an  der 
treueste  Helfer  und  Berater  gewesen;  zu  ihm,  dem  jüngeren  Manne 
kommt  vertrauensvoll  in  jeder  Lebenslage  der  Sohn  Vincenzio  und 
nach  dessen  frühem  Tode  die  Witwe  mit  den  unmündigen  Kindern; 
er  ist  es,  der  in  späteren  Jahren  zwischen  ihr  und  den  Kindern  ver- 
mittelt, und  in  gleicher  Weise  ist  er  bis  ins  dritte  Geschlecht  für  aUe, 
die  den  Namen  Galilei  trugen,  soweit  sein  Können  reicht,  der  immer 
hilfreiche  Freund  und  Beschützer  gebheben. 

In  höherem  Grade  noch  galt  seine  Sorge  viele  Jahre  hindurch 
der  Sammlung  und  Bewahrung  der  geistigen  Hinterlassenschaft 
Galileis;  seinen  ausdauernden  Bemühungen  verdankt  man  zum  nicht 
geringen  Teil  die  Erhaltimg  der  ungedruckten  Schi'iften  aus  den 
Zeiten  der  Pisaner  und  der  Paduaner  Professur,  der  Bruchstücke 
unvollendeter  Werke  und  kürzerer  Aufzeichnungen  aus  den  letzten 
Lebensjahren,  der  zahlreichen  mit  kritischen  Randglossen  von  der  Hand 
des  Meisters  versehenen  Bücher  und  des  umfassenden  Briefwechsels. 


—     219     — 

Den  gleichen  Eifer  verwandte  Viviani  auf  die  Gewinnung  der 
Materialien  für  eine  möglichst  vollständige  und  zuverlässige  Lebens- 
beschreibung. 

In  allen  diesen  Beziehungen  fand  er  die  wirksamste  Unter- 
stützung in  der  übereinstimmenden  Gesinnung  des  Prinzen  Leopold 
von  Medici;  bereit^\^Iligst  stellte  dieser  seinen  weitreichenden  Einfluß 
zur  Verfügung,  um  herbeizuschaffen,  was  für  das  gemeinsam  ver- 
folgte Ziel  —  den  Ruhm  und  die  Ehre  Galileis  —  erforderlich  schien. 

Was  beide  Männer  erstrebten,  war  seiner  Bedeutimg  nach  —  das 
wußten  sie  —  nicht  auf  die  Grenzen  Toskanas  oder  Italiens  und  nicht 
auf  die  Periode  der  lebenden  Generation  beschränkt;  aber  in  der  Ver- 
wirkhchung  ihrer  Aufgabe  sahen  sie  sich  an  die  Bedingungen  gebunden, 
die  für  die  Staaten  des  Großherzogs  unter  einer  Rom  bhndlings 
gehorchenden  Regierung  sich  aus  den  römischen  Dekreten  ergaben. 

Viviani  hat  es  möglich  gefunden,  im  Jahre  1654  auf  Veranlassung 
des  Prinzen  Leopold  den  Entwiirf  einer  Lebensbeschreibung  Galileis 
niederzuschreiben,  der  wenigstens  in  der  Erörterung  der  Beziehungen 
zu  Copernicus  diesen  Bedingungen  genügte;  nicht  verschwiegen  ist 
hier,  daß  Galilei  sich  viele  Jahre  hindurch  mit  der  Lehre  des  Copernicus 
beschäftigt,  sie  während  längerer  Zeit  für  wahr  gehalten  hat;  aber 
aus  dem  Gedanken,  der  sein  Leben  durchdringt,  seiner  Forschungen 
Seele  und  Mittelpunkt  bildet,  ist  etwas  Nebensächhches  geworden, 
das  zusammenhangslos  und  zufällig  in  seinen  Lebensgang  eingreift. 
Die  teleskopischen  Entdeclmngen  werden  aufgezählt,  aber  was  sie 
für  Galilei  als  Zeugnisse  für  die  Wahrheit  der  neuen  Weltanschauung 
bedeuteten,  bleibt  ungesagt,  Mt  völHgem  Stillschweigen  ist  über- 
gangen, was  als  unmittelbare  Folge  an  diese  Entdeckungen  sich  knüpft, 
die  Geschichte  der  Jahre  1613  bis  1616,  in  denen  che  Entscheidung 
gegen  Copernicus  sich  vorbereitet  und  der  tiefgreifende  Anteil  Galileis 
an  den  Vorgängen,  die  zu  dieser  Entscheidung  führen. 

In  ähnhcher  Weise  von  den  „Dialogen"  und  der  Katastrophe 
von  1633,  von  den  Ereignissen,  die  jedermann  kannte,  schlechthin 
zu  schweigen,  war  weniger  leicht.  Viviani  entzog  sich  auch  hier  den 
Konsequenzen  seines  Unternehmens  nicht,  er  berichtete  in  der  Kürze 
über  die  Entstehung  und  den  Inhalt  der  „Dialoge"  und  fügt  hinzu, 
was  trotz  aller  Beschönigimg  seine  Übereinstimmung  mit  dem  Urteil 
der  Inquisition  außer  Frage  stellt.  „Nachdem  Galilei",  schreibt  er, 
„sich  durch  seine  wunderbaren  Gedanken  mit  unsterblichem  Ruhm 


—     220     — 

zum  Himmel  erhoben  und  durch  so  viele  neue  Entdeckungen  unter 
den  ]\Ieuschen  Göttliches  erreicht,  gestattete  die  ewige  Vorsehung, 
daß  er  seine  Menschlichkeit  durch  den  Irrtum  beweise,  indem  er  bei 
der  Erörterung  über  die  beiden  Systeme  sich  mehr  der  copernicanischen 
Hypothese  zugetan  bewies,  die  zuvor  als  der  götthchen  Schrift  mder- 
sprechend  von  der  heiligen  Kirche  verurteilt  worden  w^ar."  An  diese 
"Worte  schließt  sich  eine  kurze  Mitteilung  über  die  Vorladung  nach 
Rom  und  den  Prozeß,  dessen  Verlauf  und  Folgen  mit  einer  gewissen 
Zärtlichkeit  für  Galileis  Richter  geschildert  werden.  Es  verstellt 
sich,  daß  dabei  des  Widerrufs  Erwähnung  geschieht,  den  Galilei  als 
guter  Katholik  bereitwillig  ausgesprochen,  nachdem  er  über  seinen 
Irrtum  aufgeklärt  worden  war. 

Viviani  hielt  es  nicht  für  überflüssig,  jedem  Zweifel  an  der  Auf- 
richtigkeit dieses  Verzichts  ausdrücklich  zu  begegnen.  Er  gedenkt 
der  Übersetzungen  der  „Dialoge"  in  lateinischer  und  anderen  Sprachen, 
die  nach  dem  Verbot  des  Originals  im  Ausland  erschienen  waren, 
der  Veröffenthchung  des  Briefs  an  die  Großherzogin  Christina  in 
Holland,  aber  wie  es  scheint,  nur  um  von  der  tief  schmerzlichen  Er- 
regung zu  reden,  die  Galilei  empfunden  habe,  weil  ihm  auf  solche 
Weise  für  immer  die  MögHchkeit  genommen  war,  diese  Schriften  zu 
unterckücken.  Und  als  ob  auch  dieses  Bekenntnis  noch  nicht  genügen- 
den Aufschluß  über  seine  Gesinnungen  gewährte,  berichtet  Viviani 
weiter,  vde  es  ihm  am  Herzen  gelegen,  für  die  Befreiung  aus  so  schwerem 
L-rtum  nicht  undankbar  zu  erscheinen;  nicht  besser  aber  habe. er  für 
diese  heilbringende  Wohltat  der  unendlichen  Vorsehung  seinen  Dank 
darbringen  zu  können  gemeint,  als  indem  er  fortfuhr,  Erfindungen 
von  höchster  Bedeutung  ins  Werk  zu  setzen;  in  solcher  Denkweise 
habe  er  im  Jahre  1636  den  Entschluß  gefaßt,  den  holländischen 
Generalstaaten  sein  Verfahren  zur  Bestimmung  der  geographischen 
Länge  anzubieten. 

Das  war,  was  Viviani  über  den  „großen  Fall"  zu  berichten  hatte, 
dessen  wahre  Geschichte  die  Welt  von  ihm  zu  erfahren  hoffte.  Es 
w^ar  —  wie  sicherhch  er  selbst  am  besten  wußte  —  nichts  weniger  als 
die  wahre  Geschichte.  Höher  als  die  Pflicht  geschichthcher  Treue, 
als  selbst  die  Sorge  um  das  Urteil  der  unbefangenen  Nachwelt,  stand 
dem  treuen  Anhänger  das  Verlangen,  Galileis  Andenken  von  dem 
Banne  zu  befreien,  der  auf  ihm  in  den  Augen  der  Gläubigen  lastete. 
Dafür  genügte  es  nicht,  nur  zu  verschweigen,  was  wahrheitsgemäß 


—     221     — 

nicht  auszusprechen  gestattet  war;  es  galt,  in  nach di'ucks voller  Ab- 
wehr den  dunklen  Vorstellungen  von  Mißachtung  der  kirchlichen 
Lehre  und  der  Kirche  entgegenzutreten,  die  naturgemäß  sich  mit 
dem  strafenden  Urteil  des  Ketzergerichts  verknüpften,  um  so  gewisser, 
je  weniger  die  besondere  Irrlehre,  die  das  Urteil  nannte,  dem  Ver- 
ständnis der  gläubigen  Menge  zugänghch  war.  Darum  mußte  in 
Vivianis  Schilderung  an  die  Stelle  des  trostlos  düsteren  Bildes,  in 
dem  uns  der  Gefangene  von  Arcetri  erscheint,  die  freundliche  Helle 
eines  von  wahrer  Frömmigkeit  durchleuchteten  Lebensabends  treten, 
darum  statt  der  quälenden  Gewißheit,  daß  durch  den  Bann  der 
Kirche  Wissenschaft  und  Wahrheit  unterdrückt  war,  tief  empfundener 
Dank  für  die  Befreiung  aus  schwerem  Irrtum  das  Gemüt  des  Sterben- 
den erfüllen. 

Mit  all  diesen  frommen  Wendungen,  wohlberechneten  Zutaten 
und  Auslassungen  ist  Vivianis  Biographie,  die  einzige  nennenswerte 
aus  dem  17.  Jahrhundert,  bis  ins  18.  ungedruckt  gebheben.  Der 
Verfasser,  der  sie  als  junger  Mann  geschrieben  hat  und  in  hohem 
Alter  gestorben  ist,  hat  ihre  Veröffentlichung  nicht  erlebt.  Weshalb 
sie  unterbheben,  ist  nicht  völlig  aufgeklärt,  doch  kann  ein  Zweifel 
darüber  kaum  bestehen,  daß  in  den  mannigfachen  Hindernissen,  an 
denen  Vivianis  Hingebung  scheiterte,  den  eigenthchen  Kern  die 
Ungunst  der  öffentlichen  Verhältnisse  in  Toskana  bildete.  Eine 
Verherrhchung  Galileis,  wie  sie  Vivianis  Darstellung  trotz  aller  Rück- 
sichten gegen  die  Kirche  in  vollem  Maße  darbot,  erschien  naturgemäß 
wie  ein  Widerspruch  gegen  die  Entscheidung,  die  dem  Toten  noch 
immer  die  übHchen  Ehren  versagte,  und  der  Billigung  derselben 
geistlichen  Gewalt,  die  diese  Entscheidung  aufrecht  erhielt,  hätte  es 
für  eine  VeröffentUchung  in  Florenz  bedurft. 

Es  ist  nicht  bekannt,  daß  die  Erlaubnis  zum  Druck  der  Viviani- 
schen  Lobrede  von  der  Inquisition  verweigert  worden,  aber  dieselbe 
Wirkung  \\ie  das  ausgesprochene  Nein  des  Heiligen  Offiziums  übte 
in  jenen  Tagen,  zumal  in  furchtsamen  Geistern,  schon  die  Scheu, 
sich  der  Versagung  auszusetzen  und  dabei  zugleich  der  Verteidigung 
einer  unerlaubten  Richtung  der  Gedanken  verdächtig  zu  erscheinen. 

Gegen  diese  vor  Augen  liegende  Gefahr  gewährte  die  Gunst  des 
Hofes  keinen  Schutz.  So  gewiß  sowohl  der  regierende  Großherzog 
Ferdinand  IL,  wie  Prinz  Leopold  zeitlebens  allem,  was  Galilei  betraf, 
lebhaften  Anteil  schenkten,  so  ist  doch  der  feindlichen  Macht  gegen- 


—     222     — 

über,  die  sein  Andenken  unterdrückte,  diese  Gesinnung  fast  völlig 
wirkungslos  geblieben.  Wie  nach  der  Heimkehr  Galileis  im  Dezember 
des  Jahres  1633  der  jugendliche  Großherzog  voll  wärmsten  Mitgefühls 
fast  insgeheim  den  Verurteilten  der  Inquisition  auf  seinem  Landsitz 
zu  Arcetri  aufsuchte,  um  ihn  seiner  unveränderten  Gunst  zu  ver- 
sichern, und  wie  derselbe  Fürst  dann  doch  acht  Jahre  lang  wider- 
spruchslos ertnig,  daß  unter  seinen  Augen  der  Größte  seiner  Unter- 
tanen von  einer  fremden  despotischen  Gewalt  als  Gefangener  im 
eigenen  Hause  behandelt  wurde,  so  war  auch  jetzt  am  Hofe  von 
Florenz  die  persönhche  Sympathie  für  den  Toten  im  vollen  Maße  vor- 
handen, es  fehlte  nicht  die  aufrichtige  Neigung,  sie  der  Außenwelt 
kund  zu  tun,  aber  als  ausgeschlossen  und  undenkbar  erschien  eine 
Betätigung,  die  zum  Konflikt  mit  den  kirchlichen  Behörden  führen 
oder  auch  nm*  auf  deren  BeifaU  mutmaßlich  nicht  rechnen  durfte. 

Was  in  dieser  Beziehung  bei  den  Regierenden  mit  politischen 
Grundsätzen  wenigstens  zusammenhing,  entsprach  bei  dem  Mathe- 
matiker des  Großherzogs,  sofern  nicht  für  ihn  bereits  entscheidend 
war,  wie  man  bei  Hofe  dachte,  einem  Mangel  an  morahschem  Mut. 
Statt  entschlossen  im  freieren  Ausland  zur  Ausführung  zu  bringen, 
was  in  Florenz  nicht  gestattet  war,  ist  Viviani  über  den  unlöshchen 
Widerspruch  nicht  hinausgekommen,  das  Unerlaubte  nur  auf  er- 
laubten Wegen  unternehmen  zu  wollen.  Nicht  in  sich  selbst,  in  dem 
starken  Antrieb  der  unerfüllten  Pflicht  findet  er  Kraft  und  Ent- 
schluß, sie  trotz  aller  Hindernisse  zu  erfüllen;  von  dem  Einfluß, fürst- 
licher Gönner,  von  wolilwollenden  Zensoren,  von  größerer  Duldsam- 
keit der  römischen  Machthaber  erhofft  er  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt 
die  veränderte  Gestaltung  der  Verhältnisse,  die  Beseitigung  der 
Hindernisse;  immer  von  neuem  sieht  er  den  ersehnten  besseren  Tag 
ganz  nahe  vor  Augen,  und  immer  von  neuem  zerfließt  ihm  die 
täuschende  Aussicht. 

Viele  Jahre  hindurch  hat  ihn  der  Plan  einer  Gesamtausgabe  der 
Galileischen  Schriften  beschäftigt.  Die  von  Bologna,  die  unter  seiner 
und  des  Prinzen  Leopold  Mit^^irkung  zustande  gekommen  war, 
genügte  so  wenig  seinen  Ansprüchen,  daß  er,  noch  ehe  sie  vollendet 
war,  den  Freunden  von  der  besseren  redet,  für  die  gleichfalls  Prinz 
Leopold  mit  Freuden  seine  Mitwirkung  zugesagt  hatte.  Sie  sollte  in 
Folioformat  in  prächtigster  Ausstattung  erscheinen,  durchgehends  in 
zwei  Kolumnen  nebeneinander  der  italienische  Text  und  die  lateinische 


—     223     — 

Übersetzung;  an  der  Spitze  sollte  die  Lebensbeschreibung  stehen, 
den  früher  gedmcktcn  "Werken  alles  sich  anschließen,  was  an  un- 
gedruckten noch  vorhanden  war.^ 

Im  Namen  des  Großherzogs  erging  unter  andern  an  den  greisen 
Eho  Diodati  in  Paris  die  Aufforderung,  für  den  Zweck  der  Ver- 
öffentlichung auch  diejenigen  Briefe  Galileis  zur  Verfügung  zu  stellen, 
die  sich  auf  die  hoch\nchtigen  durch  ihn  vermittelten  Verhandlungen 
mit  den  holländischen  Generalstaaten  bezogen.  Die  Mitteilungen 
über  ein  Unternehmen  zu  Ehren  Galileis,  dem  so  hohe  Gönnerschaft 
und  dadurch  der  Erfolg  gesichert  schien,  erfüllte  den  trefflichen 
Mann,  der  in  seinem  80.  Jahr  Galilei  jugendliche  Verehrung  bewahrt 
hat,  mit  höchster  Begeisterung;  ohne  Zögern  entäußert  er  sich  um 
des  großen  Zweckes  ^^illen  der  Briefe,  die  er  bis  dahin  wie  ein  Heilig- 
tum gehegt;  nach  wenigen  Tagen  hatte  er  mit  der  holländischen  Korre- 
spondenz auch  alles  übrige,  was  von  Galileis  Hand  sich  in  seiner 
Bewahrung  befand,  dem  Florentiner  Residenten  übergeben.  Diodati 
sah  in  dem  großgedachten  Plan,  von  dem  man  ihm  berichtete,  den 
Beweis,  daß  Großherzog  Ferdinand,  wie  er  im.  Leben  Galilei  durch 
hohe  Gunst  geehrt,  nunmehr  auch  zu  seinem  ewigen  Ruhme  tätig  zu 
sein  ge^villt  war;  um  seine  Freude  und  seinen  Dank  zu  bekunden,  bot  er 
dem  Großherzog  zu  den  Briefen  das  Beste,  was  er  als  Geschenk  seines 
großen  Freundes  besaß,  dessen  von  Meisterhand  gefertigtes  vollkommen 
ähnhches  Bildnis;  er  weiß,  schreibt  er  dabei,  daß  der  Großherzog  das 
Bild  des  außerordentlichen  Mannes  ins  Herz  gemeißelt  trägt,  aber  er 
hofft,  es  werde  ihn  doch  freuen,  ihn  täglich  vor  Augen  sehen  zu  können. 

Die  freudige  Zuversicht,  mit  der  Diodati  das  Florentiner  Unter- 
nehmen begrüßte,  wurde  bald  genug  enttäuscht;  als  auf  die  Sendungen 
und  eine  Folge  von  Briefen  im  Verlauf  fast  eines  halben  Jahrs  aus 
Florenz  keine  Antwort  gekommen  ist,  schreibt  er  in  aufsteigender 
Bitterkeit  an  Viviani:  er  könne  sich  trotz  alledem  nicht  entschließen, 
zu  glauben,  daß,  wenn  etwa  inzmschen  die  Herstellung  der  Gesamt- 
ausgabe aufgegeben  sei,  Prinz  Leopold  ihn  dessen  berauben  wolle, 
was  er  vertrauensvoll  für  diesen  Zweck  gegeben  habe.^ 


^  Nach  Vivianis  Brief  vom  2.  Febr.  1657  an  Elio  Diodati,  abgedruckt 
in  A.  Favaro,  Documenti  inediti  per  Ja  Storia  dei  Manoscritti  GalUeiani. 
Roma  1886  p.  112. 

-  Brief  Diodatis  an  Viviani  vom  24.  Nov.  1656  in  Favaro,  Documenti 
inediti  p.  106. 


—     224     - 

Yiviani  antwortete  beruhigend:  Behinderung  durch  Krankheit 
und  Berufsgeschäfte  habe  ilin  selbst,  und  mit  ihm  seine  fürstlichen 
Gönner  undankbar  erscheinen  lassen ;  in  warmer  Schilderung  berichtet 
er  über  den  Eindruck,  den  der  Empfang  des  Porträts  bei  dem  Groß- 
herzog hervorgerufen,  und  verheißt  ein  persönliches  Dankschreiben; 
Prinz  Leopold  hat  ihn  beauftragt,  zu  versichern,  daß  er  bei  dem 
Gedanken  der  Herausgabe  sämtlicher  Werke  Galileis  in  glänzendster 
Ausstattung  fest  beharre.  Nur  die  Rücksicht  auf  das  kürzliche  Er- 
scheinen der  xVusgabe  von  Bologna  mache  ratsam,  mit  der  Ausführung 
wenigstens  ein  Jahr  zu  warten;  in  der  Zwischenzeit  können  die  Über- 
setzungen vollendet,  die  Lebensbeschreibung  ausgearbeitet,  die  Holz- 
schnitte gefertigt  und  das  Ganze  in  allen  Beziehungen  soweit  vorbereitet 
sein,  daß  alsdann  nichts  übrig  bleibe,  als  zum  Druck  zu  schreiten. ^ 

Fast  beschämt  durch  so  tröstliche,  zuversichthche  Worte  bittet 
Diodati,  ihm  die  Äußerungen  der  Ungeduld  zu  verzeihen.^  Aber  das 
Jahr  vergeht  und  ein  zweites  dazu,  ohne  daß  vom  Beginn  der  Ver- 
öffentlichung oder  des  Drucks  etwas  verlautet.  Es  waren  freilich 
die  Jahre,  in  denen  in  Florenz  die  Tätigkeit  der  Accademia  del  Cimento 
die  besten  Ki'äfte  in  Anspruch  nahm,  in  der  Wissenschaft  wie  im 
praktischen  Leben  die  mannigfaltigsten  Aufgaben  vor  allem  Viviani 
und  den  Prinzen  Leopold  beschäftigten.  Diodati  aber  faßt  nicht, 
daß  es  Wichtigeres  geben  könne,  als  Gahleis  zu  gedenken;  er  begreift 
keine  andere  Ursache  des  Schweigens,  als  daß  die  Pläne  zunichte 
geworden  sind.  „Nicht  mich  allein",  schreibt  er  an  Viviani,  „un- 
zähhge  andere  Menschen  mit  mir,  die  nach  dem  Schatz  dieser  Werke 
verlangen,  wird  das  Scheitern  des  Unternehmens  tief  bekümmern. "^ 

Wiederum  vergehen  zwei  Jahre,  dem  nunmehr  85  jährigen 
Diodati  läßt  es  keine  Ruhe,  zum  letzten  Male  richtet  er  sein  mahnen- 
des Wort  nach  Florenz,  in  umständHcher  Wiederholung  ruft  er  dem 
Prinzen  Leopold  den  Wortlaut  der  Versprechungen  ins  Gedächtnis, 
mit  denen  man  ihn  verlockt  hat,  sich  des  lange  gehüteten  Schatzes 
zu  berauben;  inständig  bittet  er,  ihm  wahrheitsgemäß  zu  sagen,  wie 
es  nunmehr  mit  den  Vorbereitungen  für  die  Verwirklichung  stehe.^ 


^  Briefe  Vivianis  an  Diodati  vom  4.  Dez.   1656  und  2.  Febr.  1657  bei 
Favaro.  Documenti  inediti  p.  107 — 112. 

-  Brief  vom  2.  Febr.  1657  bei  Favaro  a.  a.  O.  p.  113. 

^  Brief  Diodatis  an  Viviani  vom  2.  Mai  1658  bei  Favaro  a.  a.  O.  p.  115. 

*  Brief  Diodatis  an  Viviani  vom  4.  Sept.  1660  bei  Favaro  a.  a.  O.  p.  118. 


—     225     — 

Von  neuem  wiederholt  ihm  Viviani,  daß  die  Absichten  unver- 
ändert fortbestehen;  mit  mancherlei  Gründen  sucht  er  die  Ver- 
zögerung zu  erklären,  nur  mit  einem  Worte  deutet  er  dabei  an,,  daß 
neben  denen,  die  er  nennt,  auch  solche  wirken,  die  ihm  zu  bezeichnen 
nicht  gestattet  ist;  aber  auch  jetzt  noch  hält  er  die  Hindernisse  für 
bedeutungslos  und  vorübergehend;  mit  verheißungsvollen  Worten 
sucht  er  Diodatis  Befürchtungen  zu  besch\\ichtigen :  er  möge  über- 
zeugt sein,  daß  er  um  die  Frucht  seiner  Bereit wilhgkeit  und  Frei- 
gebigkeit nicht  betrogen  werden  könne;  dafür  sei  er  selbst  (Viviani) 
ein  allzugroßer  Anhänger  des  großen,  von  ihm  wahrhaft  angebeteten 
Mannes;  auch  Prinz  Leopold,  der  für  die  Wissenschaften  wahrhaft 
schwärme  und  vor  allem  von  höchstem  Eifer  für  den  Ruf  und  den 
Ruhm  Galileis  beseelt  sei,  bedürfe  nicht  des  Antriebs.^ 

Die  gleichen  Versicherungen  mußte  einige  Monate  später  der  nach 
Paris  entsandte  Sekretär  des  toskanischen  Residenten  Diodati  münd- 
lich wiederholen;  Prinz  Leopold,  ließ  Viviani  hinzufügen,  sei  nun- 
mehr der  Sorge  für  die  Festlichkeiten  bei  Gelegenheit  der  Vermählung 
des  Erbprinzen  und  für  andere  Dinge  überhoben,  er  habe  von  neuem 
begonnen,  sich  mit  der  Sache  zu  beschäftigen,  und  Viviani  werde 
nicht  ermangeln,  ihn  warm  dabei  zu  halten,  bis  das  Unternehmen 
zum  Ende  geführt  sei.'^ 

Daß  nach  fünfjährigem  vergeblichen  Harren  Diodati  imstande 
gewesen  ist,  an  die  Muße,  deren  Prinz  Leopold  nach  den  großen 
Lasten  des  Sommers  1661  sich  erfreuen  würde,  neue  Hoffnungen  zu 
knüpfen,  ist  nicht  leicht  zu  glauben.  Aber  seiner  Mahnung  folgte 
keine  weitere.  Er  starb  als  86  jähriger  Greis  im  Dezember  desselben 
Jahrs,  ohne  den  Anfang  einer  Verwirklichung  der  Florentiner  Ver- 
heißungen erlebt  zu  haben.  Von  der  großen  neuen  Ausgabe  der 
Gahleischen  Werke  ist  nach  seinem  Tode  in  den  Briefen  Vivianis, 
wie  in  denen  des  Prinzen  Leopold,  soweit  dieselben  bisher  bekannt 
geworden,  nicht  mehr  die  Rede. 

Erhalten  ist  die  Übersicht  über  den  Inhalt  der  4  Bände,  die 
nach  Vivianis  Plan  seine  Ausgabe  umfassen  sollte;  sie  gestattet 
wenigstens  eine  Mutmaßung  auch  über  diejenigen  Hindernisse  des 
Unternehmens,  von  denen,  wie  Viviani  andeutet,  ihm  zu  reden  nicht 


^  Brief  Vivianis  an  Diodati  vom  8.  Febr.  1661  bei  Favaro  a.  a.  0.  p.  119. 
-  Nach  Favaro  a.  a.  O.  p.  29. 
Wohlwill,  Galilei.    II.  15 


—     226     — 

erlaubt  war.  Als  Inhalt  des  dritten  Bandes  wird:  „Verdächtiges  und 
Verbotenes"  bezeichnet.  Die  „Dialoge"  und  die  Briefe  über  die 
copernicanische  Lehre  aus  den  Jahren  1613—16  sollten  also  nicht 
fehlen.  Ohne  Zweifel  wäre  ohne  diese  Schriften  eine  Ausgabe  der 
Galilei  sehen  Werke  keine  vollständige  gewesen.  Daß  Vollständigkeit 
in  diesem  einfachsten  Sinne  des  Wortes  in  ihrem  Plane  lag,  gereicht 
Viviani  und  dem  Prinzen  Leopold  zur  Ehre,  nur  machten  sie  —  der 
eigenen  Denkweise  gemäß  —  durch  einen  so  gedachten  Plan  das 
Gelingen  ihres  Unternehmens  von  den  Entscheidungen  derjenigen 
abhängig,  von  denen  eine  Zustimmung  nicht  zu  erwarten  war. 

Noch  im  Jahre  1654  hatten  die  Kongregationen  des  Index  und 
der  Inquisition  Viviani  die  Erlaubnis,  die  verbotenen  ,, Dialoge"  auch 
nur  zu  lesen,  kurzweg  verweigert,  obgleich  ein  General  des  Domini- 
kanerordens und  Konsultor  der  Inquisition  das  Gesuch  vermittelte 
und  zur  Unterstützung  desselben  angab,  die  Erlaubnis  werde  nur 
für  den  Zweck  einer  Widerlegung  des  Buches  erbeten.  ^  Ein  nicht 
geringer  Grad  von  Selbsttäuschung  war  erforderhch,  um  wenige 
Jahre  nach  diesem  Bescheid  einen  Neudruck  der  „Dialoge"  unter 
kirchhcher  Erlaubnis  für  möghch  zu  halten.  Tatsächhch  blieb  das 
ganze  17.  Jahrhundert  hindurch  in  Italien  und  insbesondere  in 
Florenz  eine  wohlautorisierte  Ausgabe  der  Galilei  sehen  Werke  mit 
Einschluß  der  „verbotenen  und  verdächtigen  Schriften"  ein  unaus- 
führbares Unternehmen. 

Was  in  dieser  Beziehung  heute  im  zusanmienfassenderr  Rück- 
bhck  als  feststehend  und  unabhängig  von  den  wechselnden  Ent- 
schlüssen der  zur  Macht  gelangenden  PersönHchkeiten  erkannt  ^vird, 
konnte  freüich  in  den  Tagen  Vivianis  als  vorübergehender,  vielleicht 
in  kurzem  überwundener  Zustand  erscheinen.  So  mögen  ernste 
Hoffnungen  bei  Galileis  Verehrern  aufgestiegen  sein,  als  von  Florenz 
aus  aUe  Hebel  in  Bewegung  gesetzt  wurden,  um  für  den  Prinzen 
Leopold  den  Karcünalshut  zu  erwerben.  Wenngleich  ausschließhch 
pohtische  Berechnungen  diesen  Bemühungen  zugrunde  lagen,  so 
war  doch  denkbar,  daß  ein  einmal  erlangter  Einfluß  auch  denjenigen 
Bestrebungen  zugute  kommen  könne,  an  denen  der  Prinz  vor  seiner 
Erhebung  zum  Kirchenfürsten  mit  Vorhebe  teilgenommen  hatte. 


^  Brief  des  Pompeo  Ferroni  an  V.  Viviani  vom  11.  Juli  1654,  mitgeteilt 
in  Favaro,  Miscellanea  p.  126. 


—     227     — 

Nach  einer  späteren  Mitteilung  Vivianis  hat  allerdings  Prinz 
Leopold  als  Kardinal  mit  einigen  Mitgliedern  der  Kongregation  des 
heiligen  Offiziums  über  die  Möglichkeit  einer  Milderung  des  gegen 
die  „Dialoge"  gerichteten  Verbots  Besprechungen  gehabt  und  bei 
dieser  Gelegenheit  die  Meinungen  der  Kardinäle  einer  solchen  Maß- 
regel keineswegs  abgeneigt  gefunden^;  aber  von  einer  derartigen 
gesprächsweisen  Berührung  der  Frage  war  ein  weiter  Weg  zu  dem, 
was  not  tat,  dem  beharrlichen  Bemühen  um  eine  Entscheidung  zu- 
gunsten der  Befreiung  der  Wissenschaft.  Es  ist  wenig  glaubhch,  daß 
Kardinal  Leopold,  der  übrigens  auch  in  Rom  Freund  und  Beschützer 
der  Gelehrten  bheb,  bereit  gewesen  ist,  um  Galileis  willen  den  Kampf 
aufzunehmen,  ohne  den  hier  ein  Ergebnis  nicht  zu  erzielen  war. 

So  ist  denn  auch  in  dem  Briefv\'echsel  Vivianis  und  seines  Kreises 
nach  dem  Jahr  1667,  in  dem  die  Ernennung  des  Prinzen  Leopold 
zum  Kardinal  erfolgte,  von  den  Anregungen  und  den  Wünschen  des 
Prinzen  Leopold  in  bezug  auf  die  Ehrung  Galileis  durch  die  Heraus- 
gabe seiner  Werke  und  einer  ausführlichen  Biographie  nicht  mehr 
die  Rede. 

Neue  Pläne  Vivianis  knüpfen  sich  seit  dieser  Zeit  an  seine  Be- 
ziehungen zu  Ludwig  XIV.  Auf  Colberts  Vorschlag  war  er  im  Jahre 
1664  durch  die  Ernennung  zum  Mitglied  der  Französischen  Akademie 
und  die  Verleihung  einer  Jahrespension  von  1200  Lire  geehrt  worden. 
Nicht  besser  glaubte  er  sich  dem  König  und  seinen  Ministern  dankbar 
zu  erweisen  als  durch  eine  VeröffentHchung,  die  ihm  zugleich  die 
Erfüllung  der  alten  Herzenspflicht  gegen  Galilei  gestattete.  Eine 
vollständige  Lebensbeschreibung  des  abgöttisch  verehrten  Meisters 
dem  König,  seinem  Wohltäter  zugeeignet,  das  war  die  Gestalt,  in  der 
nunmehr  die  seit  den  Jugendtagen  ihm  vorschwebende  Aufgabe  ihn 
von  neuem  fesselte.  Ein  Entwurf,  der  unter  seinen  nachgelassenen 
Handschriften  bewahrt  wird,  beschreibt,  wie  er  sich  die  Ausführung 
seiner  Absicht  in  der  äußeren  Erscheinung  des  Werks  gedacht  hat. 
Auf  dem  ersten  Blatte  sollte  ein  Bildnis  des  Königs  von  Frankreich 
zu  sehen  sein,  diesem  ein  in  Kupfer  gestochenes  Titelblatt  folgen, 
das  wiederum  auf  den  König  Bezug  nimmt,  oben  nochmals  sein 
Bildnis,  unten  sein  Wappen  darbietet,  in  der  IVIitte  der  Titel  „das 


^  Brief  Vivianis  an  den  P.  Antonio  Baldigiani  in  Favaro  Miscellanea 
Galileiana  inedita  p.  154 — 155. 

15* 


-     228     — 

Leben   Galileis,   beschrieben  für   den  allerchristlichsten   König  von 
Frankreich  und  Navarra." 

Nicht  zu  bezweifeln  ist,  daß  bei  dem  Plan  einer  solchen  Ehrung 
die  Hoffnung  mitgewirkt  hat,  in  dem  großen  Namen,  der  damals 
in  Toskana  als  Name  eines  Bundesgenossen  des  Großherzogs  in 
doppeltem  Ansehen  stand,  zugleich  einen  Verbündeten  zu  gewinnen 
gegen  die  Hindernisse,  die  immer  noch  für  den  Druck  des  Werkes 
zu  fürchten  waren. 

Vivianis  Absicht  fand  bei  seinen  italienischen  Freunden,  ins- 
besondere aber  bei  den  französischen  Gelehrten  volle  Zustimmung. 
Das  Interesse,  das  sie  hervorgerufen,  äußerte  sich  in  lebhaft  mahnen- 
den, di'ängenden  Briefen,  als  auch  dieses  Mal  die  x\usführung  auf  sich 
warten  ließ.  „Die  ^yichtigste  Verpfhchtung,  die  Ihr  gegen  den  Minister 
Colbert  habt"  —  so  schreibt  im  Jahre  1670,  zwei  Jahre  nach  der 
ersten  Ankündigung  des  neuen  Unternehmens,  Louis  Chapelain  an 
Viviani  — ,  ,,ist  die  Lebensbeschi'eibung  des  berühmten  Galilei  in  der 
Vollständigkeit,  wie  keiner  außer  Euch  sie  geben  könnte."  Von  den 
näheren  Freunden  suchte  Lorenzo  Magalotti  Viviani  durch  die  Vor- 
stellung der  Gefahr  zu  beeinflussen,  daß  bei  Nichterfüllung  des 
gegebenen  Versprechens  er  der  gewährten  Pension  verlustig  gehen 
könnte. 

Trotzdem  ist  auch  die  Lebensbeschreibung  Galileis  für  den  aller- 
christHchsten  König  nicht  zum  Druck  gelangt.  Nach  wenigen  Jahren 
ist  auch  von  der  Absicht  in  Vivianis  Briefen  nicht  mehr  die  Rede. 
Mit  dem  Tode  Großherzog  Ferdinands  IL,  der  am  24.  Mai  1670 
erfolgte,  hatten  sich  die  öffenthchen  Verhältnisse  Toskanas  für  Be- 
strebungen solcher  Ai't  in  gesteigertem  Maße  ungünstig  gestaltet. 
Dem  Beschützer  und  Freund  der  experimentellen  Wissenschaften, 
dem  IVIitbegründer  der  Accademia  del  Cimento,  dem  Schüler  und  Ver- 
ehrer Gahleis,  war  in  seinem  Sohne,  Cosimo  III.,  ein  Fürst  von  wesent- 
lich anderer  Geistesrichtung  und  Gemütsart  gefolgt.  Während 
Ferdinand  IL  als  vorzugsweise  wohlwollend  in  seinen  Gesinnungen, 
leutselig  in  seinem  Auftreten  geschildert  wiid,  erschien  Cosimo  im 
Verlauf  seiner  Regierung  mehr  und  mehr  als  mürrischer  und  finsterer 
Herrscher,  der  es  weder  verstand,  sich  die  Liebe  seiner  Untertanen 
zu  erwerben,  noch  auch  das  Verlangen  darnach  empfand.  Nicht  aus 
Freude  an  Glanz  und  Prunk,  sondern  nur,  um  nach  außen  glänzend 
zu  erscheinen,  dem  Scheine  nach  dem  Vater  gleichzukonmien,  wandte 


—     229     - 

auch  er  verschwenderisch  große  Summen  an  Feste  und  Lustbarkeiten; 
um  der  Eitelkeit  willen  zog  auch  er  Gelehrte  von  Namen  an  seinen 
Hof,  aber  wissenschaftliche  Neigungen  waren  ihm  fremd;  die  „neue 
Philosophie",  die  in  Ferdinand  ihren  warmen  Anhänger  und  Be- 
schützer gefunden  hatte,  war  ihm  verhaßt.  Seine  Neigungen  lagen 
zumeist  im  Bereich  strenggläubiger  Frömmigkeit;  Proselyten  zu 
machen,  war  seine  besondere  Liebhaberei;  mehr  als  je  zuvor  gewannen 
unter  seiner  langen  Regierung  die  kirchlichen  Bestrebungen  das 
Übergewicht  über  die  weltlichen;  unter  keinem  früheren  Herrscher 
war  in  Toskana  die  Macht  der  geistlichen  Orden  so  groß  gewesen. 

Was  ein  solches  Regiment  in  den  letzten  Jahrzehnten  des  17.  Jahr- 
hunderts für  die  Anhänger  Galileis,  für  die  Bemühungen,  sein  Ge- 
dächtnis zu  Ehren  zu  bringen,  bedeutete,  bedarf  nicht  der  Ausführung. 
„Wer  hätte",  ruft  ein  Jahrhundert  später  Targioni  aus,  „solange 
Cosüno  IIL  regierte,  ein  Leben  Galileis  drucken  lassen  und  rühmen 
können,  w^as  er  vollbracht,  ohne  Gefahr  zu  laufen  oder  w^enigstens 
sich  mißliebig  zu  machen?" 

Die  schwere  Atmosphäre  der  Mönchsherrschaft,  wie  sie  in  jenen 
Tagen  dem  Verehrer  Galileis  den  Atem  nahm,  empfindet  auch  der 
heutige  Leser  noch  in  einem  Briefe,  den  Viviani  im  beginnenden 
vierten  Jahr  der  Regierung  Cosimos  an  Lorenzo  Magalotti  geschrieben 
hat.  Es  hatte  sich  die  Nachricht  verbreitet,  daß  man  in  Amsterdam 
mit  der  Absicht  umgehe,  Briefe  von  Paolo  Sarpi  in  größerer  Zahl 
und  von  gewichtigem  Inhalt  zu  veröf f enthchen ;  „vielleicht"  hatte 
derjenige,  der  die  Kunde  brachte,  gesagt,  „möchten  unter  denen  der 
Freunde  und  Korrespondenten  Sarpis  auch  Briefe  Galileis  sein." 
„Ob  dieser  Mitteilung",  schreibt  Viviani  dem  Freunde,  „war  ich 
innerhch  bestürzt,  ohne  es  merken  zu  lassen;  denn  plötzlich  fiel  mir 
in  den  Sinn,  daß,  wenn  dem  so  wäre,  sich  Galileis  beständigen  Feinden, 
deren  es,  me  ich  weiß,  ganze  Genossenschaften  gibt,  ein  gewichtiger 
Grund  darbieten  würde,  ihn  dessen  verdächtig  zu  halten,  was  er 
sicher  nicht  war  und  nie  auch  nur  in  Gedanken  gewesen  ist,  und  üin 
auch  als  solchermaßen  verdächtig  erscheinen  zu  lassen,  unter  dem 
erheuchelten  frommen  Vorwand,  als  ob  sie  dergleichen  Leute  ver- 
abscheuen, aber  in  Wahrheit  in  der  Absicht,  soweit  es  an  ihnen  liegt, 
den  Ruhm  des  großen  Mannes  zu  verdunkeln  und  vielleicht  ein 
Verbot  gegen  seine  anderen  Werke  zu  erwirken,  die  ihnen,  die  allein 
alles  zu  wissen  den  Anspruch  erheben,  so  sehr  verhaßt  sind."  „Erwägt," 


—     230     — 

ruft  er,  ,,wie  sehr  das  dem  Ruf  des  guten  Alten  und  zugleich  unserem 
Vaterland  zum  Schaden  gereichen  könnte;  mich  dünkt,  ich  sehe  Euch 
bei  dem  bloßen  Gedanken  an  diese  Folgen  in  Feuer  geraten;  aber 
zugleich  auch,  wie  die  Leidenschaft  Euch  die  Mittel  an  die  Hand 
gibt,  die  Gefahr  zu  vermeiden." 

Fast  vergißt  man  über  der  aufgeregten,  angsterfüllten  Rede, 
daß  es  ein  Toter  ist,  der  so  bedroht  erscheint,  und  daß  die  Gefahr, 
die  über  ihm  und  dem  Vaterlande  schwebt,  darauf  hinauskommt, 
daß  von  einem  Verkehr,  der  vor  70  Jahren  zAvischen  dem  Toten  und 
dem  freidenkenden  Mönch  unzweifelhaft  bestanden  hatte,  die  Kunde 
in  die  Öffentlichkeit  dringen  könnte. 

In  der  Vernichtung  der  möglicherweise  von  Galilei  an  Sarpi 
geschriebenen  Briefe  sieht  Viviani  die  einzige  Möglichkeit  der  Rettung, 
wenngleich  er  fest  davon  überzeugt  ist,  daß  nichts  anderes  als  Fragen 
der  Wissenschaft  ihren  Gegenstand  bilden  könnten.  „Wäre  ich  in 
Flandern  wie  Ihr,"  schreibt  er  weiter,  „ich  würde  mich  un verweilt  nach 
Amsterdam  begeben,  um,  wenn  sich  fände,  daß  Briefe  Galileis  wirk- 
lich vorhanden  sind,  sie  selbst  in  Augenschein  zu  nehmen ;  und  kämen 
sie  mii*  zu  Gesichte,  so  würde  ich,  was  sie  auch  enthalten  möchten, 
nicht  allein  in  Ruhe  jede  Kunst,  jedes  Mttel  versuchen,  um  die  Ver- 
öffenthchung  zu  verhindern,  sondern  auch  mich  bemühen,  die  Originale 
und  die  Kopien  an  mich  zu  bringen  und  wenn  es  auch  mit  großen 
Kosten  geschehen  müßte;  und  wären  sie  schon  gedruckt,  so  würde 
ich  aus  eigenen  Mitteln  die  Auslagen  für  die  fertigen  Bogen  bezahlen, 
damit  nichts,  was  daran  erinnern  kann,  in  anderen  Händen  bliebe. 
Solltet  Ihr  daher,  verehrter  Herr,  Euch  überzeugen,  daß  sich  dies 
insgeheim  und  mit  Sicherheit  durch  Geld  erreichen  läßt,  so  bin  ich 
bereit,  es  Euch  zuzustellen,  damit  von  dieser  Seite  her  den  Böswilligen 
für  die  Zukunft  jede  MögHchkeit  genommen  werde,  Waffen  solcher 
Art  gegen  einen  Mann  zu  verwenden,  der  so  ehrwürdig,  so  redlich, 
christhch,  kathohsch  und  fromm  gewesen,  so  gelebt  hat  und  gestorben 
ist  und  den  ich  in  solcher  Gesinnung  als  hohes  Beispiel  in  seinen  drei 
letzten  Jahren  zu  meiner  großen  Erbauung  vor  mir  gesehen  habe."^ 

Mehr  als  umständhche  Schilderungen  und  Berichte  vermögen, 
veranschauHcht   die  Stimmung   dieses  Briefes   den   Geist   des   Zeit- 


^  Brief  Vivianis    an  Lorenzo  Magalotti  vom  24.  Juli   1673  in  Lettere 
famigliari  del  Conte  Lo  renzo  Magalotti  p.  47. 


—     231     — 

alters  Cosimos  III, ,  zugleich  aber  auch  den  Charakter  dessen,  der  in 
solcher  Zeit  vor  allen  übrigen  berufen  war,  den  Feinden  der  Geistes- 
freiheit die  Stirn  zu  bieten.  Es  kann  nicht  überraschen,  daß  einem 
Manne,  der  solchen  Widersachern  gegenüber  Heil  und  Hilfe  nur  in 
der  Vernichtung  alles  dessen  sieht,  was  zu  böswilliger  Deutung  Anlaß 
bieten  könnte,  das  Leben  dahinging  in  vergeblichen  Versuchen,  dem 
Andenken  Galileis  gerecht  zu  werden. 

Auch  während  der  32  Jahre,  die  er  unter  der  Herrschaft  Cosimos  III. 
verlebte,  behielt  Viviani  die  gleiche  Aufgabe  unverwandt  im  Auge. 
Das  beweist  ein  jedes  seiner  gedruckten  Werke,  meist  mathematischen 
Inhalts  und  eine  große  Zahl  von  Briefen,  die  diesem  Zeitraum  an- 
gehören. 

Nachdem  die  Aussicht,  eine  Gesamtausgabe  der  Werke  veröffent- 
lichen zu  können,  in  die  Ferne  gerückt  schien,  beschäftigte  ihn  längere 
Zeit  hindurch  der  Plan,  eine  Sammlung  der  zahlreichen  nachgelassenen 
Schriften  und  Briefe  drucken  zu  lassen.  Selbstlos  spricht  er  noch  im 
Jahre  1678  den  bestimmten  Entschluß  aus,  vor  den  eigenen  bereits 
vollendeten  oder  leicht  zu  vollendenden  Werken  die  ungedruckten 
Galileis  und  Torricellis  an  die  Öffentlichkeit  zu  bringen.  In  mög- 
lichster Vollständigkeit  sollte  seine  Sammlung  umfassen,  was  irgend 
von  Galilei  erhalten  war.  Zu  diesem  Zwecke  bemühte  er  sich  viele 
Jahre  hindurch,  teils  durch  direkte  Zuschriften,  teils  durch  geeignete 
Vermittler,  mit  den  Nachkommen  und  Erben  derjenigen  in  Verbin- 
dung zu  treten,  die  in  Italien  wie  im  Ausland  zu  Galileis  Freunden 
und  Korrespondenten  gehört  hatten,  um  in  seine  Hand  zu  bringen, 
was  irgend  sich  finden  ließ.  Sehr  bedeutend,  teilweise  unschätzbar 
sind  die  Beiträge,  die  diesem  Bemühen  die  heute  vorhandene  große 
Florentiner  Sammlung  der  Galileischen  Handschriften  verdankt. 

Nur  vertagt,  nicht  aufgegeben  hatte  Viviani  auch  in  dieser 
schweren  Zeit  seine  weitergehenden  Pläne;  sie  von  Neuem  ausführ- 
bar und  dringlich  erscheinen  zu  lassen,  genügte  der  Schimmer  neuer 
Hoffnungen,  die  sich  an  die  freiere,  den  Wissenschaften  zugewandte 
Denkweise  des  Erbprinzen  Ferdinand  knüpften.  Es  gelang  Viviani, 
den  begabten  jungen  Prinzen,  der  in  allen  Beziehungen  mehr  dem 
Großvater  als  dem  Vater  ähnlich  schien,  soweit  für  seine  Absichten 
zu  gewinnen,  daß  er  wagen  konnte,  in  seinem  Namen  und  Auftrag 
in  Rom  eine  Aufhebung  des  Verbots  gegen  die  ,, Dialoge  über  die 
beiden  Weltsysteme"  anzuregen. 


—     232     — 

Es  ist  bereits  der  Erkmidigungen  gedacht  worden,  die  Prinz 
Leopold  in  gleicher  Kichtung  eingezogen  hatte ;  zu  dem  weitergehenden 
Versuch,  über  den  erst  in  neuester  Zeit  Favaros  Bemühungen  Licht 
verbreitet  haben,  ermutigte  Viviani  die  Bekanntschaft  mit  dem  Jesuiten- 
pater Antonio  Baldigiani,  Wie  nie  zuvor  ein  anderer,  schien  dieser 
Mann  in  seiner  Person  die  Eigenschaften  zu  vereinigen,  deren  es  für 
eine  erfolgreiche  Vermittlung  zmschen  den  Interessen  der  wissen- 
schaftlichen und  der  kirchlichen  Kreise  bedurfte.  iVls  Florentiner, 
Mathematiker  und  Verehrer  Galileis  stand  er  Viviani  nahe ;  sein  inhalt- 
reicher Briefwechsel  mit  diesem  rechtfertigt  die  Voraussetzung,  daß 
seinerseits  grundsätzliche  Bedenken  dem  geplanten  Unternehmen 
nicht  entgegenstanden.  Andererseits  erfreute  sich  Baldigiani  beim 
päpsthchen  Stuhl  besonderen  Ansehens;  er  war  in  der  Lage,  nicht 
allein  als  gelehrtes  Mitglied  des  Jesuitenordens,  sondern  unmittel- 
barer noch  als  Konsultor  der  Index-Kongregation  und  Qualifikator 
des  Heihgen  Offiziums  auch  auf  die  Entscheidungen  dieser  höchsten 
kirchlichen  Behörden  Einfluß  zu  üben.  So  konnte  Viviani  glauben, 
daß,  wenn  durch  ihn  das  ersehnte  Ziel  sich  nicht  erreichen  lasse, 
auf  keine  andere  Hilfe  mehr  zu  rechnen  sei.  An  ihn  wandte  er  sich 
daher  im  August  1690  zunächst  mit  der  Bitte  um  Bezeichnung  des 
Weges,  auf  dem  er  in  tiefster  Heimlichkeit  mit  ihm  über  eine  wissen- 
schaftüche  Angelegenheit  von  großer  Bedeutung  brieflich  verhandeln 
.könne.  Nur  soviel  sprach  er  aus,  daß  eine  glückliche  Erledigung 
dem  Vermittler  zu  höchstem  Euhm  gereichen,  überdies  ihm  sicherlich 
die  Gunst  und  Gewogenheit  eines  allergnädigsten  Herrn  gewinnen 
werde. 

Auf  dem  „gefahrlosen"  Wege,  über  den  ihn  der  Pater  entgegen- 
kommend belehrte,  brachte  dann  Viviani  zur  Sprache,  was  „der 
hohe  Herr"  im  Sinne  habe."^  „Es  wird",  so  schreibt  er,  „aufs  drin- 
gendste gewünscht,  daß  Galileis  ,Dialoge  über  die  beiden  Haupt- 
weltsysteme' von  jedem  Verbot  befreit  werden;  man  glaubt,  es  sei 
dies  zu  erreichen  durch  die  Verbesserung  derjenigen  Stellen,  die  nach 
dem  Ermessen  der  Heiligen  Kongregation  des  Index  deren  bedürfen; 


1 


I 


^  Von  beiden  im  Text  erwähnten  Schreiben  liegen  uns  nur  Vivianis 
Entwürfe  vor;  es  Hegt  kein  Grund  vor,  zu  bezweifeln,  daß,  wie  sicherlich  das- 
erste,  auch  das  zweite  entscheidende  tatsächlich  abgesandt  worden  ist.  Beide 
Entwürfe  sind  mitgeteilt  in  A.  Favaro  Miscellanea  Galileiana  inedita  p.  152 
biß  155. 


—     233     — 

man  ist  der  Moinunp^,  daß  es  nur  sehr  wenige  seien  und  daß  diese  sich 
sehr  leicht  moderieren  lassen  werden,  ohne  daß  das  AVerk  entstellt 
würde  und  von  dem  Guten  und  Schönen,  das  ihm  eigen  ist,  irgend 
etwas  verlöre.  Um  dahin  zu  gelangen,  bedarf  es  —  so  glaubt  man  — 
eines  Mannes  von  Autorität  und  Ansehen,  der  zugleich  als  Gelehrter 
und  mit  dem  Gegenstande  vertraut,  das  große  Unternehmen  fördert 
und  mit  Kraft  und  überzeugender  Rede  dafür  eintritt.  Ihr,  hoch- 
ehrwürdiger Vater,  werdet  zur  Zeit  als  der  Einzige  in  der  gelehrten 
Welt  betrachtet,  der  diese  Vorzüge  in  höchstem  Grade  besitzt,  so 
daß  kein  anderer  neben  Euch  in  Frage  kommen  könnte,  ich  bin  des- 
halb beauftragt,  an  Euch  die  Bitte  zu  richten,  die  Sache  gründlich 
in  Erwägung  zu  ziehen.  Euch  ihrer  anzunehmen  und  Euch  ihr 
mit  Ernst  zu  widmen,  bis  Ihr  sie  zum  glücklichen  Ausgang  ge- 
führt habt." 

Wie  Viviani  hier  nur  als  Vertreter  eines  nicht  genannten  Höher- 
stehenden zu  reden  vorgibt,  so  weiß  er  auch  in  der  Darlegung  der 
Gründe,  um  derentwillen  eineAufhebung  des  Verbots  von  1633  not- 
wendig erscheine,  alles  zu  vermeiden,  was  den  Verdacht,  als  ob  er  selbst 
an  die  verbotene  Lehre  glaube,  hervorrufen  könnte.  Sein  Schreiben 
an  den  P.  Baldigiani  spricht  nicht  etwa  die  Überzeugung  aus,  daß  es 
die  Wahrheit  sei,  die  man  zu  lehren  und  zu  ergründen  verbiete  und 
daß  es  sich  darum  handle,  die  Wissenschaft  von  unwürdigen  Fesseln 
zu  befreien  —  auch  in  dieser  tief  geheimen  Verhandlung  glaubt  er  zu 
Galileis  Gunsten  die  Fiktion  festhalten  zu  müssen,  daß  im  vollen 
Gegensatz  zum  Werk  des  Copernicus  die  „Dialoge"  nicht  die  Bewegung 
der  Erde  lehren  wollen,  sondern,  ohne  zu  entscheiden,  die  Gründe 
für  und  wider  vortragen  und  dartun,  daß  diese  Gründe  nicht  mehr  die 
eine  als  die  andere  Meinung  zu  erweisen  vermögen." 

Ersichtlich  sind  die  Verbesserungen,  an  die  Viviani  denkt,  nur 
Zusätze,  die  im  Sinne  dieser  Fiktion,  im  Einklang  mit  Galileis  Vor- 
wort und  Z\Nischem-eden  den  Leser  warnen  sollen,  für  wahr  zu  halten, 
was  im  eigenthchen  Text  des  Buches  mit  allem  Feuer  der  Über- 
zeugung als  Wahrheit  erwiesen  wird.  Es  entspricht  der  Zuversicht, 
mit  der  Viviani  dem  Konsultor  der  Inquisition  gegenüber  Vorspiege- 
lungen dieser  Art  verwertet,  daß  er  dann  auch  kein  Bedenken  trägt, 
wie  von  einem  Zeichen  der  Inkonsequenz  der  kirchlichen  Behörden 
von  der  ungehinderten  Erörterung  der  gleichen  ^^issenschaftlichen 
Lehren  durch  andere  Schriftsteller  zu  reden  und  unter  diesen  durch 


—     234     — 

kirchliche  Erlaubnis  bevorzugten  Männern  Riccioli  hervorzuheben. 
Uns  freilich  klingt  es  überraschend,  von  einem  Widerspruch  des  Ver- 
bots der  „Dialoge"  mit  der  Nachsicht  der  Inquisition  gegen  den 
Verfasser  des  „Almagestum  novum"  zu  hören. 

Größeren  Nachdruck  legt  Viviani  auf  die  Bedeutung  des  Verbots 
für  die  nichtitalienischen  Gelehrten.  Wie  ihm  durch  die  Berichte 
von  Mitgliedern  des  Jesuitenordens  him*eichend  verbürgt  sei,  habe 
insbesondere  infolge  der  großen  teleskopischen  Entdeckungen  die 
copernicanische  Lehre  außerhalb  Italiens  zahlreichere  Anhänger  ge- 
funden als  jede  andere,  es  habe  deshalb  schon  das  Verbot  der  Index- 
Kongregation  unter  den  Gelehrten  des  Auslandes  große  Aufregung 
hervorgerufen  und  als  Verbot  in  einer  nur  die  Natur  betreffenden 
Sache  die  Veranlassung  gegeben,  daß  man  auch  gegen  solche  in  Rom 
getroffene  Entscheidungen  sich  zweifeUiaft  verhalte,  die  sich  auf  An- 
gelegenheiten des  Glaubens  beziehen.  Es  sei  daher  zu  hoffen,  daß 
eine  Abschwächung  des  Verbots  der  Kirche  zum  Gewinn  gereichen 
werde. 

Von  dem  gleichen  Ai'gument,  ungefähr  in  die  gleichen  Worte  ge- 
faßt, hatten  ja  schon  Gaülei  und  seine  Freunde  sich  heilsame  Wirkung 
versprochen.  Die  Wiederholung  eben  dieser  Wendungen  und  prak- 
tischen Berechnungen  in  Vivianis  Briefen  veranschauhcht,  wie  unver- 
ändert und  unabgeschwächt  nach  Verlauf  von  beinahe  70  Jahren  die 
Gegensätze  fortbestanden.  Nur  in  den  persönhchen  Beziehungen 
bezeichnen  die  Verhandlungen  mit  Baldigiani  einen  Wandel,  genauer 
gesagt:  eine  Wiederherstellung  des  älteren  Verhältnisses.  'Es  sind 
die  Feinde  von  1633,  unter  denen  Viviani  den  Helfer  in  der  Not  zu 
finden  meint;  zu  energischem  Handeln  in  Galileis  Angelegenheit 
hofft  er  den  Jesuitenpater  durch  die  Aussicht  anregen  zu  können, 
daß  im  Falle  des  Erfolges  sein  Anteil  dabei  die  Welt  erkennen  lassen 
werde,  wie  falsch  die  verbreitete  Meinung  sei,  nach  der  zum  Verbot 
der  „Dialoge"  das  Betreiben  einiger  Mitgheder  des  Jesuitenordens 
beigetragen  habe,  wie  vielmehr  dieser  Orden  auch  jetzt  noch  wahres 
Wohlwollen  gegen  Gaülei  wie  gegen  seine  Werke  bewahre;  es  müsse, 
meint  Viviani,  die  Kunde  davon,  daß  ein  Jesuit  zu  so  christhcher 
und  heldenmütiger  Handlung  den  gerechten  Antrieb  empfunden  habe, 
nicht  nur  ihm  selbst,  sondern  dem  ganzen  Orden,  der  in  jeder  anderen 
Beziehung  und  mit  gutem  Recht  vor  allen  übrigen  hoch  verehrt  sei, 
zu  erhöhtem  Lobe  gereichen. 


—     235     — 

Eine  Antwort  auf  dieses  Schreiben  an  den  P.  Baldigiani  ist  nicht 
erhalten;  daß  sie  nicht  nur  ablehnend  gelautet,  sondern  Viviani  jede 
Aussicht  auf  einen  besseren  Erfolg  fortgesetzter  Bemühungen  ge- 
nommen hat,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Wie  wenig  in  jenem  Zeitpunkt 
an  der  Stelle,  wo  Baldigiani  seinen  Einfluß  üben  sollte,  die  herrschende 
Stimmung  einem  günstigen  Ergebnis  entsprach,  geht  aus  den  Mit- 
teilungen hervor,  die  zwei  Jahre  später  derselbe  Mann  Viviani  zu 
machen  hatte.  „Ganz  Rom",  schreibt  er  am  25.  Januar  1693,  ,, steht 
in  Waffen  gegen  die  Mathematiker  und  Physiko-Mathematiker.  Außer- 
ordentHche  Zusammenkünfte  der  Kardinäle  und  des  Heiligen  Offiziums 
haben  stattgefunden  und  finden  weiter  statt,  und  man  spricht  davon, 
allgemeine  Verbote  gegen  alle  Autoren  der  neueren  Physik  ergehen 
zu  lassen,  lange  Listen  werden  angefertigt  und  an  die  Spitze  derselben 
stellt  man  Galilei,  Gassendi,  Carfcesius  usw.  als  höchst  gefährlich  für 
die  Gelehrtenrepublik  und  die  Reinheit  der  Religion.  Die  Haupt- 
personen, die  über  sie  zu  urteilen  haben,  werden  Mönche  sein,  die 
früher  schon  sich  bemüht  haben,  derartige  Verbote  zustande  zu 
bringen.^ 

Die  schlimme  Botschaft  hat  vermutlich  dazu  beigetragen,  Viviani 
zu  der  eigentümlichen  Kundgebung  seiner  Gesinnungen  zu  bestimmen, 
die  demselben  Jahre  1693  angehört.  Bei  zunehmendem  Alter,  ge- 
schwächter Gesundheit  und  nähertretender  Gefahr  des  Todes  erschienen 
ihm  ~  das  sind  seine  eigenen  Worte  —  alle  anderen  Wege  verschlossen, 
um  der  Nachwelt  gegenüber  von  den  Wohltaten,  die  ihm  im  Leben 
zuteil  geworden,  Zeugnis  abzulegen. ^  So  entschloß  er  sich,  ermutigt 
durch  die  Zustimmung  des  Erbprinzen  Ferdinand,  den  lange  gehegten 


^  Brief  Baldigianis  vom  25.  Jan.  1693,  mitgeteilt  in  Favaro,  Miscellanea 
Galilciana  inediti  p.  456.  Auf  die  auch  gegen  Galileis  Wissenschaft  erhobene 
Anklage,  von  der  hier  berichtet  wird,  antwortet  Viviani  in  den  im  Folgenden 
zu  berührenden  im  gleichen  Jahr  1693  verfaßten  Inschriften.  Nachdem  er 
Galileis  Verdienste  um  die  Anwendung  von  Experimenten  und  geometrischer 
Wissenschaft  zur  Begründung  einer  neuen  Physik  gerühmt,  fährt  er  fort: 
und  dieses  große  Werk  hat  er  immer  mit  solcher  Mäßigung  und  so  fromm 
betrieben,  daß  seine  philosophischen  Lehren  sich  für  diejenigen,  die  nicht 
entweder  verkehrt  interpretieren  oder  mehr  wissen  wollen,  als  zu  wissen  not- 
tut, nicht  nur  keineswegs  schädlich,  sondern  in  hohem  Maße  nützlich  erweisen 
werden." 

^  Vergl.  den  Anhang  der  in  der  Note  der  folgenden  Seite  zitierten  Schrift. 
Die  Stelle  ist  abgedruckt  bei  Nelli  p.  856. 


—     236     — 

Gedanken  einer  Verherrlichung  Galileis  in  Verbindung  mit  der  schul- 
digen Ehrenbezeugung  gegen  „den  großen  König  Ludwig"  in  ab- 
gekürzter Form  und  gewissermaßen  in  beschränkter  Öffentlichkeit, 
aber  in  tunlichster  Beschleunigung  zur  Ausführung  zu  bringen.  Wie 
er  vor  allem  übrigen  in  übertreibender  Dankbarkeit  ausspricht,  hatte 
das  ehrenvolle  Jaliresgehalt,  das  ihm  Ludwig  XW.  gewährt,  ihn  in 
den  Stand  gesetzt,  ein  Haus  in  der  Via  Amoris  in  Florenz  zu  erwerben 
und  nach  seinem  "Wunsche  umzubauen.  Die  Außenseite  dieses  Hauses 
sollte  der  Welt  seine  Gesinnung  offenbaren,  sie  tut  es  bis  auf  den  heu- 
tigen Tag.  Über  dem  Haupteingang  sieht  man  eine  von  dem  Bildhauer 
Foggini  nach  einem  älteren  Original  gefertigte  Bronzebüste  Galileis, 
zu  deren  Seiten  umfassende  Inschriften,  die  dem  königlichen  Wohl- 
täter danken,  die  Großherzöge  Ferdinand  und  Cosimo  als  hohe  Gönner 
des  Erbauers  ehren,  vor  allem  aber  den  Ruhm  des  Meisters  verkünden, 
in  hohen  Worten  den  Denker  und  Forscher,  den  Lehrer  und  Schrift- 
steller wie  den  im  Leben  und  Sterben  gläubig-frommen  Christen 
Galilei  preisen. 

Acht  Jahre  später,  im  80.  Jahre  seines  Lebens,  ließ  Viviani  im 
Anhang  seiner  letzten,  dem  König  Ludwig  gewidmeten  Schrift^,  den 
Wortlaut  dieser  Lischriften  abdrucken,  um,  \Yie  er  sagt,  auf  diese 
Weise  dafür  zu  sorgen,  daß  ihr  Inhalt  sich  unter  den  Auswärtigen, 
die  nicht  auf  Reisen  gehen,  verbreite  und  damit  sie  in  unvergänglichem 
Andenken  der  Gelehrten  bleiben  mögen,  wenn  auch  einmal  durch 
die  zerstörende  Zeit  oder  nach  dem  Willen  eines  späteren  Besitzers 
die  Marmorbuchstaben  vernichtet  werden  soUten. 

Durch  ein  besonderes  Imprimatur  für  diesen  Anhang  hat  die 
Florentiner  Inquisition  auscb-ücklich  auch  dem  Inhalt  der  Gedächtnis- 
tafeln  ihre  Zustimmung  ausgesprochen  und  die  Verteilung  gesonderter 
Abdrücke  gestattet.-  Eine  Beziehung  der  Inschriften  zu  der  voran- 
gehenden mathematischen  Schrift  Vivianis  ist  in  der  Tat  nicht  vorhan- 


^  V.  Viviani  de  locis  solidis  secunda  divinati  geometrica  in  quinque 
libros  iniuria  temporum  amissos  Aristaei  senioris  geometrae  Florentiae  1701. 

2  Die  Abdrücke  erschienen  unter  dem  Titel:  Grati  animi  monumenta 
Vincentü  Viviani  in  praeceptorem  Galilaeum  lyncaeum,  Ferdinandum  II 
et  Cosmum  III  mm.  dd.  Etruriae  et  Ludovicum  magnum  GaUiarum  et 
Navarrae  regem  christianissimum  uti  fuerunt  inscripta  Florentiae,  in  fronte 
aedium  a  Deo  datarum  anno  salutis  1693.  Florentiae  apud  Petriim  Antonium 
Porigonei. 


—     237     — 

den;  dagegen  liest  man  nicht  ohne  Nutzen  auch  für  das  Verständnis 
des  Anhangs  die  Widmung  an  der  Spitze  des  Buchs.  Unter  den 
Kuhmestiteln  Ludwigs  XIV.  steht  hier  in  erster  Linie  die  Unermüd- 
hchkeit  in  der  Ausrottung  innerer  Ketzerei;  der  allerchristlichste 
König  wii'd  als  „schützender  Genius  für  den  orthodoxen  Glauben" 
gepriesen.  Wer  in  solcher  Weise  die  Aufhebung  des  Edikts  von 
Nantes  als  Heldentat  feiert,  was  wird  er  der  Welt  von  Galileis  Kampf 
für  die  von  römischen  Kongregationen  verbotene  Wahrheit  zu  sagen 
haben  ? 

In  der  Tat,  die  Tafeln  an  dem  Hause  der  Via  Amoris  scheinen 
von  solchem  Kampfe  und  solcher  Wahrheit  nichts  zu  wissen.  Von  dem 
Wenigen,  was  noch  die  Handschritt  von  1654  teils  berichtet,  teils 
durch  Andeutungen  verrät,  ist  im  Verlauf  des  folgenden  halben  Jahr- 
hunderts kaum  die  Andeutung  übriggeblieben.  In  den  einleitenden 
Worten  der  ersten  Inschrift,  wie  der  Abdruck  vom  Jahre  1701  sie 
wiedergibt,  \md  der  Gedanl^e  an  den  Copernicus  kurz  beseitigt,  ohne 
daß  auch  nur  der  gefährliche  Name  genannt  würde.  „Auf  der  steilen 
Bahn  zur  Erforschung  der  Wahrheit",  heißt  es  hier,  „geleitete  ihn 
stets  ein  frommer  Sinn,  so  daß  er,  was  er  über  die  Flut  des  Meeres 
und  das  System  des  Philolaus  nur  zur  Übung  des  Geistes  (was  be- 
sonders sein  Brief  an  (Jhristina  von  Lothringen  beweist)  ersonnen 
hatte,  willigen  Gemüts  der  Rehgion  zum  Opfer  brachte." 

Nur  zur  Übung  des  Geistes!  So  weit  war  man  also  60  Jahre 
nach  Galileis  Tode  gekommen!  Dieselbe  Gedächtnistafel,  die  mit 
Eifer  unbegründete,  von  neidischen  Widersachern  verbreitete  Zweifel 
an  Galileis  ehelicher  Geburt  widerlegt,  die  über  die  Stunde  dieser  Geburt 
vermeintUch  gewissenhafteste  Berechnungen  bietet,  um  außer  Frage 
zu  stellen,  daß  sie  mit  der  Todesstunde  Mchelangelos  zusammen- 
traf, die  der  Welt  über  Galileis  frommes  Sterben  in  ängstlicher  Um- 
ständlichkeit Bericht  erstattet  —  sie  hat  füi'  das,  was  ihm  „grandissimo" 
hieß,  nur  das  kurze  verneinende  Wort. 

Daß  auch  hier  Viviani  sich  selbst  der  eigentliche  Zensor  gewesen 
ist,  daß  kein  fremder  Wille  ihn  genötigt  hat,  eine  so  unzweideutige 
Verleugnung  des  Glaubens  an  die  Bewegung  der  Erde  seiner  Lobrede 
vorauszuschicken,  beweist  dem,  der  es  bezweifeln  möchte,  das  hand- 
schriftliche Original  seiner  Veröffentlichung,  das  dem  Inquisitor  vor- 
gelegen hat  und,  mit  dessen  Abänderungen  und  Streichungen  ver- 
sehen, noch  heute  in  Florenz  bewahrt  wird.    So  gründlich  hat  Vi\iani 


—     238     — 

die  Sclbstlvritik  geübt,  daß  nur  noch  hier  und  dort  ein  übertriebener 
oder  der  kii-chlichen  Anschauung  ^^^derstrebende^  Ausdruck  dem  Ver- 
treter der  Inquisition  zu  Bedenken  Anlaß  geben  konnte,  so,  wenn  der 
Lobredner  Galileis  Lebenswandel  „Heiligkeit  atmen"  sieht,  oder  wenn 
er  die  verborgenen  Dinge,  die  Galilei  den  Menschen  enthüllt,  ihrer 
Existenz  nach  als  „so  alt,  wie  die  Gottheit"  —  Deo  coaeva  —  be- 
zeichnet. Abgesehen  von  den  Änderungen  des  Zensors  an  derartigen 
Kleinigkeiten  des  Ausdrucks  muß  der  gesamte  "Wortlaut  der  Inschrift, 
wie  sie  im  Anhang  der  Schrift  „de  locis  solidis"  gedruckt  ist  und 
damit  alles,  was  in  ihm  der  geschichtlichen  Wahrheit  -widerspricht, 
als  Vivianis  geistiges  Eigentum  betrachtet  werden;  ersichtlich  hat 
er  dem  Verlangen,  Galileis  Leben  ,,Heihgkeit  atmen"  zu  lassen,  wesent- 
lich mehr  noch  als  in  der  Lebensbeschreibung  für  den  Prinzen  Leopold 
die  Wahrheit,  die  er  kannte,  willig  geopfert. 

Es  ist  vielleicht  nicht  überflüssig,  hier  einen  Zweifel  auszuschlie- 
ßen, der  zugleich  früheren  Bemerkungen  dieser  Blätter  gegenüber 
sich  erheben  ließe  und  bei  solchen  Gelegenheiten  zum  mindesten 
nicht  ausdrückhch  zu  Worte  gekommen  ist. 

Die  geistige  Entwicklung  zweier  Jahrhunderte  trennt  die  Gegen- 
wart von  den  Tagen,  in  denen  Viviani  seine  Gedächtnistafebi  entwarf; 
liegt  nicht  in  so  unermeßlichem  Wandel  der  Zeiten,  der  völligen 
Unvergleichlichkeit  der  Becüngimgen  des  Lebens  und  Denkens,  in 
der  Schwierigkeit,  einer  so  fernen  Vergangenheit  gerecht  zu  werden, 
ein  di'ingender  Grund,  dem  Manne  gegenüber,  dessen  Leben  \yie  kein 
anderes  von  selbstloser  Pietät  erfüUt  gewesen  ist,  ein  Urteil  zurück- 
zuhalten, das  auf  den  Vonmrf  bewußter  Unwahrheit  hinausläuft? 
Oder  kurz  gesagt:  ist  denn  verbürgt,  daß  Vivianis  Äußerungen  nicht 
auf  einer  wohlbegründeten  Überzeugung  beruhten?  Darauf  ist  vor 
allem  zu  erwidern,  daß  ohne  allzugründliche  Erforschung  der  Quellen 
Vivianis  Landsleute,  solange  eine  freie  Meinungsäußerung  in  Italien 
gestattet  ist,  als  gewiß  betrachtet  haben,  was  eine  solche  Frage  in 
Zweifel  stellt.  Von  den  Vielen,  die  den  letzten  Schüler  Galileis  seit 
jener  Zeit  getadelt  und  verteidigt,  hat  niemand  als  denkbar  angesehen, 
daß  er  nicht  im  innersten  Herzen  das  Urteil  von  1633  für  ungerecht- 
fertigt, den  Verzicht,  von  dem  er  redet,  für  unmöglich  gehalten  und 
an  die  Wahrheit  der  copernicanischen  Lehre  fest  geglaubt  hätte. 
Was  man  in  solcher  Weise  fast  instinktmäß  festgehalten,  findet  in 
neueren  Zeiten  um  so  vollere  Bestätigung,  je  mehr  aus  den  übrig- 


—     239     — 

gebliebenen  Briefen,  Entwürfen  und  anderen  privaten  Aufzeichnungen 
Vivianis  wahre  Gesinnungen  bekannt  werden. 

Ein  unzweideutiger  Beweis  dafür,  daß  seine  gedruckten  oder  für 
den  Druck  bestimmten  Schriften  in  den  Äußerungen  über  die  verbotene 
Lehre  nicht  seiner  wahren  Denkweise  entsprechen,  hat  sich  ergeben, 
als  man  in  neuester  Zeit  auf  den  Gedanken  kam,  den  Wortlaut  der 
noch  erhaltenen  Inschriften  an  seinem  Hause  aufzunehmen  und  der 
vermeintlich  getreuen  Wiedergabe  derselben  in  der  mathematischen 
Schrift  vom  Jahre  1701  gegenüberzustellen.  Der  nach  der  Aufnahme 
des  Grafen  Paolo  GaUetti  veröffentlichte  Text^  deutet  durch  einzelne 
unverständliche  oder  inkorrekt  erscheinende  Stellen  an,  daß  der  Zu- 
stand der  Erhaltung  der  Inschriften  hier  und  dort  einer  wortgetreuen 
Reproduktion  erhebliche  SchAvierigkeiten  entgegenstellt.^  Mit  völliger 
Sicherheit  aber  läßt  sich  neben  mannigfaltigen  anderen  Abweichungen 
auch  das  der  Vergleichung  entnehmen,  daß  die  Worte,  in  denen  Viviani 
die  unwürdige  Verleugnung  bis  zum  äußersten  treibt,  ein  Zusatz 
des  späteren  Abdrucks  sind.  Davon,  daß  Galilei  dem  „System  des 
Philolaus"  nur  der  Übung  wegen  seine  Gedanken  widmet,  daß  ins- 
besondere der  Brief  an  Christina  von  Lothringen  diese  Tatsache  deut- 
lich erweise,  ist  in  den  Original-Inschriften  nicht  die  Rede;  es  fehlt 
in  denselben  ebenso  bei  der  Erwähnung  der  Entdeckungen  an  den 
Planeten  und  der  Bewegung  derselben  um  die  Sonne  das  vielsagende 
Wort  „tuto'',  das  diesen  Teil  der  astronomischen  Lehren  Galileis 
als  erlaubt  bezeichnet^,  ohne  Zweifel,  weil  die  gleichen  Tatsachen 
in  den  Systemen  von  Tycho  Brahe  und  Riccioli  Raum  finden.  In 
den  Rücksichten,  denen  dieses  Wort  so  unzweideutigen  Ausdruck 
gibt,  lag  vermutlich  auch  füi*  Viviani  die  Veranlassung,  im  Abdruck 
von  1701  auszumerzen,  was  er  den  schwer  zugänglichen  Tafeln  an- 
vertraute: daß  Galilei  in  der  Rotation  der  Sonne  die  Ursache  der 


^  Antonio  Favaro  Inedita  Galilaeiana  Estr.  dal  Vol.  XXI  delle 
Memorie  del  Reale  Istituto  Veneto  di  Scienze,  Lettere  ed  Arti,  Venezia 
1880  p.  37f. 

'  Schon  Xelli  fand  die  Inschriften  ,,mezzi  corrosi"  und  deshalb  schwer 
zu  lesen.  Seine  Absicht,  sie  in  Marmor  reproduzieren  zu  lassen,  scheint  un- 
ausgeführt geblieben  zu  sein. 

^  Veneris  sydus  ac  etiam  Mercurii  —  —  —  proprio  motu  ab  occasu 
pariter  in  ortum,  vetuti  Mars,  Jupiter  ac  Saturnus,  Solis  globum  circumire 
tuto  Astronomos  docuit. 


—     240     — 

Bewegungen  „der  Hauptplaneten  ihres  Systems"  in  gleicher  west 
östlicher  Richtung  erkannt  habe.^ 

Bei  alledem  enthalten  auch  die  Original-Inschriften  keineswegs 
eine  Rechtfertigung  dessen,  was  Galilei  in  copernicanischem  Sinne 
geschrieben,  geschweige  ein  offenes  Bekenntnis  übereinstimmender 
Gesinnung;  vde  der  Wortlaut,  den  Viviani  dem  Druck  übergeben 
hat,  legen  sie  höchsten  Nachdi'uck  auf  Galileis  kirchliche  Gesinnung 
und  die  Frömmigkeit,  die  er  in  seinen  letzten  Stunden  bewährt  hat; 
nur  darin,  daß  die  echten  Inschriften  ganz  verschweigen,  was  sie 
der  Wahrheit  gemäß  nicht  sagen  dürfen,  äußert  sich  ein  vergleichs- 
weise freierer  Sinn;  eben  darin  aber,  daß  sie  zu  schweigen  für  an- 
gemessen halten,  wo  die  Zusätze  des  angeblich  getreuen  Abdrucks 
den  verehrten  Meister  ausdrücklich  verleugnen,  bekundet  sich  zu- 
gleich, daß  nicht  eine  mssenschaftliche  oder  kirchhche  Überzeugung 
Vivianis  seinen  unterwürfigen  Äußerungen  zugrunde  gelegen  hat. 

Nein,  in  vollem  Glauben  an  die  Wahrheit  der  copernicanischen 
Lehre,  in  der  Gemßheit,  daß  Galilei  bis  an  sein  Lebensende  sich  von 
dem  gleichen  Glauben  nicht  hat  lossagen  können,  läßt  er  ihn  das 
Buch,  in  dem  er  den  Inbegriff  seiner  Weltanschauung  dargelegt,  nur 
zur  Geistesübung  schreiben,  will  er  als  seinen  höchsten  Ruhm  ver- 
künden, daß  er  willigen  Gemüts  der  Religion  seine  Wissenschaft 
geopfert  hat.  Schon  dem  Tode  sich  nahefühlend,  glaubt  dieser  treueste 
Schüler  aUes,  was  ein  Inquisitor  fordern  könnte,  heuchelnd  über- 
bieten zu  müssen,  um  dann  endlich  einmal  in  vollen  Tönen  alles 
übrige  verherrlichen  zu  dürfen,  was  Galilei  der  Welt  ge- 
geben hat. 

Wir  vermögen  heute  in  dieser  Verherrlichung  innerhalb  der 
Grenzen  des  kirchlich  Erlaubten  keinen  Gewinn  zu  erkennen,  der 
des  gebrachten  Opfers  wert  ist,  aber  wir  würden  uns  der  Ungerechtig- 
keit schuldig  machen  gegen  den  Einzigen,  der  in  jenen  Tagen  Galilei 
zu  rühmen  gewagt  hat,  wenn  wir  unbeachtet  ließen,  was  uns  mit 
seinem  Opfer  versöhnen  kann.  Sein  Denken  beeinflußt  und  beherrscht 
das  Bild  des  einsamen  Grabes,  in  dem  getrennt  von  der  Gemeinschaft 
gläubiger  Christen  in  ungeweihter  Erde  die   Gebeine   des  Meisters 

1  Es  ist  hier  nachzutragen,  daß  auch  der  oben  in  der  Anmerkung  auf 
S.  235  mitgeteilte  Widerspruch  gegen  das  Urteil  der  Mönche  über  Galilei 
als  Physiko-Mathematiker  zwar  in  den  Original-Inschriften,  aber  nicht  im 
Abdruck  von  1701  zu  finden  ist. 


—     241     — 

ruhen.  Es  gab  keine  Entsagung,  die  Viviani  nicht  auf  sich  genommen 
hätte,  um  dieser  Schmach  ein  Ende  zu  machen. 

Er  starb,  ohne  das  Ziel  seiner  Wünsche  erreicht  zu  haben,  am 
22.  September  1703.  Sein  Testament  ließ  erkennen,  daß  er  bis  an 
sein  Lebensende  die  Hoffnung  nicht  aufgegeben  hatte,  Galilei  in  der 
Kirche  Sa.  Croce  neben  dem  Grabdenkmal  des  ]VIichelangelo  Buo- 
narotti  ein  würdiges  Monument  errichten  zu  können  und  unter  dem- 
selben die  Überreste  seines  großen  Lehrers  zur  letzten  Ruhe  bestattet 
zu  sehen.  „Sollte  der  Testator",  so  heißt  es  in  dieser  letztwilligen 
Verfügung,  „der  lebhaft  empfundenen  Pflicht  der  Dankbarkeit  gegen 
seinen  großen  Lehrer  im  Leben  nicht  genügt  haben,  so  hinterläßt 
und  verordnet  er,  daß  sie  alsbald  nach  seinem  Tode  erfüllt  werde; 
zugleich  bestimmt  er  in  betreff  des  eigenen  Leichnams,  daß  derselbe 
in  der  genannten  Kirche  von  Santa  Croce  unter  der  Statue  und  dem 
Denkmal  des  vorgenannten  großen  Galilei  begraben  werden  soll, 
neben  oder  unter  dessen  Gebeinen,  sobald  die  Überführung  derselben 
nach  jener  Stelle  stattgefunden  haben  wird;  solange  aber  seine  Ab- 
sicht nicht  zur  Ausführung  gebracht  ist,  will  und  verordnet  er,  daß 
sein  Leichnam  neben  dem  des  Herrn  Galileo  in  dem  ,, Noviziat  der 
Conventual-Minoriten"'  genannter  Kirche  in  vorläufiger  Bewahrung 
gehalten  werde.  ^ 

Weitere  Bestimmungen  des  Testaments  verfügen,  daß  die  Aus- 
führung des  Monuments  in  Santa  Croce  nach  den  Entwürfen  des 
Bildhauers  Giovanni  Battiste  Foggini,  der  bereits  eine  Statue  Galileis 
für  denselben  Zweck  gefertigt  hatte,  unter  der  Leitung  und  Ober- 
aufsicht von  Agostino  XelH  und  mit  den  Geldmitteln  und  dem  Erlös 
aus  dem  Mobiliarbesitz,  die  bei  dem  Tode  des  Testators  sich  vorfinden 
würden,  zu  erfolgen  habe. 

Mehr  als  ein  Menschenalter  noch  verging  nach  Vivianis  Tode, 
bis  die  öffentlichen  Verhältnisse  die  Ausführung  dieser  Bestimmungen 
gestatteten;  solange  noch  ruhte  in  selbstgewählter  Verbannung  der 
Schüler  neben  dem  Meister  in  der  abgelegenen  Turmkammer  von 
Santa  Croce.  Der  Letzte,  an  dessen  edlere  Neigungen  Viviani  Hoff- 
nungen geknüpft  hatte,  Erbprinz  Ferdinand,  starb  im  Jahre  1713, 
ohne  zur  Regierung  gelangt  zu  sein;  noch  weitere  zehn  Jahre  über- 

^  A.  Favaro  Documenti  inediti  per  la  Storia  dei  Manoscritti  Galileiani 
nella  Biblioteca  Nazionale  di  Firenze.  Roma  1886  p.  46 — 47.  Das  Testament 
ist  vom  7.  Dezember  1689  datiert. 

Wohlwill,  Galilei.    II.  16 


—     242     — 

lebte  ilin  der  Vater,  Großherzog  Cosimo  III.  und  mit  diesem  das 
brutalste  aller  Regierungssysteme,  das  Toscana  gesehen  hat. 

So  wenig  wie  Viviani  fand  auch  sein  Erbe,  der  Abt  Jacopo  Pan- 
zanini,  den  Mut,  um  Galileis  willen  mit  solcher  Herrschaft  sich  in 
Widerspruch  zu  setzen;  es  scheint,  daß  er  auf  jeden  Versuch,  die 
testamentarische  Bestimnnmg  zur  Ausführung  zu  bringen,  freiwillig 
verzichtet  hat. 

Dagegen  unternahm  es  im  Jahre  1717,  noch  unter  Cosimos  Ee- 
gierung,  Salvini,  Professor  der  Moralphilosophie  an  der  Florentiner 
Akademie,  die  Lebensbeschreibung  Galileis,  wie  sie  im  Jahre  1654 
Viviani  für  den  Prinzen  Leopold  niedergeschrieben  hatte,  zum  Ab- 
druck zu  bringen.  So  erfuhr  denn  die  Welt  im  Jahre  1717,  vier  Jahre 
nach  der  Veröffentlichung  einer  zweiten  x\uflage  der  Xewtonschen 
Prinzipia  philosophiae,  durch  die  für  die  copernicanische  Lehre  die 
feste  mechanische  Grundlage  gewonnen  war,  statt  des  erwarteten 
Aufschlusses  über  Galileis  Anteil  an  der  völligen  Enthüllung  der  großen 
Wahrheit:  daß  ,,die  ewige  Vorsehung  ihm  gestattet  habe,  durch  diese 
Verirrung  sich  als  Mensch  zu  zeigen". 

Aber  neben  dieser  Verleugnung,  die  noch  immer  für  Italien  ge- 
boten war  und  die  doch  in  Italien  so  wenig  wie  jenseits  seiner  Grenzen, 
\ieUeicht  weniger  noch,  ii'gend  jemand  für  ernst  gemeint  hielt,  empfing 
die  Welt  zum  erstenmal  in  Vivianis  Biographie  ein  Bild  von  Galileis 
Leben  und  Wirken,  zwar  vielfach  künstlerisch  ausgeschmückt  und 
von  Begeisterung  verklärt^,  aber  in  der  Hauptsache  sorgsam  aus  den 
Quellen  geschöpft,  wie  sie  nur  dem  „letzten  Schüler"  zu  Gebote  standen. 

So  bezeichnet  Salvinis  Veröffentlichung  für  Galileis  Andenken 
den  Anfang  einer  Periode  der  Wiederbelebung.  Schon  im  folgenden 
Jahre  erschien  in  Florenz,  unter  der  Leitung  zweier  hervorragender 
Mathematiker,  eine  neue,  wesentlich  vervollständigte  Ausgabe  der 
Werke,  an  deren  Spitze  nochmals  Vivianis  Biographie.  Die  Vervoll- 
ständigung der  Florentiner  Ausgabe  umfaßte  einen  nicht  geringen 
Teil  der  bis  dahin  ungedruckten  von  Viviani  gesammelten  Schriften; 
unter  diesen  erschien  hier  zum  erstenmal  der  wichtige  Brief  über  die 
Entdeckimg  der  Fallgesetze,  den  Galilei  an  Paolo  Sarpi  gerichtet 
hat,  —  der  Name  Sarpi  blieb  dabei  ungenannt. 

Auch  in  dieser  zweiten  Ausgabe  fehlen  die  Schriften,  die  sich 

1  8.  Anhang  I. 


—     243     — 

auf  die  copernicanischc  Lehre  beziehen.  In  der  gelehrten  Einleitung 
von  Tommaso  Buonaventuri  wird  der  „Dialoge"  gedacht,  um  das 
mißdeutende  Wort  eines  Kritikers  abzuwehren;  aber  der  Verfasser 
findet  es  angemessen,  dabei  selbst  dun  Namen  des  Buches  ungenannt 
zu  lassen,  nur  von  „anderen  Dialogen"  ist  die  Rede;  und  die  Ansicht, 
die  nach  den  Worten  des  Verfassers  Galilei  in  dem  vierten  dieser 
„anderen"  Dialoge  vertritt,  ist  von  ihm  bis  zur  Unverständlichkcit 
verdunkelt.  Statt  von  einer  Entstehung  der  Meeresflut  durch  die 
Bewegung  der  Erde  spricht  er  von  der  ,, Bewegung  der  Gewässer 
durch  das  Primum  mobile". 

Noch  immer  waren  die  Dekrete  gegen  die  copernicanische  Lehre, 
die  kirchliche  Verurteilung  der  Galileischen  „Dialoge  über  die  beiden 
Hauptweltsysteme"  in  voller  Kraft.  Vergebens  hatte  Leibniz  bei 
seiner  Anwesenheit  in  Rom  dafür  zu  wii'ken  gesucht,  daß  in  einer 
Angelegenheit,  die  ihm  so  völlig  ungefährlich  schien,  der  Wissenschaft 
freier  Raum  gelassen,  daß  die  Verdammungs urteile  aufgehoben  oder 
doch  nicht  in  Anwendung  gebracht  und  so  in  der  Stille  beseitigt 
würden.  Wie  vor  Zeiten  Galilei,  wies  auch  Leibniz  die  einflußreichen 
Männer,  mit  denen  er  verkehrte,  darauf  hin,  daß  es  im  Interesse  der 
Kirche  liege,  nicht  bei  Unwissenden  die  Meinung  aufkommen  zu 
lassen,  sie  beschütze  Unwissenheit  und  Irrtum.  Klar  erkannte  der 
große  Mann,  daß  die  Unterdrückung  der  Denkfreiheit  wie  ein  Alp 
auf  den  besten  Geistern  Italiens  lastete,  aber  seine  Bemühungen, 
ihnen  zu  helfen,  waren  ohne  Erfolg.^ 

Wenn  man  in  Rom  nach  wissenschaftlichen  Beweisen  gefragt 
hätte,  so  wäre  Bradleys  1729  veröffentlichte  Entdeckung  der  Aber- 
ration des  Lichts,  durch  die  für  alle  Kundigen  die  Bewegung  der  Erde 
um  die  Sonne  außer  Zweifel  gestellt  wurde,  für  die  Notwendigkeit 
eines  Widerrufs  entscheidend  gewesen;  es  ist  nicht  bekannt,  daß  man 
in  den  Kongregationen  von  derartigen  Fortschritten  der  Wissenschaft 
Notiz  genommen  hätte.  Die  „Dialoge  über  die  beiden  Hauptwelt- 
systeme" blieben  nach  Bradleys  Entdeckung  noch  ein  Jahrhundert 
hindurch  ein  verbotenes  Buch.  Dagegen  scheint  nach  dem  Tode 
Cosimos  III.  Galileis  Person  gegenüber  eine  mildere  Stimnmng  Raum 
gefunden  zu  haben.   Von  Einfluß  ist  dabei  vermutlich  gewesen,  daß 

^  Vergl.  den  Brief  von  Leibniz  an  Antonio  Magliabecchi  vom  30.  Okt. 
1699  in  Clarorum  Germanorum  epistolae  ad  A.  Magliabecchium  nonnullosque 
alioB. 

16* 


—     244     — 

in  Florenz  der  letzte  Großherzog  aus  dem  Hause  der  Medici  einer 
freieren  Richtung  zugeneigt  war,  und  daß  auch  in  Rom  sowohl  der 
Papst  wie  der  einflußreichste  Kardinal  dem  Florentiner  Hause  der 
Corsini  angehörten,  in  dem  eine  wohlwollende  Gesinnung  gegen  Galilei 
bewahrt  wurde.  ^  Diese  Verhältnisse  ermutigten  die  Vormünder  des 
jungen  Clemens  IS^elli,  an  den  im  Jahre  1733  Vivianis  Erbschaft  ge- 
fallen war,  die  Bestimmung  des  Testaments  über  die  Errichtung 
eines  Denkmals  für  Galilei  in  der  Kirche  Santa  Croce  zur  Ausführung 
zu  bringen.  Die  Vorbedingung  dafür  war  auch  jetzt  noch  die  Zu- 
stimmung der  Inquisition.  So  begab  sich  im  Juni  1734  der  Kavalier 
Neroni  zum  Florentiner  Inquisitor,  um  zu  erfahren,  ob  eine  Anordnung 
der  römischen  General-Kongregation  der  Errichtung  im  Wege  stehe. 
Da  sich  trotz  sorgfältigen  Suchens  im  Archiv  eine  solche  Anordnung 
nicht  fand,  richtete  der  Inquisitor,  Bruder  Paolo  Antonio  Ambrogi 
an  die  General-Kongregation  in  Rom  die  Frage:  wie  er  sich  zu  ver- 
halten habe.  Er  versäumte  nicht,  dabei  zu  betonen,  daß  es  sich  um 
ein  Denkmal  für  jemand  handle,  der  seiner  notorischen  Irrtümer 
wegen  verurteilt  sei.  Die  Antwort  lautete:  „Der  Inquisitor  möge  die 
Errichtung  des  Denkmals  ungehindert  geschehen  lassen,  dagegen 
möge  er  dafür  sorgen,  daß  ihm  die  beabsichtigte  Inschrift  mitgeteilt 
werde  und  sie  der  Heiligen  Kongregation  übermitteln,  damit  dieselbe 
vor  der  Ausführung  die  angemessenen  Befehle  erteilen  könne.  "^ 

Drei  Jahre  später,  am  12.  März  1737,  fand  die  feierliche  Über- 
führung der  Überreste  Galileis  und  Vivianis  nach  dem  Ort  des  neu- 
errichteten Mausoleums  im  linken  Schiff  der  Kirche  St.  Croce  statt. 
Alles,  was  Florenz  an  Gelehrten  und  Freunden  der  Wissenschaft 
umfaßte,  hatte  sich  bei  dieser  Gelegenheit  vereint,  um  in  später  Huldi- 
gung eine  fast  hundertjährige  Vernachlässigung  zu  sühnen. ^ 

Zur  Erinnerung  an  den  Tag,  der  ihr  ein  lange  ersehntes  Ende 
setzte,  wurde  von  den  Mitgliedern  der  Florentiner  Akademie  an  der 


^  Zwei  Corsini  stehen  unter  der  Zahl  der  72  angesehenen  Florentiner, 
die  unmittelbar  nach  Galileis  Tode  auf  Vivianis  Aufforderung  Beiträge  für 
ein  ehrenvolles  Denkmal  zeichneten. 

2  Ed.  Naz.  XIX  p.  398;  Cioni,  J.  Documenti  Galileiani  del  S.  Uffizio 
di  Firenze  1908  p.  75—76. 

'  Über  den  Vorgang  wurde  ein  ausführliches  notarielles  Protokoll  auf- 
genommen, das  in  Neblis  Vita  di  Galileo  Galilei  p.  878  u.  f.  abgedruckt  und 
von  Alberi  XV  p.  407  u.  f.  reproduziert  ist. 


—     245     — 

Stätte,  die  bis  dahin  Galileis  Grab  umschlossen  hatte,  die  folgende 
Inschrift  angebracht: 

„Den  Leib  des  großen  Mannes,  von  dessen  Geist  herrliche  Monu- 
mente aller  Orten  den  Sterblichen  Kunde  geben,  haben  fast  ein  Jahr- 
hundert lang  nicht  ohne  Tränen  Gelehrte,  Bürger  und  Fremde,  soviel 
ihrer  in  Florenz  waren,  ungeehrt  hier  liegen  sehen.  Im  Jahre  1737 
endlich,  am  12.  März  abends,  wurde  er  von  hier  entnommen,  um 
an  würdigerem  Orte  bestattet  zu  werden." 

Die  Worte,  die  dem  neuen  Grabdenkmal  unter  der  Statue  Galileis 
eingefügt  wurden,  lauteten: 

Galileo  Galilei 
der  Geometrie,  Astronomie.  Philosophie  großer 
Wiederhersteller, 
keinem  seiner  Zeit  vergleichbar, 
ruhe  hier  in  Frieden. 

In  der  nüchternen  Allgemeinheit  dieser  Lobeserhebungen  hat  die 
Inquisition  keinen  Anlaß  zum  Widerspruche  gefunden. 

So  war  das  Eis  gebrochen.  Für  die  Florentiner  wenigstens  hatte 
das  Urteil  vom  21.  Juni  1633  seine  Schärfe  verloren,  seitdem  die 
Gebeine  des  verfolgten  Mannes  in  die  geweihten  Räume  aufgenommen 
waren,  in  denen  Niccolo  Magliabecchi  und  Michelangelo  Buonarotti 
ruhten. 

Auch  jetzt  noch  war  es  nicht  Florenz,  sondern  Padua,  wo  man 
den  Plan  einer  neuen  Ausgabe  der  Galileischen  Werke  ins  Auge  zu 
fassen  wagte,  in  der  die  „Dialoge  über  die  beiden  Hauptweltsysteme" 
nicht  fehlen  sollten.  Es  war  der  Abt  Guiseppe  Toaldo,  der  noch  in 
jungen  Jahren  sich  die  Aufgabe  stellte,  zu  verwirklichen,  was  Viviani 
gewollt  und  solange  vergebens  erstrebt  hatte.  Allerdings  hätten  der 
Mut  und  die  Ausdauer  des  einzelnen  Mannes  zur  Ausführung  einer 
solchen  Absicht  nicht  genügt,  wenn  nicht  in  Rom  unter  Benedikt  XIV. 
die  Erkenntnis  gereift  wäre,  daß  die  Verfügungen  aus  den  Jahren 
1616  und  1633  nicht  länger  aufrecht  zu  erhalten  seien.  Dem  Namen 
nach  war  es  der  Inquisitor  von  Padua,  der  Pater  Paolo  Antonio 
Ambrogi\  dessen  Erklärung  die  Venetianische  Staatsbehörde  über- 

^  Es  ist  offenbar  derselbe  P.  Ambrogi,  der  als  Inquisitor  von  Florenz 
im  Jahre  1734  wegen  der  Errichtung  des  Denkmals  für  Galilei  bei  der  römischen 
Generalkongregation  angefragt  hatte.  Vergl.  M.  Cioni  Documenti  GalUeiani 
del  S.  Ufficio  di  Firenze  p.  75. 


—     246     — 

zeuptP,  daß  Galilris  Buch  nichts  enthalte,  was  dem  heiligen  katho- 
lischtMi  Glauhon  zuwidcM-laiifo.  und  daß  deshalb,  da  in  ihm  außerdem 
auch  nichts  .u^eijen  Fürsien  und  ,u:iite  Sitten  cfefunden  wurde,  der  Druck 
zu  erlauben  sei.  Aber  die  Worte,  die  ati  der  Spitze  des  vierten  Bandes 
der  Paduaner  Ausi'abe  dem  Abdruck  der  ,,Dialop:o"  vorangestellt 
sind,  bezeichnen  in  unzweideutiger  Weise  eine  Entscheidung,  wie  sie 
nur  in  Rom  getroffen  werden  konnte. 

„Dieser  hochberühmte  Dialog,"  sagt  das  Vorwort  an  den  Leser, 
„der  so  oft  in  unerlaubter  Weise  gedruckt  worden,  erscheint  hier 
endlich  zum  freien  Gebrauch  für  jedermann  mit  den  gebührenden 
Erlaubnissen." 

Wie  immer  die  nachfolgeiulen  Sätze  diesen  feierlichen  Eingang 
abschwächen  mögen  —  indirekt  wenigstens  verkündet  er  eine  Auf- 
hebung des  Verbots  von  1633.  Die  Annahme,  daß  nur  im  Palast  der 
römischen  Generalkongregation  der  Inquisition  ein  Beschluß  in 
diesem  Sinne  gefaßt  sein  könne,  A\ird  durch  ein  Protokoll  bestätigt, 
das  erst  vor  kurzem  aus  dem  xirchiv  der  römischen  Inquisition  ver- 
öffentlicht worden  ist.^ 

Das  Protokoll  vom  9.  Oktober  1741  ergibt,  daß  der  Inquisitor 
von  Padua  in  einem  an  die  Gencralkongregation  gerichteten  Schrei- 
ben vom  29.  September  mitgeteilt  hatte:  Die  Drucker  des  Paduaner 
Seminars  haben  ilm  um  die  Erlaubnis  zum  Wiederabth-uck  sämt- 
licher Werke  des  Galileo  Galilei  ersucht,  unter  der  Verpflichtung, 
alle  Erklärungen  abzuckucken,  die  von  der  Heiligen  römischen  Kon- 
gregation der  Inquisition  ihnen  vorgeschrieben  werden  würden,  und 
unter  den  sonstigen  in  dem  Briefe  angegebenen  Bedingungen.  _ 

Als  der  Brief  in  Rom  eintraf,  befanden  sich  die  Kardinäle  der 
Grencralkongregation  außerhalb  der  Stadt,  aber  es  scheint,  daß 
Papst  Benedikt  XIV.,  der  seit  Jahresfrist  den  Heiligen  Stuhl  einnahm, 
eine  sofortige  Erledigung  der  Angelegenheit  für  angemessen  gehalten 
und  deshalb  ohne  die  Rückkehr  der  Kardinäle  abzuwarten,  einer 
Kongregation  der  Konsultoren  der  Inquisition  die  Beantwortung  des 


1  Ed.  Naz.  XIX  p.  292. 

Das  Protokoll  war  in  der  früheren  Veröffentlichung  von  Auszügen  aus 
dem  Archiv  der  römischen  Inquisition  von  Silvestro  Gherardi  (1870)  nicht 
enthalten.  Es  Lst  —  soviel  ich  sehe  —  das  einzige  inhaltlich  Neue,  was  die 
autorisierte  Veröffentlichung  der  Ed.  Nazionale  jener  älteren  unerlaubten 
hinzufügt. 


—     247     — 

Schreibons  übortratron  hat.  Es  waren  also  nach  dem  Willen  des 
Papstes  die  Sachvorstäiidii^en  dos  Hoilij^on  Officiunis,  die  in  diesem 
Falle  nicht  nur  die  Sachlae^e  der  Prüfung,'  unterzon^en,  sondern  auch 
selbständit:  die  iMifschcidinii;  trafen.  Sie  boschlosson,  dem  Paduanor 
Inquisitor  zu  erwidern:  er  müf^e  den  Druck  der  Galileischen  Werke 
erlauben,  jedoch  dabei  die  Kinhaltun"^  der  Bedingungen  fordern,  die 
in  seinem  IJriefe  bezeichnet  waren. 

Die  ,, Dialoge"  sind  in  der  Erwiderung  der  Konsultoron,  wie  sie 
uns  vorliof,^.  nicht  ausdrücklich  angeführt,  doch  ist  außer  Frage,  daß 
durch  den  Beschluß,  den  Abdruck  ,, aller  Werke'"  zu  gestatten,  die 
Vertreter  der  röniisch(Mi  (ieneralkoni^^reifatidii  ihr  Einverständnis 
damit  zu  verstehen  gaben,  daß  unter  den  übrigen  auch  das  verbotene 
Werk  von  neuem  abgedruckt  würde  und  daß  dies  unter  den  Bedingungen 
geschehe,  die  dem  Paduanor  Inquisitor  zweckmäßig  erschienen. 

Was  waren  die  Bedingungen,  unter  denen  im  Jahre  1744  die 
„Dialoge"  als  ein  Buch,  das  nichts  gegen  den  katholischen  Glauben 
enthielt,  dem  allgemeinen  Gebrauch  wieder  zugänglich  gemacht  wurden 
und  denen  der  Abt  Toaldo  sich  zu  unterwerfen  hatte,  als  er  für  seinen 
vierten  Band  das  Imprimatur  erhielt? 

Die  Inhaltsübersicht  sagt  es  in  lakonischer  Kürze.    Sie  lautet: 

Condanna  del  Galileo 
Dissertazione  del  P.  Calmet 
Giornata  Prima 
Giornata  Seconda  usw. 

Dieser  Angabe  gemäß  liest  man  an  der  Spitze  des  vierten  Bandes 
der  Paduanor  Ausgabe  das  Urteil  der  römischen  Inquisition  vom 
21.  Juni  1633  in  Ricciolis  lateinischer  Übersetzung,  dazu  Galileis 
Erklärung,  durch  die  er  die  Lehre  von  der  Beweguns:  der  Erde  ver- 
leugnet und  verwünscht.  Dann  folgt  die  italienische  Übersetzung 
der  Abhandlung  des  P.  Augustin  Calmet  „über  das  Weltsystem  der 
alten  Hebräer''  und  dieser  der  Abdruck  der  vier  Tage  des  Galileischen 
„Dialogs  über  die  beiden  Hauptweltsysteme''. 

Von  besonderem  Interesse  ist  in  dieser  Anordnung  die  Einschal- 
tung der  Dissertazione  des  P.  Calmet  z^^^schen  der  Abschwörungs- 
formel  und  dem  ..Dialog".  Calmots  Schrift  erörtert  in  ähnlicher  Weise 
wie  vor  mehr  als  einem  Jahrhundert  Galilei  und  Kepler,  Foscarini 
und  Campanella,  daß  die  Heiligen  Schriften  in  allem,  was  auf  Fragen 


—     248     — 

der  Physik  und  Astronomio  Bezug  hat,  sich  dem  Verstand  der  Menge 
anbequeme,  auf  die  sie  wirken  wollen,  was  sie  demgemäß  an  kosmischen 
Vorstellungen  enthalten,  sei  —  wie  an  vielen  Einzelheiten  nach- 
ge\\iesen  wird  —  weit  entfernt,  dem  System  des  Ptolemäos  zu  ent- 
sprechen, stimme  vielmehr  im  wesentlichen  mit  den  ersten  Anfängen 
einer  Weltauffassung  überein,  wie  sie  aus  der  Sinneswahrnehmung 
des  wissenschaftlich  unbelehrten  Menschen  hervorgeht  und  deshalb 
auch  von  den  Vorstellungen  der  Philosophen  anderer  alten  Völker 
nicht  wesentlich  verschieden  ist.  In  dieser  wissenschaftlich  betrachtet 
rohen  Auffassungsweise  redeten  auch  die  biblischen  Schriften,  weil 
sie  nur  so  für  ihre  höheren  Zwecke  möglichst  zahlreiche  Hörer  ge- 
winnen konnten.  Es  ist  demnach  diesen  Schriften  die  Wahrheit  in 
Fragen  der  Wissenschaft  nicht  zu  entnehmen,  noch  weniger  aber 
kann  es  deshalb  gestattet  sein,  wenn  spätere  Forschungen  als  unrichtig 
erscheinen  lassen,  was  sie  über  natürliche  Dinge  aussagen,  deswegen 
ihre  Berichte  auch  da  für  weniger  glaubwürdig  zu  halten,  wo  sie  ihren 
eigentlichen  Gegenstand,  das  Heil  der  Seelen  berühren. 

Was  immer  die  Wissenschaft  über  die  Bewegung  der  Erde  lehre 
—  das  war  der  Kern  dieser  Ausführungen  —  und  wie  weit  demnach 
ihre  Ergebnisse  sich  von  der  Naturanschauung  der  Bibel  entfernen 
mögen:  nimmermehr  kann  und  darf  daraus  ein  Grund  entnommen 
werden,  an  dem  göttlichen  Ursprung  der  Heiligen  Schriften  und  an 
der  o\\igen  Wahrheit  dessen  zu  zweifeln,  was  sie  in  bezug  auf  die 
Angelegenheiten  des  Glaubens  lehren. 

Offenbar  war  es  dieser  Grundgedanke,  um  dessentwillen  die  Ab- 
handlung des  Pater  Calmet  der  kirchlichen  Behörde  vorzugsweise 
geeignet  erschien,  zur  Verhütung  arger  Mißverständnisse  Galileis 
„Dialogen"  vorangestellt  zu  werden,  sobald  man  für  angemessen 
hielt,  ein  Buch,  das  die  Bewegung  der  Erde  als  Wahrheit  zu  erweisen 
sucht,  der  Öffentlichkeit  nicht  länger  vorzuenthalten.  Schwerlich  ist 
man  sich  dabei  klar  darüber  gewesen,  daß  durch  die  Auseinander- 
setzungen des  Pater  Calmet  gleichzeitig  die  Berechtigung  der  Dekrete 
gegen  die  copernicanische  Lehre  und  der  Verurteilung  Galileis  wegen 
Zuwiderhandlung  gegen  eben  diese  kirchlichen  Entscheidungen  in 
Frage  gestellt  wurde  und  daß  somit  dem  unbefangen  Vergleichenden 
die  Möghchkeit  geboten  war,  in  der  Sentenz  an  der  Spitze  des  Bandes, 
die  noch  jetzt  den  Glauben  an  die  Bewegung  der  Erde  mit  den  schwer- 
sten Strafen  der  Kirche  zu  bedrohen  schien,  ein  auf  Irrtum  begrün- 


—     249     — 

detes  Urteil  zu  losen.  War  berechtigt  und  wahr,  was  der  fromme 
Benediktiner  über  die  Xaturlehre  der  Bibel  geschrieben  hatte,  dann 
hatte  die  Inquisition  mit  Unrecht  den  Glauben  an  die  Bewegung  der 
Kn\o  als  haeretisch  betrachtet,  mit  Unrecht  Galilei  als  der  Ilaeresic 
verdächtig  verurteilt. 

Von  solcher  möglichen  Folgerung  und  Nutzanwendung  hält  sich 
freilich  das  Vorwort  des  Paduancr  Plerausgebers  so  fern  wie  möglich. 
„Was  die  Hauptfrage  von  der  Bewegung  der  Erde  betrifft,"  heißt  es 
hier  nach  den  schon  angeführten  einleitenden  Worten,  „so  schließen 
auch  \dr  uns  dem  Widerruf  und  der  Verwahrung  des  Verfassers  an 
und  erklären  auf  das  feierlichste,  daß  diese  Lehre  nicht  anders  denn 
als  rein  nuithematische  Hypothese  zugelassen  werden  kann  und  darf, 
die  dazu  dient,  gewisse  Erscheinungen  leichter  zu  erklären.  Wir 
haben  deshalb  die  Inhaltsangaben  am  Rande  beseitigt  oder  in  hypo- 
thetische Form  gebracht,  so  weit  sie  nicht  durchaus  unentschieden 
waren  oder  schienen,  und  aus  demselben  Grunde  haben  wir  die  Disser- 
tation des  P,  Calmet  hinzugefügt,  in  der  der  Sinn  der  Schriftstellen, 
die  auf  diesen  Gegenstand  Bezug  haben,  dem  allgemeinen  katholischen 
Glauben  gemäß  erklärt  wird." 

Ausdrücklich  schließt  der  Herausgeber  in  seine  Verwahrungen 
die  Zusätze  ein,  die  er  nach  Galileis  handschriftlicher  Eintragung  in 
einem  Exemplar  des  Paduaner  Seminars  in  seinen  Abdruck  der 
„Dialoge"  aufgenommen  hat;  er  wiederholt  für  diese,  was  er  für  den 
ganzen  Dialog  erklärt  hat,  „weil  er  auch  nicht  im  kleinsten  von  den 
verehrten  Vorschriften  der  Heiligen  römischen  Kirche  abweichen  will". 

So  sollte  denn  mit  kirchlicher  Erlaubnis  der  Dialog  gelesen  werden 
können,  wie  Galilei  ihn  geschrieben  hatte,  aber  auch  jetzt  noch  nach 
allen  außerordentlichen  Fortschritten  der  Wissenschaft  sollte  man 
wie  in  Galileis  Tagen,  die  Gründe  für  die  Wahrheit  kennenlernen 
und  für  verboten  halten,  sie  als  Wahrheit  anzuerkennen.  Und  der 
Herausgeber  vom  Jahre  1744  unterwirft  sich  diesem  Zwange,  den 
hundertunddroißig  Jahre  zuvor  Galilei  unerträglich  gefunden  und 
doch  ertragen  hatte. 

Belanglos  ist  —  was  aus  den  heute  zugänglichen  Quellen  nicht 
entschieden  werden  kann  — ,  ob  etwa  Abt  Toaldo,  um  das  Wesent- 
liche, die  Aufnahme  der  Dialoge  in  die  Gesamtausgabe  zu  erreichen, 
im  Geiste  seines  Zensors  ausgedacht  und  angel)oten  hat,  was  diesem 
als  Bedingung  der  Erlaubnis  befriedigend  erscheinen  konnte,  ob  er 


—     250     — 

zögernd  oder  widerwillig  seiner  Forderung  nachgegeben  oder  ob  viel- 
leicht in  gemeinsamer  Erörterung  beider  die  seltsame  Form  der  Ver- 
öffentlichung zustande  gekommen  ist.  Unwahre  Verhüllung  war  in 
jedem  Falle  auch  jetzt  noch  die  Voraussetzung,  unter  der  die  Wahr- 
heit zu  Worte  kommen  durfte,  Unwahrheit,  was  gefordert  und  zuvor- 
kommend oder  widerstrebend  zugestanden  wurde.  Wie  wenig  es 
dem  Herausgeber  Ernst  damit  war,  sich  auch  dem  Sinne  nach  der 
Entsagung  der  Abschwörungsformel  anzuschließen,  beweist  schon  der 
Gedanke,  der  wohl  auf  seine  Rechnung  geschrieben  werden  muß: 
neben  dem  unveränderten  Text  der  ,, Dialoge"  Galileis  Inhaltsangaben 
am  Rande  in  hypothetische  Form  zu  bringen  und  nötigenfalls  zu 
streichen,  mehr  noch  die  Ausführung  dieses  Gedankens.  Wörtlich 
ist  allerdings  in  dem  Abdruck  der  Dialoge  das  Versprechen  des  Vor- 
worts erfüllt;  wo  irgend  in  den  kurzgefaßten  Angaben  der  Original- 
Ausgabe  über  die  Bewegung  der  Erde  mit  Zuversicht  geredet,  die 
wirklichen  oder  vermeintlichen  Beweise  als  überzeugende  Bestäti- 
gungen der  Wahrheit  gekennzeichnet  werden,  da  ist  durch  die  Korrektur 
die  Ge\dßheit  zur  Vermutung,  der  starke  Beweis  zur  Wahrscheinlich- 
keit abgeschwächt,  die  entschiedene  Behauptung  zur  Andeutung  der 
Möglichkeit  herabgedrückt,  hier  und  dort  vermittelst  eingreifender 
Änderung  des  Wortlauts,  nicht  selten  durch  Einschaltung  oder  Weg- 
lassung eines  einzelnen  Worts,  Wenn  beispielsweise  Galilei  am  Rande 
den  Inhalt  seiner  wichtigsten  Ausführungen  in  die  Worte  zusammen- 
faßt: wenn  an  den  Fixsternen  irgendeine  jährliche  Veränderung 
wahrgenommen  würde,  so  wäre  die  Bewegung  der  Erde  unwider- 
sprechlich  be^^1esen  —  ist  im  Dialog  von  1744  die  völlig  zuversicht- 
liche Behauptung  durch  ein  zwischen  Vorder-  und  Nachsatz  ein- 
geschaltetes se  in  eine  Frage  verwandelt.^  Wo  aber  der  Wortlaut 
durch  Abänderung,  Einschaltung  oder  Auslassung  eines  einzelnen 
Ausdrucks  nicht  leicht  in  gewünschter  Weise  verbessert  werden  kann, 
so  wenn  Galilei  sagt:  „töricht  erscheint,  zu  sagen,  daß  die  Erde  außer- 
halb des  Himmels  ist"^  oder  „die  Sonne  selbst  bezeugt,  daß  die  jähr- 
liche Bewegung  der  Erde  zukommt"^,  da  ist  die  Angabe  am  Rande 


1  Quando  nelle  stelle  fisse  si  scorgesse  alcuna  mutazione  annua,  se  il 
moto  della  Terra  non  patirebbe  contradizione  (Edizione  Naziouale  VII  p.  413, 
Ed.  Padovana  IV  p.  275. 

2  Ed.  Naz.  VII  p.  292,   Padovana  IV  p.  194. 

3  Ed.  Naz.  VII  p.  372,   Padovana  IV  p.  248. 


—     251     — 

voUtsändig  weggelassen.  Jede  vorgenommene  Veränderung  ist  aber 
an  der  betreffenden  Stelle  durch  Sterne  angedeutet;  einer  oder  zwei 
bezeichnen  die  Verbesserung,  vier  die  vollständige  Auslassung.  Da 
nun  aber  die  Veränderungen  nur  die  Inhaltsangabe  betroffen  haben, 
während  die  Erörterungen,  auf  die  sie  sich  beziehen,  im  ursprünglichen 
Wortlaut  stehengeblieben  sind,  so  ist  der  Leser  des  Dialogs  von  1744 
nicht  allein  nicht  gehindert,  mit  Galileis  Beweisführung  zugleich  in 
seinen  Worten  seine  Schätzung  der  vorgetragenen  Argumente  keimen 
zu  lernen,  zu  erfahren,  wo  er  nur  vermutet,  wo  er  glaubt  und 
wo  er  unwidersprechliche  Wahrheit  sieht,  sondern  er  wird  auch  durch 
die  Sterne  am  Rande  ausdrücldich  auf  die  Stellen  hingewiesen,  in 
denen  mehr  oder  minder  kräftig  hervorgehoben  wird,  was  für  die 
Wahrheit  der  Lehre  von  der  Erdbewegung  spricht;  er  braucht  nur 
der  Andeutung  der  vier  Sterne  zu  folgen,  um  zu  finden,  was  zumeist 
Galileis  Überzeugung  begründet  und  befestigt  hat  und  wo  er  sie 
lebhaft  und  rückhaltslos  zum  Ausdruck  bringt.^  Und  sollte  er  neu- 
gierig zu  wissen  verlangen,  wie  die  gestrichene  oder  veränderte  Stelle 
im  Original  gelautet  hat,  so  kann  er  auch  das  ohne  besondere  Mühe 
erfahren;  denn  in  Galileis  Register  sind  die  Inhaltsangaben,  wie  sie 
am  Rande  verzeichnet  stehen,  in  alphabetischer  Anordnung  zusammen- 
gefaßt, und  dies  Register  ist  auch  in  der  Paduaner  Ausgabe  unver- 
bessert  abgedruckt.^ 

Darf  man  glauben,  daß  die  Form,  in  der  so  tatsächlich  die,, Dia- 
loge" gedruckt  wurden,  nicht  durchaus  der  Absicht  der  Inquisition 
entsprach,  so  war  doch  die  freiere  Verwertung  der  einmal  gewährten 
Erlaubnis  durch  den  Herausgeber  ein  verhältnismäßig  Geringes  gegen 
das  Zugeständnis,  das  man  \vissentlich  und  ausdrücklich  in  Rom 
wie  in  Padua  dem  Wandel  der  Zeiten,  der  Wissenschaft  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  gemacht  hatte.   Mochte  der  Vf ortlaut  der  Bedingungen, 


1  In  einzelnen  Fällen  findet  man  die  vier  Sterne  neben  derartigen  Aus- 
führungen auch,  wo  das  Original  keine  Inhaltsangabe  hat,  also  auch  zur  An- 
deutung der  Zensur  keine  Veranlassung  gibt. 

^  Dem  widerspricht  die  Angabe  Venturis  in  seinen  Memorie  e  Letterc 
inedite  di  Galileo  Galilei  Modena  1821  Vol.  II  p.  118,  nach  der  in  der  Paduaner 
Ausgabe  das  Inhaltsverzeichnis  weggelassen  wäre.  Ich  muß  dahingestellt  sein 
lassen,  ob  dies  für  einen  Teil  der  Exemplare  zutrifft.  In  dem  mir  vorliegenden 
Exemplar  der  Hamburger  Stadtbibliothek  ist  der  Index  der  Original- Ausgabe 
von  1632  vollständig  abgedruckt. 


—     252     — 

an  die  man  die  Erlaubnis  knüpfte,  an  die  Erklärungen  und  die  Dekrete 
aus  den  Tagen  Bellarmins  und  Urbans  erinnern  —  die  Lage  der  Dinge 
hatte  ihre  Bedeutung  verändert.  Auch  Galilei  hatte  sich  bereit  erklärt, 
an  seinem  Werke  zu  ändern,  wegzunehmen  und  hinzuzufügen,  was 
man  verlangte;  auch  er  hatte  feierlich  erklärt,  daß  er  nicht  für  wahr 
halte,  was  er  als  wahr  erweist,  und  doch  genügte,  daß  man  fand:  er 
habe  tatsächlich  in  seinem  Buche  die  Bewegung  der  Erde  verteidigt, 
um  ihn  zu  verurteilen  und  sein  Buch  auf  die  Liste  der  verbotenen 
Bücher  zu  setzen. 

Und  nun  erschien  als  ausreichend,  daß  dem  verbotenen  Buch 
ein  Abdruck  des  alten  Verbots  vorangestellt  und  ungefähr  mit  Galileis 
Worten  der  Glaube  an  die  Ki'aft  seiner  Beweisführung  verleugnet 
wurde,  damit  dem  verbotenen  Buch  bescheinigt  wurde,  daß  es  nichts 
gegen  den  katholischen  Glauben  und  nichts  gegen  Fürsten  und  gute 
Sitten  enthalte  und  daß  es  deshalb  mit  allen  kirchlichen  und  staat- 
lichen Erlaubnissen  gedruckt  und  gelesen  werden  könne. 

Mit  allen  Zutaten  und  Verwahrungen  beweist  die  Aufnahme  der 
„Dialoge"  in  eine  Gesamtausgabe  der  Gahleischen  Werke,  daß  die 
Zeit  der  Befreiung  auch  für  die  italienische  Wissenschaft  gekommen 
war;  aber  vollständig  war  freilich  diese  Befreiuung  auch  jetzt  noch 
nicht.  Die  Paduaner  Ausgabe,  die  im  größeren  Teil  ihrer  di"ei  ersten 
Bände  den  Text  der  Florentiner  Zusammenstellung  vom  Jahre  1718 
getreulich  reproduziert,  druckt  auch  die  historisch  ergänzenden  Ab- 
schnitte ab,  in  denen  hier  die  wichtigsten  Tatsachen  der  Beobachtung 
und  der  Erkenntnis  mitgeteilt  waren,  durch  die  Galileis  Nachfolger 
seine  Forschungen  vervollständigt  und  im  einzelnen  berichtigt  hatten. 
Kaum  irgendwo  wäre  zu  derartiger  Ergänzung  dringendere  Ver- 
anlassung gewesen,  als  im  Bereich  der  Forschungen,  die  den  Gegen- 
stand des  hinzugefügten  vierten  Bandes  bilden.  Aber  eine  Zusammen- 
stellung des  Wichtigsten,  was  in  diesem  Gebiet  nach  Galileis  Tode 
geschehen  w^ar,  hätte  von  Fortschritten  berichten  müssen,  durch  die 
der  Glaube  an  die  Wahrheit  sowohl  der  täglichen  ^vie  der  jährlichen 
Bewegung  der  Erde  sich  in  dem  Maße  verstärkt  hatte,  daß  es  kaum 
noch  eine  Astronomie  außerhalb  der  copernicanischen  Lehre  gab. 
Von  solchen  Fortschritten  reden,  sie  in  ihrer  Bedeutung  würdigen, 
hieß  zugleich,  ohne  es  auszusprechen,  verständlich  machen,  daß  man 
mit  Unrecht  Galilei  verurteilt  hatte,  der  sich  zur  Aufgabe  gestellt, 
die  Eärche  vor  irrtümlicher  Entscheidung  zu  bewahren.  Man  versteht. 


—     253     — 

daß  die  Paduanor  Ausgabe  einen  historisch  ergänzenden  Abschnitt 
in  ihrem  vierten  Bande  nicht  enthält. 

Ohne  Zweifel  war  es  jene  außerordentliche  Erweiterung  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis,  um  derentwillen  man  in  Rom  im  Jahre  1741 
für  angemessen  hielt,  den  Abdruck  der  verbotenen  „Dialoge"  zu  ge- 
statten. Um  des  gleichen  Grundes  willen  den  Irrtum  der  früheren 
Entscheidungen  zuzugestehen,  das  Verbot  ausdrücklich  zurück- 
zunehmen, hielt  man  nicht  für  zulässig.  So  ergab  sich  der  dreifache 
Widersinn  einer  Veröffentlichung,  wie  ihn  der  vierte  Band  der  Paduaner 
Ausgabe  bietet,  des  wörtlichen  Abdrucks  eines  verbotenen  Buches, 
das  man  durch  die  vorangestellte  Sentenz  für  nach  wie  vor  verboten 
und  doch  in  aller  Form  für  erlaubt  erklärte,  der  Einschaltung  einer 
autorisierten  Erörterung  über  die  Naturlehre  der  Bibel,  die  die  Aus- 
führungen der  wörtlich  mitgeteilten  Sentenz  der  römischen  General- 
kongregation und  des  in  ihr  enthaltenen  Verbots  verfehlt  erscheinen 
ließ,  der  nachch'ücklichen  Beschränkung  der  Zulassung  der  coper- 
nicanischen  Lehre  auf  hypothetische  Benutzung  in  den  Vorbemer- 
kungen zu  einem  Buche,  das  in  allen  Teilen  ihre  Wahrheit  verteidigte 
und  das  in  einem  Augenblicke,  wo  man  den  Beweisen  für  die  Wahr- 
heit sich  nicht  länger  zu  entziehen  vermochte. 

Eine  einfache  Konsequenz  der  Überlegungen,  die  zur  Entschei- 
dung vom  Jahre  1741  geführt  hatten,  war  der  Beschluß,  den  am 
10.  Mai  1757  im  letzten  Lebensjahr  Benedikts  XIV.  die  Kongre- 
gation des  Index  faßte.  Seit  der  Verurteilung  der  copernicanischen 
Lehre  hatten  sämtliche  Ausgaben  des  Index  der  verbotenen  Bücher 
im  Anschluß  an  die  namhaft  gemachten  Werke  des  Copernicus 
und  seiner  bekanntesten  Anhänger  als  gleichfalls  verboten  bezeichnet: 
„sämtliche  Bücher,  die  dasselbe  lehren".  Als  nun  im  Jahre  1757  eine 
neue  Ausgabe  des  Index  erforderlich  geworden  war,  wurde  unter 
Zustimmung  Benedikts  XIV.  beschlossen,  dies  allgemeine  Verbot  der 
Bücher,  die  die  Bewegung  der  Erde  lehren,  wegzulassen.  Die  im 
folgenden  Jahre  erschienene  neue  Ausgabe  des  Index  enthält  dem- 
gemäß das  allgemeine  Verbot  nicht  mehr;  ausdiäicklich  verboten 
blieben  dagegen  wie  zuvor  das  Werk  des  Copernicus,  Keplers  Epitome 
Astronomiae  Copernicanae,  die  Schriften  des  Foscarini  und  Didacus 
a  Stunica  und  Galileis  Dialoge. 

War  denn  nun  verboten  oder  erlaubt,  die  Bewegung  der  Erde 
zu  lehren  oder  sich  zur  Lehre  des  Copernicus  zu  bekennen?  —  so 


—     254     — 

konnte  zweifeln,  wer  in  der  Padiianer  Ausgabe,  ohne  besonderer 
kirchlicher  Erlaubnis  zu  bedürfen,  Galileis  Beweisführung  kennen- 
lernte und  dann  doch  aus  eben  diesem  Band  erfuhr,  daß  er  Verbotenes 
und  von  Galilei  selbst  Verleugnetes  gelesen  habe  und  daß  man  von 
der  Erdbewegung  nur  wie  von  einer  mathematischen  Hypothese  reden 
dürfe.  Und  mehr  noch  mußte  er  sich  unlösbarem  Zweifel  preisgegeben 
sehen,  wenn  er  nunmehr  erfuhr,  daß  keineswegs  alle  Bücher  verboten 
sein  sollten,  die  von  der  Bewegung  der  Erde  reden  oder  diese  Bewegung 
lehrend  vortragen  und  daß  doch  Copernicus,  Kepler  und  —  trotz 
der  Paduaner  Ausgabe  —  Galileis  Dialoge  verboten  bleiben  sollten. 

So  hat  man  in  der  Tat  bis  ins  19.  Jahrhundert  hinein  gezweifelt. 
Es  fand  sich  in  jenen  Tagen  unter  den  italienischen  Gelehrten  niemand, 
der  die  Unwürdigkeit  dieses  Zustandes  halber  Freiheit  stark  genug 
empfunden  hätte,  um  auch  nur  in  Worten  sich  dagegen  aufzulehnen, 
niemand,  den  Galileis  Leidenschaft  für  die  Wahrheit  beseelte,  nie- 
mand, der  auch  nur  wie  Vincenzio  Viviani  in  Furchtsamkeit  und 
Unterwürfigkeit  unermüdlich  das  erstrebte  Ziel  verfolgt  hätte. 

Nur  von  einem  Franzosen,  dem  Astronomen  Lalande  weiß  man, 
daß  er  im  Jahre  1765  bei  einem  Aufenthalt  in  Rom  sich  dafür  ver- 
wandt hat,  daß  Galileis  ,,Dialog"i  aus  der  Zahl  der  verbotenen  Bücher 
gestrichen  werde.  Lalande  berichtet,  daß  der  Kardinalpräfekt  der 
Indexkongregation  ihm  auf  eine  Anregung  in  diesem  Sinne  ent- 
gegnet habe:  gegen  Galilei  sei  ein  Dekret  der  Kongregation  des  Hei- 
ligen Officiums  ergangen,  das  zuvor  geändert  werden  müßte}  Papst 
Clemens  XHL,  dem  Lalande  davon  sprach,  schien  ihm  sehr  geneigt, 
„um  der  Wissenschaft  und  der  Gelehrten  willen"  auf  die  Änderung 
einzugehen,  aber  Lalande  hatte  nicht  die  Zeit,  „eine  Verhandlung 
zum  Ziele  zu  führen,  deren  Entscheidung  von  zuviel  einzelnen  Per- 
sonen abhing". 

Seine  Erzählung  beweist,  daß  im  wesentlichen  formelle  Hinder- 
nisse einer  Beseitigung  der  Unsicherheit  im  Wege  standen,  unter 
der  auch  nach  der  Aufhebung  des  allgemeinen  Verbots  italienische 
Gelehrte  zu  leiden  hatten,  die  sich  mit  der  Kirche  nicht  in  Wider- 
spruch setzen  w^oUten.  Daß  bis  ins  volle  19.  Jahrhundert  hinein 
diese  Unsicherheit,  aber  auch  die  Geistesabhängigkeit  der  Gelehrten 
bestand,  die  an  ihr  den  Hauptanteil  hatte,  beweist  die  Mailänder 


1  Lalande  sagt  „Galileis  Werke". 


—     255     — 

Ausgabe  der  Galilcischen  Werke,  die  in  ihrem  11.  und  12.  Bande 
im  Jahre  1808  die  „Dialoge  über  die  beiden  Hauptweltsysteme" 
in  genau  derselben  Form  und  Umrahmung  brachte,  wie  der  vierte 
Band  der  Ausgabe  von  Padua  sie  dargeboten  hatte.  Die  Herausgeber 
hatten,  wie  sie  in  einem  Vorwort  mitteilen,  ursprünglich  an  eine 
neue  Anordnung  der  Werke  gedacht,  hatten  sich  auch  dafür  die  Unter- 
stützung tüchtiger  Mathematiker  gesichert;  sie  fanden  aber,  als  sie 
ans  Werk  gingen,  das  Unternehmen  zu  sch^nerig.  Auf  den  Rat  des 
Abts  Francesco  Venini  kamen  sie  zu  dem  Entschlüsse,  von  der 
Paduaner  Ausgabe  in  keiner  Weise  abzuweichen.  So  findet  man  denn 
auch  in  dieser  vierten  Ausgabe  vor  den  ,, Dialogen"  das  Urteil  der 
Inquisition,  das  sie  verbietet,  und  Galileis  Erklärung,  in  der  er  die 
eigene  Lehre  verwirft  und  verwünscht,  aber  auch  die  Erklärung  des 
Paduaner  Herausgebers,  die  sich  dieser  Verurteilung  anschließt,  und 
die  Abhandlung  des  Pere  Calmet,  der  man  entnehmen  kann,  daß 
zur  Verurteilung  der  copernicanischen  Lehre  und  zum  Verbot  der 
„Dialoge",  die  sie  verteidigten,  kein  Grund  vorhanden  gewesen  war. 

Es  ist  kaum  möglich,  die  stumpfe  Indolenz,  zu  der  unter  der 
Herrschaft  der  Inquisition  das  Geistesleben  in  weiten  Kreisen  des 
italienischen  Volkes  hinabgedrückt  war,  schärfer  zu  charakterisieren 
als  durch  diese  gleichgültige  Wiederholung  der  widersinnigen  Ver- 
öffentlichung von  1744  nach  einem  weiteren  halben  Jahrhundert  des 
gewaltigsten  Fortschritts  der  Wissenschaft.  Auch  im  Jahre  1808 
hielt  man  sich  in  Mailand  nur  dann  für  sicher,  nicht  Unerlaubtes  zu 
wagen,  wenn  man  über  die  damals  gezogenen  Grenzen  nicht  hinaus- 
ging- 

Und  doch  beweisen  die  Beispiele  vereinzelter  unabhängiger  oder 
wenigstens  minder  abhängiger  italienischer  Denker,  daß  es  in  jenen 
Tagen  auch  unter  der  Herrschaft  der  Inquisition  nur  darauf  ankam, 
mehr  zu  wagen,  um  mehr  erlaubt  zu  finden.  Ohne  von  den  kirch- 
lichen Behörden  behindert  zu  sein,  wagte  Guglielmini  in  Bologna, 
durch  Fallversuche  die  tägliche  Bewegung,  Calandrelli  durch  Be- 
mühungen um  die  Bestimmung  der  Parallaxe  der  Fixsterne  die  jähr- 
liche Bewegung  der  Erde  als  Wahrheit  zu  erweisen,  so  daß  nun  endlich 
auch  italienische  Namen  sich  der  langen  Reihe  der  Forscher  an- 
schließen, die  nach  Galileis  Tode  fast  ausschließlich  außerhalb  Italiens 
die  Erkenntnis  des  Copernicus  zur  festen  Grundlage  aUer  natur\vissen- 
schaftlichen   AVeltanschauung   erweitert  hatten.     Noch   immer  aber 


—     256     — 

war  der  Aufhebung  des  ganz  allgemeinen  Verbots  nicht  die  unbedingte 
Erlaubnis  gefolgt,  die  halbe  Befreiung  nicht  zur  vollen  Freiheit  des 
Denkens  über  das  Weltgebäude  ergänzt;  eine  neue  Ausgabe  des  Index 
vom  Jahre  1819  brachte,  wie  ihre  Vorgänger  seit  dem  Jahre  1616, 
die  Titel  der  fünf  Werke  als  nach  wie  vor  verboten. 

So  konnte  auch  noch  im  selben  Jahr  1819  der  Meister  vom  Hei- 
ligen Palast  dem  römischen  Professor  und  Kanonikus  Guiseppe  Settele 
für  den  zweiten  Band  seines  Lehrbuchs  der  Optik  und  Astronomie 
die  Erlaubnis  versagen,  weil  in  demselben  die  Lehre  von  der  Bewegung 
der  Erde  nicht  als  bloße  Hypothese,  sondern  als  wissenschaftliche 
Wahrheit  vorgetragen  war.  Aber  die  Zeit  war  gekommen,  in  der 
auch  in  Rom  der  Widerstand  eines  einzelnen  Mannes  genügte,  um 
die  längst  unhaltbar  gewordenen  Deki'ete  aus  dem  17.  Jahrhundert 
zu  Fall  zu  bringen.  Guiseppe  Settele  war  kein  wagemutiger,  rück- 
sichtsloser Vorkämpfer  der  freien  Wissenschaft.  Er  hatte,  ehe  er 
schrieb,  sich  an  den  Gehilfen  des  Kommissars  der  römischen  Inquisition, 
den  Dominikanerpater  Maurizio  Olivieri  mit  der  Frage  gewandt,  ob 
er  offen  von  der  Bewegung  der  Erde  reden  könnte;  er  hatte  sein 
Buch  geschrieben,  nachdem  Olivieri  bejahend  geantwortet  hatte. 
OUvieri  war  es  dann,  der  ihn  ermutigte,  sich  bei  der  Weigerung  des 
Padre  Maestro  del  Sacro  Palazzo  nicht  zu  beruhigen.  Auf  seinen  Rat 
reichte  Settele  zunächst  beim  Papst  ein  Promemoria  ein,  in  dem  er 
unter  eingehender  Begründung  bat,  die  Inquisition  zur  Prüfung  seines 
Falls  zu  veranlassen.  Seine  Eingabe  führte  zu  den  entscheidenden 
Beschlüssen  vom  September  1822,  durch  die  in  aller  Form  der  Druck 
und  die  Veröffentlichung  solcher  Bücher  gestattet  wurde,  die  nach 
der  gemeinsamen  Ansicht  der  heutigen  Astronomen  von  der  Bewegung 
der  Erde  und  dem  Stillstand  der  Sonne  handeln.^ 

Li  dem  Promemoria,  das  Guiseppe  Settele  der  Generalkon- 
gregation der  römischen  Inquisition  überreicht  hatte,  war  zur  Recht- 
fertigung einer  Entscheidung  in  diesem  Sinne  geltend  gemacht,  daß 
sie  keineswegs  die  entgegengesetzten  zu  Galileis  Zeiten  gefaßten 
Beschlüsse  als  zu  Unrecht  ergangen  erscheinen  lasse,  da  die  coper- 
nicanische  Lehre,  wie  sie  im  19.  Jahrhundert  vorgetragen  werde,  eine 
wesentüch  andere  sei,  als  diejenige,  die  man  zu  jener  Zeit  verurteilt  habe. 


^   Antonio  Favaro,  L'ultima  fase  della  lotta  contra  il  Sistema  Copper- 
nicano  in  Nuovi  Studi  Galileiani,  Venezia  1891  p.  421  u.  f. 


I 


—     257     — 

Was  dann  zu  weiterer  Begründung  dieser  Ansicht  angeführt  wird, 
sind  fast  ausschließlich  solche  Fortschritte  in  der  astronomischen 
und  physikalischen  Erkenntnis,  die  schon  in  der  ersten  Hälfte  des 
18.  Jahrhunderts  gewonnen  waren,  also  Beweise  für  die  zweifache 
Bewegung  der  Erde,  wie  man  sie  mit  gleichem  Recht  fast  hundert 
Jahre  früher  zur  Rechtfertigung  eines  Beschlusses  hätte  anführen 
können,  wie  er  tatsächhch  erst  im  September  1822  gefaßt  wurde. 

So  kann  uns  heute  die  Genugtuung  seltsam  berühren,  mit  der  der 
Kanonikus  Settele  in  seinem  Tagebuch  unter  den  Handlungen,  die 
ihm  zur  Ehre  gereichen,  in  erster  Linie  anführt:  daß  er  zu  jenem  ver- 
späteten Beschlüsse  der  Inquisition  Veranlassung  gegeben  habe.^  Aber 
die  Geschichte  der  beiden  Jahrhunderte,  die  seit  dem  Verbot  von 
1616  verflossen  waren,  rechtfertigt  seine  Selbstzufriedenheit.  Wohl 
standen,  als  er  dem  vereinsamten  Vertreter  einer  abgestorbenen  Welt- 
anschauung entgegentrat,  alle  Wissenden  der  Gegenwart  hinter  ihm, 
aber  er,  als  Einzelner,  hat  ernstlich  gewollt  und  dadurch  bewirkt, 
was  Leibniz  und  Lalande  vergebens  erstrebt  hatten. 

Daß  es  notwendig  sei,  dem  Widerspruch  gegen  die  Wissenschaft 
ein  Ende  zu  machen,  hatte  man  in  Rom  begriffen,  den  begangenen 
Irrtum  einzugestehen,  hat  man  sich  nicht  entschließen  können.  In 
der  Stunde,  in  der  man  den  Glauben  an  die  Bewegung  der  Erde  für 
erlaubt  erklärte,  beginnt  das  Bemühen,  in  neuer  Weise  durch  unwahre 
Darstellungen  der  geschichtlichen  Sachlage  das  Verfahren  gegen 
Galilei  und  die  Unterdrückung  seiner  Lehre  als  wohlbegründet  er- 
scheinen zu  lassen.  Zugleich  mit  der  Nachricht  von  dem  ersten  be- 
freienden Beschlüsse  ließ  der  Sekretär  des  Heiligen  Officiums  den 
Kanonikus  Settele  wissen,  daß  die  Kongregation  ihm  anheimgebe, 
in  einer  Einschaltung  in  seinem  Buche  Tatsachen  anzuführen,  die 
zum  Beweise  dafür  dienen,  daß  das  copernicanische  System,  wie  man 
es  zurzeit  verteidige,  von  demjenigen  verschieden  sei,  das  man  als 
Gahleis  Lehre  verurteilt  habe,  das  heißt,  daß  es  nicht  mehr  die  Ab- 
surditäten in  philosophischer  Beziehung  darbiete,  wie  man  sie  zu 
jener  Zeit  darin  fand;  über  die  Abfassung  dieser  Einschaltung  möge 
er  sich  mit  dem  Barnabiten  P,  Grandi  und  dem  P.  Olivieri  ins  Ein- 
vernehmen setzen.  Settele  konnte  um  so  weniger  Bedenken  tragen, 
dieser  Forderung  Folge  zu  leisten,  als  ja  Argumente  verwandter  Art 


1  A.  a.  0.  p.  430. 

Wohlwill,  GaUIei.    II.  17 


—     258     — 

zugunsten  der  Aufhebung  der  Verbote  bereits  in  dem  Gesuch  zur 
Sprache  gebracht  waren,  das  er  im  Einverständnis  mit  dem  P.  Olivieri 
der  Inquisition  überreicht  hatte. 

Es  war  ein  Gedanke  desselben  P.  Olivieri,  unter  dessen  Einfluß 
die  Inquisition  zu  Setteles  Gunsten  entschieden  hatte,  der  in  seiner 
pflichtgemäß  eingeschalteten  Rechtfertigung  der  alten  Dekrete  an 
der  Spitze  steht.  Falsch  und  schriftwidrig  habe  man  damals  die  coper- 
nicanische  Lehre  genannt,  weil  sie,  philosophisch  betrachtet,  wider- 
sinnig erschien,  also  keine  Veranlassung  gab,  die  dem  Anscheine 
nach  widersprechenden  Stellen  der  Schrift  anders  aufzufassen,  als 
bis  dahin  üblich  gewesen  war;  dieser  Widersinn  in  philosophischer 
Beziehung  sei  erst  durch  Torricellis  Entdeckung  der  ,, Schwere  der 
Luft"  beseitigt  worden,  weil  erst  durch  diese  verständlich  geworden, 
daß  die  westöstliche  Rotation  des  Erdkörpers  nicht  durch  ein  be- 
ständiges Wehen  östUcher  Winde  sich  bemerkbar  machen  müsse  usw. 

Als  unwahr  muß  die  so  begründete  Rechtfertigung,  die  noch 
eine  Zeitlang  in  apologetischen  Schriften  eine  RoUe  spielt,  gekenn- 
zeichnet werden,  weil  sie  mit  dem,  was  uns  über  die  Entstehung  der 
Dekrete  von  1616  und  die  Verm-teilung  von  1633  bekannt  ist,  im  stärk- 
sten Widerspruch  steht,  weil  sie  als  Hindernis  des  Verständnisses 
vermeintliche  Konsequenzen  anführt,  die  schon  Galileis  Betrachtungs- 
weise ins  Gebiet  des  Irrtums  verwiesen  hatte,  als  Vermittlerin  besserer 
Einsicht  eine  Entdeckung,  die  für  diese  Aufgabe  ohne  Bedeutung 
ist^,  aber  neben  diesem  aUen  auch  deshalb,  weil  die  angebüch  ent- 
scheidende Erkenntnis,  um  derentwillen  im  19.  Jahrhundert  gestattet 
sein  soUte,  was  in  der  ersten  Hälfte  des  17.  mit  Recht  verboten  wurde, 
in  eben  dieser  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  schon  im  zweiten 
Jahre  nach  Galileis  Tode  aUer  Welt  bekannt  geworden  ist,  ohne  daß 
weder  damals  noch  in  der  Folgezeit  Verteidiger  oder  Widersacher 
der  copernicanischen  Lehre,  geschweige  die  römische  Inquisition  ihr 
die  Bedeutung  zugeschrieben  hätten,  die  ihr  vom  P.  Olivieri  bei- 
gemessen wurde. 

Kann  man  im  Ernst  nicht  glaublich  zu  machen  versuchen,  daß 
ein  früheres  Bekanntwerden  der  meßbaren  Größe  des  Luftdrucks 
auf  die  Entscheidung  der  Qualifikatoren  von  1616  und  der  Richter 


^  Den  Beweis  dafür  hat  Gilberto  G!ovi  in  seiner  Schrift  II  S.  Offizio, 
CJopemico  e  Galileo.    Torino  1872,  besonders  auf  S.  12 — 19,  gegeben. 


—     259     — 

• 

von  1633  irgendwc4chon  Einfluß  ausj^eübt  haben  würde,  so  ist  gleich- 
wenig  mit  dem  bekannten  historischen  Verlauf  die  Annahme  in  Ein- 
klang zu  bringen,  daß  die  Kenntnis  der  Keplerschen  Gesetze  und 
der  Attraktionslehre  Newtons,  von  denen  gleichfalls  Setteles  Ver- 
teidigung redet,  die  Inquisition  gehindert  haben  könnte,  jene  Ent- 
scheidungen gegen  die  copernicanische  Lehre  zu  treffen  und  Jahr- 
hunderte hindurch  aufrecht  zu  halten.  Wahrer  ist,  daß  durch  die 
Folge  derjenigen  Entdeckungen,  die  sich  als  Beweise  für  die  Tat- 
sache sowohl  der  täglichen  wie  der  jährlichen  Erdbewegung  betrachten 
ließen,  die  copernicanische  Lehre  für  die  Welt  eine  andere  Bedeutung 
gewonnen  hatte  und  somit  gewissermaßen  eine  andere  geworden  war, 
als  zu  Galileis  Zeiten ;  aber  unwahr  bleibt,  daß  ohne  diese  Entdeckungen 
nicht  schon  zu  Galileis  Zeiten  und  nach  Galileis  Darstellung  die  größere 
Wahrscheinlichkeit  die  neue  Lehre  empfohlen  hätte,  unwahr,  daß  es 
irgend  etwas,  was  den  Namen  wissenschaftlicher  Prüfung  verdient, 
nicht  Gleichgültigkeit  gegen  die  wissenschaftlichen  Gründe  gewesen 
wäre,  was  damals  die  Verurteilung  möglich  gemacht  und  beinahe 
ein  volles  Jahrhundert  nach  der  Entdeckung  der  Aberration  des 
Fixsternlichts  in  Wirksamkeit  erhalten  hat.  Nicht  die  Beseitigung 
einer  physikalischen  Absurdität  der  copernicanischen  Lehre,  sondern 
die  Einsicht  in  die  Gefahren  einer  absurden  Verleugnung  der  erwiesenen 
Wahrheit  war  es,  was  endlich  im  hellen  Tageslicht  des  19.  Jahr- 
hunderts dazu  führte,  sich  von  der  Nachtgeburt  des  siebzehnten 
loszusagen. 


17' 


Anhang  I. 

Sagenhafte  Ergänzungen  der  Jugendgeschichte.^ 


Den  spärlichen  wohlverbürgten  Daten  zur  Jugendgeschichte 
Galileis  hat  Vincenzio  Viviani,  sein  Schüler  und  erster  Biograph,  eine 
Eeihe  anziehender  Einzelheiten  hinzugefügt,  für  die  ein  Zeugnis  Mit- 
lebender nicht  erhalten  ist,  die  man  jedoch  auf  Grund  jenes  ältesten 
Berichts  allgemein  als  geschichtliche  Tatsachen  betrachtet  und  in 
die  Lebensbeschreibungen  aufgenommen  hat.  Es  bedarf  der  Recht- 
fertigung, daß  in  der  vorstehenden  Erzählung  von  dieser  hergebrachten 
Auffassung  abgewichen  ist. 

Vivianis  ..Historischer  Bericht  über  das  Leben  des  Herrn  Galileo 
Galilei"^  ist  in  der  Form  eines  Briefs  an  den  Prinzen  Leopold  von 
Toskana  zwölf  Jahre  nach  Galileis  Tode  geschrieben.  Der  Verfasser,  der 
während  der  drei  letzten  Lebensjahre  seines  großen  Lehrers  beständig 
in  dessen  Nähe  lebte,  war  kaum  20  Jahre  alt,  als  Galilei  starb.  Als 
Jüngling  von  besonderer  Begabung  war  er  durchaus  befähigt  gewesen, 
dem  greisen  Denker  in  seiner  bis  zum  Ende  kaum  unterbrochenen 
Geistesarbeit  zu  folgen;  er  war  daher  ohne  Zweifel  berufen,  aus  eigener 
Erinnerung  in  zuverlässiger  Weise  die  unermüdüche  Tätigkeit  der 
letzten  Jahre  zu  schildern.  Aber  nicht  minder  war  er  als  begeisterter 
Schüler,  dem  der  Eifer  für  den  Ruhm  und  die  Ehre  des  Meisters 
zum  Inhalt  des  eigenen  Lebens  wurde,  für  die  Bearbeitung  einer 
Gesamtdarstellung  seines  Wirkens  und  Schaffens  vor  allen  Übrigen 
der  geeignete  Mann.    Je  vollständiger  in  neuerer  Zeit  durch  die  Ver- 


^  Vergl.  Bd.  I,  Kap.  I  u.  II,  sowie  Nachträge  S.  642  und  die  dort 
zitierten  beiden  Abhandlungen:  „Die  Pisaner  Fallversuche"  und  „Der  Ab- 
schied von  Pisa". 

2  Ed.  Naz.  p.  597—632. 


—     261     — 

öffentlichungen  Antonio  Favaros^  Vivianis  Bemühungen  um  die  Er- 
haltung alles  dessen,  was  von  Galilei  herrührt  und  auf  ihn  Bezug  hat, 
bekannt  geworden  sind,  um  so  umfassender  erscheint  seine  Vorberei- 
tung auch  für  die  Aufgabe  des  Biographen,  um  so  mehr  wird  man 
geneigt  sein,  seinen  Versicherungen  zu  glauben,  daß  der  Inhalt  seiner 
Schrift  entnommen  sei,  „dem  lebendigen  Wort  des  Herrn  Galileo 
selbst,  der  Lektüre  seiner  Werke,  den  Unterredungen  und  Verhand- 
lungen, die  der  Verfasser  mit  seinen  Schülern  gehabt,  den  Aussagen 
derer,  die  ihm  am  nächsten  gestanden,  öffentlichen  und  privaten 
Schriften,  zahlreichen  Briefen  seiner  Freunde  und  schließlich  mannig- 
fachen Bestätigungen  und  Vergleichungen,  die  das  Mitgeteilte  als 
durchaus  wahr  und  über  jeden  Widerspruch  erhaben  erweisen.  "^ 

In  gutem  Glauben  fügt  Viviani  diesen  einleitenden  Worten  hinzu, 
daß  er  seine  Erinnerungen  dargelegt  habe  „in  historischer  Keinheit 
und  vollkommener  Treue".  Ohne  Zweifel  ist  er  sich,  als  er  diese 
Worte  schrieb,  nicht  bewußt  gewesen,  in  wie  hohem  Maße  überall, 
wo  Galileis  Verhältnis  zur  copernicanischen  Lehre  in  Betracht  kommt, 
die  äußeren  Rücksichten,  die  ihn  im  Schweigen  wie  im  Reden  bestimm- 
ten, auch  die  historische  Reinheit  seiner  Darstellung  beeinträchtigen, 
und  wie  eine  Schilderung,  die  einer  so  tief  in  das  Leben  seines  Helden 
eingreifenden  Richtung  des  Denkens  und  Wollens  nicht  gerecht  wer- 
den darf,  als  eine  treue  unmögKch  gelten  kann. 

Wenigei  noch  als  Klarheit  über  diesen  Hauptmangel  seines 
„historischen  Berichts"  wird  man  bei  Viviani  Einsicht  in  die  Gefahren 
erwarten,  die  ihm  als  Geschichtsschreiber  die  eigene  Begeisterung 
bereitet.  Für  ihn  konnte  das  „Leben  Galileis  schreiben"  nichts  anderes 
bedeuten  als:  seinen  großen  Lehrer  verherrlichen.  Im  voraus  aus- 
geschlossen ist  daher  für  ihn  der  Gedanke,  in  der  Auffassung  ii-gend- 
welcher  Vorgänge  des  äußeren  oder  inneren  Lebens  von  derjenigen 
abzuweichen,  die  Galilei  selbst  in  Briefen  oder  Schriften  zum  Aus- 
druck gebracht  hat,  wie  vielmehr  ein  jedes  Wort  der  Beurteilung 
seinen  Schriften  und  Handlungen  gegenüber,  das  nicht  zugleich  ein 
Wort  der  uneingeschränkten  Bilhgung  wäre.  Wie  hätte  in  seinen 
Vorstellungen  die  Möglichkeit  Raum  finden  können,   daß  etwa  in 


^  A.  Favaro,  Vincenzio  Viviani  e  la  sua  ,.Vita  di  Galilei".    Atti  del  R. 
Istituto  Veneto  di  scienze  etc.     Tomo  LXII  parte  II.  p.  683 — 703. 
-  Ed.  Naz.  XIX,  p  599. 


—     262     — 

einer  der  zahlreichen  literarischen  Fehden,  deren  er  zu  gedenken  hat, 
in  noch  so  geringem  Maße  das  Unrecht  auf  Galileis  Seite  zu  suchen 
wäre,  daß,  wo  er  als  Entdecker  auftritt,  ein  Zweiter  neben  ihm,  ge- 
schweige vor  ihm  gesehen  oder  vermutet  haben  könnte? 

Aber  der  Einfluß,  den  das  persönhche  Verhältnis  des  Biographen 
zum  Helden  seiner  Erzählung  ausübt,  ist  allem  Anscheine  nach  ein 
weitergehender.  Durch  Favaros  Quellenforschung  ist  in  mehreren 
Fällen  teils  zweifellos  bewiesen,  teils  wahrscheinlich  geworden,  daß 
Viviani  auch  in  bezug  auf  den  wesentlichen  Inhalt  seiner  Miiteilungen 
unter  verschiedenen  ihm  vorliegenden  iVuffassungen  des  gleichen  Vor- 
gangs eine  Auswahl  trifft,  ohne  dies  irgendwie  anzudeuten,  geschweige 
seine  Wahl  zu  rechtfertigen.  In  welchem  Sinne  er  wählt,  das  zeigen 
in  charakteristischer  Weise  seine  wechselnden  Angaben  über  den 
Tag  der  Geburt  Galileis. 

Aus  dem  Pisaner  Kirchenbuch  war  mir  zu  entnehmen  gewesen, 
daß  die  Taufe  am  19.  Februar  1564  stattgefunden  hat.  Für-  Tag  und 
Stunde  der  Geburt  müssen  in  jenem  Zeitalter  in  Ermangelung  anderer 
sicherer  Nachweise  die  auf  den  Nativitäten  der  Astrologen  verzeich- 
neten Daten  gelten,  weil  man  auf  deren  Feststellung  größte  Sorgfalt 
zu  verwenden  pflegte.  Für  Galilei  liegen  nicht  weniger  als  fünf  der- 
artige Aufzeichnungen  vor,  die  übereinstimmend  den  15.  Februar  als 
Tag  der  Geburt  bezeichnen.  Auch  Viviani  hat  daher  in  seinem  Be- 
richt an  den  Prinzen  Leopold  eben  diesen  Tag  angegeben.  Er  bemerkt 
dabei,  daß  dieser  15.  Februar  drei  Tage  demjenigen  vorhergegangen 
sei,  an  dem  im  selben  Jahr  zu  Rom  der  göttliche  Michelangelo  Buona- 
rotti  starb. ^  In  einer  späteren  Veröffentlichung  Vivianis  ist  dieser 
dreitägige  Zwischemaum  beseitigt,  als  Tag  der  Geburt  der  Todestag 
Michelangelos  genannt.  An  diese  Angabe  knüpft  sich  alsdann  ein 
Dithyrambus  zu  Ehren  der  Stadt  Florenz,  die  nach  Gottes  WiUen 
eine  ununterbrochene  Reihe  erlauchter  und  göttlicher  Männer  sehen 
sollte,  und  der  deshalb  der  Weltenschöpfer  nur  zwei  Stunden  nach 
dem  Tode  des  großen  Wiederherstellers  der  Malerei,  Bildhauerkunst 
und  Architektur  diesen  schmerzlichen  Verlust  ihrer  Zierde  durch  die 
Geburt  Galileis,  des  glücklichsten  Erneuerers,  Vaters,  Fürsten  und 
Führers  der  Philosophie,  Geometrie  und  Astronomie  ersetzte,  auf 
daß  die  hoch  vor  allen  übrigen  begnadete  Stadt  während  neuer  Lustren 


1  Ed.  Naz.  XIX  p.  599  Nota. 


—     263     ~ 

durch  die  Trefflichkeit  ihrer  Bürger  der  ganzen  Welt  sich  heilbringend 
bewähre".^ 

Woher  diese  verbesserte  Angabe?  Viviani  sagt  es  nicht;  unter 
den  noch  erhaltenen  Materialien,  die  er  für  den  Zweck  seiner  biogra- 
phischen Studien  gesammelt,  findet  sich  neben  dem  Auszug  aus  dem 
Pisaner  Kirchenregister  keine  Urkunde,  die  den  18.  Februar  als  Tag 
der  Geburt  erwiese;  die  guten  Gründe,  die  dafür  sprechen,  daß  der 
15.  Februar  das  richtige  Datum  ist,  machen  mindestens  zweifelhaft, 
daß  ein  solches  Dokument  Viviani  zu  Gebote  gestanden  und  ihn  zur 
Bevorzugung  des  späteren  Tages  veranlaßt  hat;  als  glaublich  muß 
man  daher  betrachten  —  was  mit  Vivianis  Gesinnung  durchaus  im 
Einklänge  stand  — ,  daß  ihm  ein  Datum  nachträglich  schon  darum 
als  das  wahi'scheinlichere  galt,  weil  es  den  voUen  Glanz  einer  wunder- 
baren Veranstaltung  auf  die  Geburtsstunde  des  großen  Mannes  fallen 
ließ.  So  aufgefaßt,  erscheint  die  Wahl  des  Tages,  der  noch  heute 
der  zivilisierten  Welt  als  Galileis  Geburtstag  gilt,  als  typisch  für  die 
Bevorzugung  des  Üben*aschenden  und  Erstaunlichen  in  vielen  Einzel- 
heiten der  Vivianischen  Biographie,  wie  in  den  mannigfachen  Ver- 
änderungen und  Zusätzen,  die  sowohl  in  der  späteren  Bearbeitung 
der  Lebensskizze  wie  in  anderweitigen  handschriftlichen  und  ge- 
druckten Aufzeichnungen  über  Galilei  zu  finden  sind. 

Für  solche  Neigung,  als  geschichtlich  wahr  im  Leben  des  Helden 
vorzugsweise  zu  betrachten,  was  in  höherem  Grade  der  enthusiasti- 
schen Auffassung  entspricht,  bot  naturgemäß  die  Jugendgeschichte 
das  geeignetste  Feld. 

Aus  dieser  Periode  sind  uns  —  wie  schon  angedeutet  —  eine 
Reihe  von  Tatsachen  ausschließlich  durch  Vivianis  Erzählung  bekannt. 
Daß  er  als  der  Einzige,  der  sich  darum  bemühte,  aus  jener  fern- 
liegenden Zeit  manches  in  Erfahrung  bringen  konnte,  was  weder 
in  Galileis  eigenen  Aufzeichnungen  irgendwie  angedeutet,  noch  von 
einem  anderen  seiner  Zeitgenossen  in  Briefen  oder  Schriften  mit- 
geteilt oder  als  bekannt  berührt  wird,  kann  an  sich  nicht  überraschen; 


1  Aus  dem  Abdruck  der  Inschrift  an  Vivianis  Hause  in  Viviani  De  locis 
solidis,  Aristaei  senioris  secunda  divinatio,  Florentiae  1701.  p.  126.  Zwischen 
diese  letzte  und  die  frühere  Angabe  fällt  die  der  verbesserten  Ausgabe  des 
Racconto  istorico,  die  den  Geburtstag  auf  den  19.  Februar  verlegt.  Vergl. 
Ed.  Naz.  XIX  p.  599  im  Text.  VermutUch  folgt  Viviani  hier  den  Aufzeich- 
nungen des  Vincenzio  Galilei  (Ed.  Naz.  XIX  p.  594). 


—     264     — 

auffällig  erscheint  jedoch,  daß  in  keinem  einzigen  Falle  diesen  Er- 
zälilungen  aus  der  Jugendzeit  etwas  von  dem  Nebel  einer  fernliegen- 
den Vergangenheit  anhaftet.  Da  ist  von  Sagenhaftem,  von  der  Un- 
bestimmtheit einer  von  Mund  zu  Mund  getragenen  Überlieferung, 
von  abweichenden  Darstellungen  verschiedener  Berichterstatter  keine 
Spur.  Alle  jene  einzelnen  Vorgänge  und  Erlebnisse,  die  naturgemäß 
erst  dann  der  Wiederauffindung  und  der  Aufbewahrung  wert  erschienen, 
als  der  Ruhm  des  gereiften  Mannes  den  Einzelheiten  seiner  Lebens- 
geschichte für  die  Zeitgenossen  wie  für  die  Nachwelt  Bedeutung 
verlieh,  sind,  frei  von  jedem  Schein  unsicheren  Wissens,  mit  einer 
Genauigkeit  im  einzelnen  reproduziert,  wie  sie  der  Bericht  eines 
Augenzeugen  nicht  leicht  überbieten  könnte.  Dafür  ist  zweierlei 
Erklärung  möglich.  Entweder  es  rühren  in  Wahrheit  diese  Erzäh- 
lungen von  dem  Einzigen  her,  der  als  Augenzeuge,  sei  es  den  Bio- 
graphen, sei  es  seine  Gewährsmänner  in  bestimmter  Weise  unter- 
richten konnte,  das  heißt,  von  Galilei  selbst,  oder  es  ist  der  Biograph, 
der  dem  überlieferten  Inhalt  die  Form  gegeben  hat. 

Man  hat  bisher  nicht  bezweifelt,  daß  das  Erstere  zuträfe,  daß 
also  in  allen  denjenigen  Teilen  der  vivianischen  Biographie,  für  die 
den  Nachlebenden  die  Belege  nicht  mehr  zu  Gebote  stehen,  als  Bürg- 
schaft der  Wahrheit  die  einleitenden  Bemerkungen  zu  gelten  haben, 
in  denen  auf  Gahleis  lebendiges  Wort  in  erster  Linie  Bezug  genommen 
und  neben  diesem  die  Mitteilungen  seiner  nächsten  Angehörigen  und 
Freunde  als  Quelle  des  Berichts  erwähnt  werden. 

Demgegenüber  ist  vor  allem  festzustellen,  daß  jene  allgemein 
gefaßten  Bemerkimgen  bei  aller  Bedeutung  für  das  Ganze  für  keinen 
einzelnen  Teil  der  Biographie  die  Zurückführung  auf  Galileis  persön- 
liche Aussage  gestatten;  in  der  Erklärung,  daß  der  größere  Teil  der 
Mitteilungen  seinen  Worten  entnommen  sei,  liegt  keine  Bürgschaft 
dafür,  daß  auch  nur  eine  einzige  der  Erzählungen  aus  der  Jugend- 
periode zu  diesen  Mitteilungen  aus  bester  Quelle  und  nicht  vielmehr 
zu  denen  gehöre,  die  dem  Biographen  erst  in  späterer  Zeit  aus  den 
mehr  oder  minder  deutlichen,  mehr  oder  minde-  treu  bewahrten 
Erinnerungen  Nahestehender  bekannt  geworden  sind.  Aber  selbst 
dann,  wenn  man  mit  besserem  Recht  in  Galileis  mündlichen  Mit- 
teilungen während  seiner  drei  letzten  Lebensjahre  die  eigentliche 
Quelle  der  Schilderungen  aus  der  Jugendzeit  suchen  dürfte,  würde 
der  Zweifel  berechtigt  bleiben,  ob  in  der  Auffassung  des  18-  oder 


—     265     — 

20jährigon  begeisterten  Jüngers  das  „lebendige  Wort"  des  greisen 
Meisters  getreu  ohne  Zutat  und  Veränderung  bewahrt  ist.  Eine  ge- 
nauere Untersuchung  in  dieser  Beziehung  ist  den  meisten  Angaben 
gegenüber  dadurch  erschwert,  daß  über  die  geschilderten  Vorgänge 
alle  sonstigen  Berichte  fehlen.  Um  so  mehr  verdient  eine  kleine  Zahl 
von  Fällen  Beachtung,  in  denen  durch  Vergleichung  der  Mitteilung 
des  Biographen  mit  anderweitigen  verbürgten  Nachrichten  eine  Klar- 
stellung des  Sachverhalts  ermöglicht  und  dadurch  zugleich  über  die 
Eigentümlichkeiten  der  vivianischen  Berichterstattung  Aufschluß  ge- 
wonnen wird. 

Unter  den  hierher  gehörenden  Fällen  ist  auch  der  einzige  der 
ganzen  Lebensbeschreibung,  in  dem  für  eine  mitgeteilte  Tatsache 
ein  Berichterstatter  namhaft  gemacht  wird.  Es  geschieht  das  bei 
Erwähnung  der  außerordentlichen  Anziehungski-aft,  die  in  Padua 
Galileis  mathematische  Vorlesungen  ausübten.  „Bei  seinen  öffent- 
lichen Vorlesungen  über  Mathematik",  so  lautet  wörtlich  Vivianis 
Erzählung,  „vereinigte  sich  eine  so  große  Zahl  von  Zuhörern  —  noch 
heute  lebt  die  Erinnerung  daran  in  Padua,  wie  dies  durch  einen  hoch- 
berühmten  und  gelehrten  Mann  verbürgt  mrd,  der  dort  vor  Zeiten 
Galileis  Schüler  gewesen  ist  —  daß  Galilei  genötigt  war,  und  dies  sind 
die  Worte  des  Monsignor  Bischof  Barisone,  den  für  seine  Vorlesung 
bestimmten  Hörsaal  zu  verlassen  und  in  dem  großen,  tausend  Personen 
fassenden  Hörsaal  der  Artisten  zu  lesen,  und  da  auch  dieser  nicht 
genügte,  sich  in  den  doppelt  so  großen  Hörsaal  der  Juristen  zu  be- 
geben, und  häufig  sei  auch  dieser  bis  auf  den  letzten  Platz  gefüllt 
gewesen.  Ein  solches  Zuströmen  und  ein  solcher  Beifall  ist  zu  keiner 
Zeit  auch  nur  annähernd  einem  anderen  Lehrer  der  Paduaner  Univer- 
sität, auch  bei  Vorträgen  über  andere,  dem  allgemeinen  Interesse 
näherliegende  Gegenstände  zuteil  geworden."^ 

Dieser  Schilderung  gegenüber  belehrt  uns  der  genaue  Kenner  der 
Geschichte  der  Universität  Padua,  daß  zu  keiner  Zeit  in  Padua  Hör- 
säle gewesen  sind,  die  bis  zu  1000,  geschweige  2000  Zuhörer  gefaßt 
hätten.  Von  einem  älteren  Paduaner  Gelehrten,  von  dem  es  gleich- 
falls heißt,  daß  er  mehr  Zuhörer  um  sich  versammelte,  ,,als  jemals 
ein  anderer",  wird  zu  genauerer  Bezeichnung  seiner  Beliebtheit  er- 
zählt: es  genügten  die  Bänke  nicht,  auf  denen  400  Studierende  Platz 


1  Ed.  Naz.  XIX  p.  628. 


—     266     — 

zum  Sitzen  fanden,  so  daß  über  diese  Zahl  hinaus  noch  immer  50 
oder  mehr  standen,  um  ihn  zu  hören. ^ 

Vivianis  Zahlenangaben  sind  also  ohne  Zweifel  übertrieben;  aber 
das  könnte  man  in  den  Kauf  nehmen,  wenn  nur  die  Hauptsache, 
die  Angabe  über  das  Verhältnis  der  Zuhörerschaft  Galileis  zu  der- 
jenigen seiner  Kollegen  zu  Bedenken  keinen  Anlaß  gäbe.  Man  kann 
in  Galilei  einen  Lelirer  sehen,  wie  die  Welt  keinen  zweiten  gekannt 
hat,  und  doch  für  kaum  glaublich  halten,  daß  seine  Vorträge  über 
die  Elemente  der  Euklidischen  Geometrie,  über  die  Sphäre  usw. 
jemals  einen  annähernd  so  großen  Hörerkreis  zu  fesseln  vermocht 
haben,  wie  diejenigen  der  namhaften  Mediziner,  Juristen  und  Philo- 
sophen unter  seinen  Kollegen.  Man  braucht  nur  wenig  mit  dem 
Geist  der  Wissenschaft  und  der  Studien  in  jener  Zeit  vertraut  zu  sein, 
um  nicht  in  Zweifel  zu  ziehen,  daß  beispielsweise  die  Aristotelesvor- 
lesungen des  Cäsar  Cremonini  für  die  große  Menge  der  Studierenden 
Paduas  in  unvergleichlich  höherem  Maße  bedeutsam  waren,  als  die 
Erörterungen  Galileis  über  die  „mechanischen  Probleme".  Galileis 
außerordentliche  Fähigkeit,  Probleme  der  Naturlehre  und  elemen- 
taren Mathematik  auch  dem  gewöhnlichen  Verstände  zugänglich  zu 
machen,  in  Verbindung  mit  der  künstlerischen  Schönheit  seines  Vor- 
trags wirkte  naturgemäß  vorzugsweise  in  dem  engeren  Kreise  derer, 
die  in  irgendeiner  Weise  veranlaßt  waren,  sich  mathematische  Kennt- 
nisse anzueignen.  Unter  diesen  bildeten  nach  Galileis  eigener  Mit- 
teilung die  Mediziner  die  Mehrzahl.  Nun  denke  man  sich  unter  den 
Medizinern  Paduas  die  Einsicht  in  die  Bedeutung  der  Mathematik 
für  den  ärztUchen  Beruf  so  verbreitet,  wie  nur  irgendwo  in  den  medi- 
zinischen Fakultäten  unserer  Tage,  immerhin  bleibt  zu  erwägen,  daß 
die  mathematische  Vorlesung  zu  den  obligatorischen  nicht  gehörte, 
daß  sie  für  die  Prüfungen  nicht  in  Betracht  kam,  und  daß  diese  Um- 
stände auf  die  studierende  Jugend  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
ungefähr  in  derselben  Weise  wirken  mußten  wie  auf  die  heutige. 
Man  braucht  nur  zu  lesen,  was  Viviani  selbst  von  der  Einführung 
des  jugendlichen  Mediziners  Galilei  in  die  Mathematik  erzählt,  um 
zu  begreifen,  daß  es  auch  damals  nichts  weniger  als  die  Regel  war, 
der  Vorschrift  des  Hippokrates  zu  folgen.  Selbst  erfinden  konnte 
man  jene  Erzählung  nicht,  wenn  die  Beschäftigung  mit  der  Mathe- 


^  Vergl.  A.  Favaro,  Galileo  Galilei  e  lo  studio  di  Padova  I  p.  140 — 141. 


—     267     — 

matik  zu  den  Gewohnheiten  der  studierenden  Mediziner  gehört  hatte. 
So  war  es  in  Pisa  und  nicht  anders  offenbar  in  Padua;  dafür  zeugt, 
daß  nach  dem  Tode  Molettis  der  Lehrstuhl  der  Mathematik  in  Padua 
mehr  als  vier  Jahre  hindurch  unbesetzt  bleiben  konnte,  und  daß  auch 
nach  dem  Abgang  Galileis  wiederum  über  drei  Jahre  vergingen,  bis 
ein  Nachfolger  ernannt  wurde. 

Mit  dem  Wahrscheinlichkeitsschluß,  der  sich  bei  Beachtung  dieser 
Verhältnisse  ergibt,  stehen  die  wenigen  wohlverbürgten  Einzelheiten, 
die  uns  über  Galileis  Lehrtätigkeit  erhalten  sind,  in  Einklang.  Es 
mag  hier  nur  der  beiden  Beschwerdeschriften  gedacht  werden,  die 
Galilei  noch  im  Jahre  1609  an  die  Reformatoren  der  Universität  ge- 
richtet hat.  Annibale  Bimbiolo,  außerordentlicher  Professor  der  theo- 
retischen Medizin,  hatte  seine  Vorlesung  statt  (wie  ihm  vorgeschrieben 
war)  gleichzeitig  mit  den  Konlmrrenten,  in  der  Nachmittagsstunde  ge- 
halten, die  für  den  Mathematiker  reserviert  war.  Zweimal  im  Zeit- 
raum eines  halben  Jahres  legte  Galilei  gegen  diese  Ordnungswidrigkeit 
Verwahrung  ein,  weil  das  Ausbleiben  derjenigen  von  Bimbiolos  Zu- 
hörern, die  zur  selben  Stunde  seine  Vorlesungen  hören  wollten,  ihm 
„eine  sehr  erhebliche  Störung''  bereitete.^ 

Geben  wir  dem  Annibale  Bimbiolo  als  dem  einen  und  keineswegs 
vorzugsweise  angesehenen  der  vier  Professoren  der  theoretischen 
Medizin  den  vierten  Teil  der  Hörer  seines  Fachs,  so  sagt  uns  Galileis 
Äußerung,  daß  ihm  das  Fehlen  einer  Zahl,  die  diesen  vierten  Teil 
keinesfalls  erreichte,  sein  Auditorium  mangelhaft  besetzt  erscheinen 
ließ.  Eine  Beschwerde  solchen  Inhalts,  erhoben  im  letzten  Jahr, 
also  auf  dem  Höhepunkt  seiner  Lehrtätigkeit,  und  wiederholt,  nach- 
dem ihm  um  außerordentlicher  Verdienste  willen  die  Professur  auf 
Lebenszeit  übertragen  war,  genügt,  um  Vivianis  Erzählung  zu  wider- 
legen. 

Aber  wir  kennen  Tatsachen,  die  zur  Entstehung  so  maßloser 
und  unwahrscheinlicher  Schilderungen  Veranlassung  gegeben  haben 
können.  Galilei  spricht  selbst  gelegentlich^  davon,  daß  bei  seinen 
drei  Vorlesungen  über  den  neuen  Stern  vom  Jahre  1604  mehr  als 
1000  Zuhörer  zugegen  gewesen  seien.    Eine  ähnliche,  vielleicht  noch 

1  Favaro,  Galileo  Galilei  e  lo  studio  di  Padova  II  p.  287  u.  302.  Ed. 
Naz.  X  p.  236 f.  u.  264f. 

-  In  der  Difesa  ....  contro  alle  calunnie  ed  imposture  di  Baidessar 
Capra  Ed.  Naz.  II  p.  520. 


—     268     — 

Stärkcrc  Überfüllung  seines  Hörsaals  durch  Studierende  aller  Fakul- 
täten haben  höchst  wahrscheinlich  die  im  Jahre  1610  gehaltenen  Vor- 
träge über  die  ersten  teleskopischen  Entdeckungen  veranlaßt.  Auf 
diese  Ausnahmefälle  bezogen  und  beschränkt  erscheint  uns  der  ge- 
schilderte außergewöhnliche  Erfolg  ebenso  verständlich  und  glaub- 
lich, \äe  er  als  unwahrscheinüch  betrachtet  werden  muß,  wenn  man 
ihn  für  die  regelmäßigen  elementar-mathematischen  Vorträge  in 
Anspruch  nimmt.  Es  ist  daher  die  Annahme  gestattet,  daß  ein  ur- 
sprünglicher Bericht,  der  wahrheitsgemäß  von  nie  dagewesenem  Zu- 
sanunenströmen  der  Studierenden  in  Galileis  Auditorium  redete, 
sich  auf  den  einen  oder  mehrere  jener  besonderen  Fälle  bezogen  hat 
und  daß  erst  in  der  weiteren  Überlieferung  der  Einzelfall  zur  Regel 
und  damit  die  geschichthche  Tatsache  zum  Wunder  umgestaltet 
worden  ist.  Nun  scheint  dem  strengen  Wortlaute  nach  die  Berufung 
Vivianis  auf  das  Zeugnis  des  Bischofs  Barisone  zu  beweisen,  daß, 
wenn  in  Wahrheit  in  der  angedeuteten  Weise  eine  Umgestaltung 
stattgefunden  hat,  dies  schon  in  der  Erinnerung  des  Paduaner  Be- 
richterstatters geschehen  sein  müsse,  daß  also  Viviani  die  Nachricht 
schon  in  der  Form  empfangen,  wie  er  sie  wiedergibt.  Aber  als  gleich- 
berechtigte Vermutung  mindestens  wird  man  hinstellen  dürfen,  daß 
erst  durch  Vivianis  Auffassung  der  gehörten  und  gelesenen  Worte 
die  wesentliche  Veränderung  des  Sinnes  zustande  gekommen  ist.  Wer 
dies  seinen  Worten  gegenüber  für  möglich  hält,  muß  allerdings  vor- 
aussetzen, daß  Viviani,  wo  es  seinen  großen  Lehrer  angeht,,  nicht 
allein  zur  Übertragung  ins  Wunderbare  im  Vorstellen  und  Glauben 
geneigt,  sondern  darüber  hinaus  fähig  gewesen  ist,  als  Erzähler  mit 
dem  Gehörten  Erweiterungen  und  Ergänzungen  zu  verbinden,  die 
nicht  in  irgendwelcher  Überlieferung,  sondern  nur  in  dem  Glauben 
an  die  alles  überragende  Größe  seines  Meisters  ihren  Ursprung  haben. 
In  erstcrer  Beziehung  bietet  die  Erläuterung,  die  Viviani  seiner  Er- 
zählung hinzufügt,  klaren  Nachweis.  Das  Wunderbare  und  Unglaub- 
liche seines  Berichts  ist  ihm  ein  Zeichen  der  Wahrheit;  nichts  anderes 
sieht  er  in  dem  unerhörten  Zudrängen  der  Wissensdurstigen  bei 
Galileis  mathematischen  Vorlesungen  als  die  einfache  Wirkung  des 
„übernatürlichen  Talents",  vermöge  dessen  er  es  verstanden,  das 
mathematische  Erkennen  über  jede  andere  Weise  wissenschaftlicher 
Tätigkeit  zu  erheben.  Wie  weit  dann  weiter  dem  Biographen  zu- 
getraut werden  darf,  daß  er  überlieferte  tatsächliche  Mitteilungen 


—     269     — 

aus  der  Fülle  dessen,  was  ihm  möglich  erscheint,  vervollständigt  und 
so  das  Mögliche  zur  geschichtlichen  Tatsache  erhebt,  wird  durcli  weitere 
Beispiele  darzulegen  sein. 

In  seiner  Schilderung  des  Paduaner  Wirkens  fortfahrend,  gedenkt 
Viviani  der  vielen  Fürsten  und  großen  Herren,  die  Galileis  Unter- 
richt gesucht  haben;  statt  Namen  zu  häufen,  will  er  nur  den  berühm- 
testen nennen.  Er  „erinnert  sich,  gehört  zu  haben,"  ^  —  das  sind  seine 
Worte^,  —  „daß  der  große  König  Gustav  von  Schweden,  der  spätere 
Kriegsheld,  als  Jüngling  inkognito  durch  Italien  gereist  und  bei  dieser 
Gelegenheit  viele  Monate  hindurch  mit  seinem  Gefolge  in  Padua 
geweilt  habe,  wo  ihn  vor  allem  die  neuen  und  überraschenden  Ideen 
und  die  überaus  merkwürdigen  Probleme  fesselten,  die  Tag  für  Tag 
von  dem  Herrn  Galileo  in  den  öffentlichen  Vorlesungen,  wie  den 
Zusammenkünften  einzelner  zur  Bewunderung  der  Anwesenden  vor- 
getragen und  gelöst  w^urden;  auch  habe  er  in  der  eigenen  Behausung 
des  großen  Gelehrten  (mit  dem  Vorteil,  sich  zugleich  in  den  Schön- 
heiten der  toskanischen  Sprache  zu  üben)  von  ihm  die  Vorträge  über 
die  Sphäre,  die  Befestigungskunst,  die  Perspektive  und  den  Gebrauch 
einiger  geometrischer  und  militärischer  Instrumente  hören  wollen  und 
dabei  den  Fleiß  und  die  Ausdauer  eines  wahren  Schülers  bewiesen 
und  schließlich  durch  ein  äußerst  reiches  Geschenk  die  königliche 
Majestät  zu  erkennen  gegeben,  die  er  zu  verheimlichen  gedacht  hatte." 

Über  den  geschichtlichen  Kern  dieser  Erzählung  sind  nicht  viele 
Worte  zu  verlieren.  Gustav  Adolf  ist  niemals  weder  in  jüngeren 
noch  in  reiferen  Jahren  in  Italien  gewesen,  er  ist  am  9.  Dezember 
1594  geboren,  war  also  noch  nicht  16  Jahre  alt,  als  Galilei  Padua 
für  immer  verließ  und  hätte  daher  nicht  sein  Zuhörer  sein  können, 
auch  wenn  er  in  Padua  studiert  hätte.  Gelehrte  Forscher  haben  einen 
anderen  Prinzen  Gustav  ausfindig  gemacht,  der  rechtzeitig  gelebt 
und  sich  auch  hinreichend  lange  Zeit  außerhalb  seiner  Heimat  auf- 
gehalten hat,  um  Italien  besuchen  und  Galilei  hören  zu  können; 
daß  er  dies  in  Wirklichkeit  getan  und  dadurch  den  Ansprüchen  genügt 
hat,  die  man  an  Vivianis  schwedischen  Prinzen  stellen  muß,  hat  sich 
weder  in  Schweden  noch  in  Padua  nachweisen  lassen.  Nun  wird  man 
dem  Biographen  gern  verzeihen  wollen,  daß  er  bei  einer  so  interessanten 


^  Die  Erzählung  findet  sich  auch  bei  Gherardini.     Ed.  Naz.  XIX.  p.  642. 
-  Ed.  Naz.  XIX,  p.  G29. 


—     270     — 

Mitteilung  nicht  als  strenger  Historiker  untersucht,  ob  das,  was  er 
dem  Hörensagen  nach  erzählt,  geschichtlich  wahr  sein  kann.  Aber 
übersehen  läßt  sich  nicht,  daß  er  die  "Wiedergabe  dessen,  was  er  „gehört 
zu  haben  sich  erinnert",  durch  sehr  weitgehende  Einzelheiten  ergänzt, 
die  er  sicherlich  nicht  gehört  hat.  Die  Sage  mag  von  königlichen 
Geschenken  gewußt  haben  —  ein  Verzeichnis  der  Vorlesungen,  die 
Gustav  Adolf  in  Padua  gehört,  hat  sie  keinesfalls  überliefert. 

Vivianis  Erzählung  ist  offenbar  entstanden,  indem  er  mit  der 
irgend  woher  entnommenen  Überlieferung  von  einem  Aufenthalt 
Gustav  Adolfs  in  Padua  die  eigenen  Vorstellungen  von  Galileis  Wirken 
als  Paduaner  Lehrer  verwebt,  die  ihn  ohne  Mühe  erkennen  ließen, 
was  ein  Gustav  Adolf  jener  Zeit  dort  hätte  suchen  können  und  was 
ihn  hätte  fesseln  müssen.  Daß  er  dabei  ganz  und  gar  nicht  trennt 
und  nicht  erkennbar  macht,  was  er  gehört  oder  gelesen  hat,  und  was 
er  aus  eigener  Phantasie  hinzufügt,  ist  eine  Eigentümlichkeit  seiner 
Erzählungs weise,  der  man  immer  von  Neuem  begegnet,  wenn  man 
einmal  darauf  aufmerksam  geworden  ist. 

Wie  notwendig  es  ist,  dies  Element  der  Unsicherheit  seinen  völlig 
bestimmt  gehaltenen  Behauptungen  gegenüber  in  Betracht  zu  ziehen, 
beweist  seine  Mitteilung  über  die  Entdeckung  der  Sonnenflecken. 
In  Übereinstimmung  mit  Galileis  Angabe  in  den  Dialogen  über  die 
beiden  Hauptweltsysteme^  läßt  Viviaiii  die  Entdeckung  noch  in  Padua 
stattfinden.  Er  bemerkt  dazu:  Galilei  habe,  um  nicht  in  verstärktem 
Maße  den  Haß  der  Peripatetiker  gegen  sich  zu  erregen,  seine>  Ent- 
deckung zunächst  nicht  veröffentlicht,  sondern  nur  einigen  seiner 
vertrautesten  Freunde  in  Padua,  Venedig  und  anderen  Orten  mit- 
geteilt; in  einer  Note  unter  dem  Text  nennt  er  als  diejenigen,  denen 
solche  erste  Mitteilungen  gemacht  wurden,  die  folgenden  acht: 
Monsignor  Gualdo,  Monsignor  Pignoria,  Don  Benedetto  Castelli,  Fra 
Paolo  Sarpi,  Fra  Fulgenzio  Micanzio,  Filippo  Contarini,  Sebastiano 
Venieri,  Monsignor  Agucchia. - 

Geht  man  an  derartige  Angaben  in  der  Voraussetzung,  daß  in 
ihnen  ein  strenger  Historiker  zusammenfaßt,  was  er  den  ihm  allein 
zu  Gebote  stehenden  Quellen  entnehmen  konnte,  so  scheint  hier  für 
die  Entdeckung  in  Padua,  das  heißt  vor  Ende  August  1610,  ein  schwer- 


1  Ed.  Naz.  VII.  p.  372f. 

2  Ed.  Naz.  XIX  p.  611.     Etwas  anders  bei  Alberi  XV,  p.  344. 


—     271      — 

wiegendes  Zeugnis  vorzuliegen.  Es  ist  jedoch  leicht,  zu  zeigen,  daß 
man  mit  Unrecht  —  wie  es  geschehen  ist  —  auf  Vivianis  Autorität 
hin  die  acht  von  ihm  genannten  Namen  als  gleich  viel  Zeugen  für  die 
Annahme  einer  Entdeckung  vor  der  Übersiedlung  nach  Florenz  be- 
zeichnet. 

Nur  von  einem  der  acht  ist  heute  noch  eine  Aussage  zugunsten 
der  Entdeckung  in  Padua  erhalten.  Das  ist  der  an  Galilei  gerichtete 
Brief  des  Fulgenzio  Älicanzio  vom  27.  September  1631.^  Hätten  Vivi- 
ani  —  wie  mau  als  möglich  ansehen  kann  —  von  einem  der  anderen 
Sieben  bestätigende  Aussagen  zu  Gebote  gestanden,  so  ist  wenig  wahr- 
scheinlich, daß  er  sie  ungedruckt  gelassen  hätte,  als  er  im  Jahre  1656 
für  die  erste  Gesamtausgabe  der  Galileischen  Werke  die  Belege  für 
Galileis  Priorität  in  der  Entdeckung  der  Sonnenflecken  zusammen- 
stellte.- Unter  diesen  1656  gedruckten  Belegen  ist  ein  Auszug  aus 
dem  noch  heute  erhaltenen  Brief  Micanzios  das  einzige  Zeugnis 
zugunsten  der  Entdeckung  in  Padua. 

Es  bleibt  die  Möglichkeit,  daß  Galilei  selbst  oder  jemand,  der 
von  ihm  unterrichtet  war,  Viviani  die  Namen  der  vertrauten  Freunde 
i(enannt  hätte,  denen  in  Padua  und  Venedig  im  Sommer  1610  die 
Sonnenflecken  gezeigt  wurden.  Das  ist  offenbar  die  Meinung  der- 
jenigen Biographen,  die  Vivianis  Aufzählung  geschichtlichen  Wert 
beimessen.  Aber  auch  diese  Meinung  erweist  sich  als  unhaltbar, 
denn  unter  den  acht  Zeugen  sind  mindestens  zwei,  deren  noch  heute 
zugängliche  Aussagen  mit  Vivianis  Angabe  in  direktem  Wider- 
spruch stehn. 

In  einem  Schreiben,  das  Paolo  Gualdo  am  4.  Februar  1611,  also 
fünf  Monate  nach  Galileis  Abreise  von  Padua  an  diesen  richtet,  heißt 
es^:  „Ihr  habt  die  Geheimnisse  des  Mondes,  der  Venus,  des  Merkur, 
des  Jupiter  und  des  Saturn  enthüllt,  ich  sehe  nicht,  daß  Ihr  bisher 
Euch  der  Sonne  nähert.''  Gualdo  verneint  demnach  aufs  bestimm- 
teste die  Kenntnis,  die  ihm  von  Viviani  zugeschrieben  wird. 

Daß  auch  Monsignor  Agucchia  mit  Unrecht  als  Zeuge  für  die 
Entdeckung  in  Padua  angeführt  wird,  ist  aus  seiner  bekannten  Aus- 
sage über  Galileis   Demonstration  der   Sonnenflecken  im  Frühjahr 

1  Ed.  Naz.  Xl\'  p.  298—299. 

-  Seine  Zusammenstellung  ist  wieder  abgedruckt  in  der  Paduaner  Aus- 
gabe U  p.  197. 

"■  Ed.  Naz.  XI  p.  41f. 


—     272     — 

1611  ohne  weiteres  zu  entnehmen.  „Es  ist  schon  mehr  als  ein  Jahr 
her"  —  so  schreibt  er  am  16.  Juni  1612  an  Galilei^  — ,  daß  Ihr  mir 
mündlich  von  den  Sonnenflecken  Kenntnis  gegeben  habt."  So  schreibt 
man  nicht,  namentlich  wo  es  sich  um  ein  Zeugnis  für  Galileis  Priorität 
handelt,  wenn  die  Mitteilung  in  Rom  die  zweite  nach  einer  früheren 
in  Padua  gewesen  ist.  Zum  Überfluß  besagt  ein  früherer  Brief  Aguc- 
chias,  daß  er  zum  erstenmal  in  Rom  im  Frühjahr  1611  zu  Galilei 
in  persönliche  Beziehungen  getreten  ist. 

Einem  dreifachen  Zufall  verdankt  man,  daß  derartige,  Viviani 
aufs  schärfste  widerlegende  Aussagen  in  den  Briefen  Gualdos  und 
Ägucchias  niedergelegt  wurden,  einer  weiteren  Zufälligkeit,  daß  eben 
diese  Briefe  uns  erhalten  sind  —  um  so  mehr  muß  ihr  Inhalt  als  voll- 
gültiger Beweis  dafüi-  angesehen  werden,  daß  Vivianis  Aufzählung 
wertlos  ist,  daß  auch  in  diesem  Falle  seiner  bestimmten  Behauptung 
keinerlei  Wissen  aus  heute  unzugänglichen  Quellen  zugrunde  liegt. 
Er  überlegt  und  weiß  zum  Teil,  an  wen  Galilei  bei  den  Worten  „in 
Padua  und  Venedig  sprach  er  mit  verschiedenen  darüber"^,  gedacht 
haben  kann;  aber  seiner  Gewohnheit  gemäß  schreibt  er,  als  ob  er 
wüßte,  wem  Galilei  in  Padua  und  von  Padua  aus  Mitteilungen  über 
seine  Entdeckung  gemacht  hat. 

Wichtiger,  weil  unmittelbar  in  die  Geschichte  des  Galileischen 
Geistes  eingreifend,  sind  die  Mitteilungen,  durch  die  Viviani  in  seinem 
berühmten  Brief  über  die  Erfindung  der  Pendeluhr  die  Erzählung  der 
Biographie  über  die  Entdeckung  des  Isochronismus  der  Pendel- 
sch'^^dngungen  vervollständigt. 

Die  Biographie  berichtet  in  aller  Kürze:  noch  als  Student  habe 
Galilei  die  bis  dahin  von  keinem  anderen  wahrgenommene  Anwend- 
barkeit des  Pendels  zur  Messung  der  Zeit  entdeckt;  die  Veranlassung 
dazu  habe  ihm  die  Beobachtung  der  Bewegung  einer  Lampe  im  Pisaner 
Dom  gegeben;  durch  genaueste  Versuche  habe  er  alsdann  sich  der 
Gleichheit  der  Pendelschwingungen  versichert.^ 


1  Ed.  Naz.  XI  p.  205.  Nicht  als  so  schlechthin  unmöglich  wie  bei  Gualdo 
und  Agucchia,  aber  doch  als  im  höchsten  Grade  unwahrscheinlich  darf  auf 
Grund  des  bekannten  Briefwechsels  bezeichnet  werden,  daß  CasteUi  und 
Pignoria  von  einer  Entdeckung  der  Sonnenflecken  in  Padua  in  den  Jahren 
1610 — 11  Kenntnis  gehabt  haben. 

2  Ed.  Naz.  VII,  p.  372. 

3  Ed.  Naz.  XIX  p.  603. 


—      273     — 

Der  fünf  Jahre  nach  der  Biographie  geschriebene  Brief  über 
die  Erfindung  der  Pendehihr  ergänzt^  diesen  lakonischen  Bericht  in 
vierfacher  Beziehung.  Aus  der  Studienzeit  wird  in  bestimmterer 
Angabe  „ungefähr  das  Alter  von  zwanzig  Jahren,  um  das  Jahr  1583".- 
Zur  Tatsache  der  Beobachtung  ist  der  Gedankengang  hinzugefügt, 
der  ihr  vorhergegangen  ist;  der  Anblick  der  schwingenden  Lampe 
veranlaßt  den  jugendlichen  Forscher,  zu  untersuchen,  ob  vielleicht 
beim  Hin-  und  Hergehen  der  Lampe  die  Zeiten,  in  denen  sie  große, 
mittlere  und  kleinste  Bögen  durchläuft,  die  gleichen  sein  möchten; 
es  könnte,  meint  er,  vielleicht  die  längere  Zeit,  die  an  sich  zum  Durch- 
laufen des  größeren  Bogens  erforderlich  ist,  durch  die  größere  Geschwin- 
digkeit ausgeglichen  werden,  die  sich  daraus  ergeben  müsse,  daß  die 
Linie  des  größeren  Wegs  in  ihren  oberen  Teilen  eine  stärker  geneigte 
war ;  es  scheint  ihm  daher  der  Mühe  wert,  die  Dauer  der  Schwingungen 
genauer  zu  prüfen;  die  Beobachtung  bestätigt  seine  Vermutung. 

Auch  das  Verfahren  bei  dieser  Beobachtung  ist  mitgeteilt:  Der 
junge  Galilei  bedient  sich  zur  ungefähren  Bestimmung  der  Zeitdauer 
der  Schläge  seines  Pulses  und  des  Takts  der  Musik.^ 

Endlich  belichtet  Viviani  ausführlich  darüber,  was  Galilei  ge- 
dacht und  getan,  nachdem  er  von  seiner  Beobachtung  „ins  Haus  zurück- 
gekehrt war".^  Er  stellte  durch  Versuche  fest,  daß  zwei  Bleikugeln 
an  Fäden  von  völlig  gleicher  Länge  aufgehängt,  bei  noch  so  verschie- 
dener Ablenkung  ihre  ungleichen  Bögen  in  gleicher  Zeit  durchlaufen, 
daß  Pendel  von  verschiedener  Länge  sehr  verschiedene  Schwingungs- 
zeiten haben,  während  bei  bestimmter  Länge  die  Zeit  aufs  schärfste 
bestimmt  ist,  daß  endlich  auch  weder  das  absolute  noch  das  spezi- 
fische Gewicht  des  aufgehängten  schweren  Körpers  bei  bestimmter 
Länge  des  Fadens  die  Schwingungsdauer  beeinflußt,  wenngleich  die 
besonders  leichten  Materien,  wie  z.  B.  der  Kork,  durch  das  Medium 
der  Luft,  das  jederzeit  der  Bewegung  aller  schweren  Körper  Wider- 
stand leistet,  leichter  behindert  und  schneller  zur  Ruhe  gebracht 
werden. 

Die  kurze  Notiz  der  Biographie  konnte  die  Vermutung  nahe- 
legen, daß  über  die  erste  Entdeckung  Galileis  und  ihre  Veranlassung 

1  Ed.  Naz.  XIX,  p.  647—659. 
-  Ed.  Naz.  XIX,  p.  648. 

*  Ed.  Naz.  XIX,  p.  648f. 

*  Ed.  Naz  XIX,  p.  649. 

Wohlwill,  Galilei.     11.  18 


—     274     — 

nur  eine  unbestininit<>  Üborlioferung  sich  bis  zu  Vivianis  Zeiten  er- 
halten liabe;  der  ausfülirlidio  Bericht  klingt  dagegen  nach  ins  einzelne 
gehenden  ^litteilungen,  wie  sie  nur  ein  Augenzeuge  geben  konnte. 
Dem  entspricht  die  Versicherung  Vivianis  in  den  einleitenden  Worten 
seines  Briefes  von  1659:  alles,vras  er  hier  erzähle,  sei  dem  fünf  Jahre 
zuvor  geschriebenen  kurzen  Bericht  über  Galileis  Leben  entnommen 
und  dem,  was  er  sich  bewußt  sei,  aus  dem  Munde  seines  großen 
Lehrers  gehört  zu  haben.  ^  Hält  man  sich  an  den  Wortlaut  dieser 
Erklärung,  so  besagt  dieselbe,  daß  die  hervorgehobenen  Ausführungen, 
in  denen  der  Brief  vom  Jahre  1659  über  den  Inhalt  der  Erzählung 
vom  Jahre  1654  hinausgeht,  aus  Galileis  mündlicher  Mitteilung 
stammen. 

x\uf  Gahleis  direkte  Mitteilung  wird  demnach  von  Viviani  ein 
Bericht  zurückgeführt,  der  in  befremdender  Weise  mit  einem  ersten 
Anfang  selbständiger  wissenschaftücher  Erkenntnis  im  Jahre  1583 
unmittelbar  verknüpft  erscheinen  läßt,  was  im  Entwicklungsgang  der 
Galileischen  Forschung  in  zeitüch  getrennte  Fortschritte  zerfällt  und 
zum  größten  Teil  viel  späteren  Gedankenfolgen  angehört.  Das  letztere 
gilt  insbesondere  von  den  Envägungen,  um  derentwillen  Viviani  den 
neunzehnjährigen  Galilei  den  Isochronismus  der  Pendelschwingungen 
erwarten  läßt,  ehe  er  ihn  beobachtet  hat.  Um,  wie  Viviani  will,  als 
möghch  ansehen  zu  können,  daß  bei  dem  Fall  in  kreisförmiger  Bahn 
infolge  der  anfänglich  stärkeren  Neigung  der  Bahn  die  größere  Länge 
des  Weges  durch  die  größere  Geschwindigkeit  völlig  ausgeglichen 
\nrd,  muß  man  nicht  nur  mit  dem  Gesetz  der  Fallgeschwindigkeit 
auf  geneigter  Ebene  bekannt,  sondern  auch  in  die  Betrachtungs- 
weise eingeweiht  sein,  die  den  Weg  des  als  Pendel  aufgehängten 
Körpers  in  eine  Folge  geneigter  Ebenen  von  stetig  abnehmender 
Neigung  zerlegt  oder  vielmehr  —  da  diese  Betrachtungsweise  von 
GaUlei  herrührt:  es  müßte  diese  seine  Vorstellung,  die  nicht  Ein- 
gebung des  Augenbhcks  sein  kann,  also  mit  ihr  die  eigenthche  Unter- 
suchung über  die  Natur  der  Pendelschwingung  nicht  etwa  an  die 
Beobachtung  im  Dom  sich  knüpfen,  sondern  ihr  vorausgegangen  sein. 
Als  käme  es  darauf  an,  den  Widersinn  einer  solchen  Erzählung  noch 
schärfer  hervortreten  zu  lassen,  bemerkt  Viviani  ausdrücküch,  daß 
der  junge  Galilei  zu  jener  Zeit  sein  Auge  noch    der  Mathematik  nicht 

1  Ed.  Naz.  XIX  p.  648. 


—     275     — 

zuj2:e\vandt  hatte.  Bedarf  es  eines  weiteren  Beweises,  um  außer  Frage 
zu  stellen,  daß  der  Biograph  diesen  Teil  seines  vorvojlständigten  Be- 
richts nicht  aus  Galileis  Munde  empfangen  hat? 

Was  dann  die  Angabe  über  die  Versuche  „im  Hause"  betrifft, 
so  widerspricht  ein  Teil  dorselbon  feststehenden  historischen  Tat- 
sachen. In  den  älteren  Schriften  zur  Bewegungslehre,  die  etwa  sieben 
Jahre  nach  den  hier  besprochenen  Pendelversuchen  entstanden  sein 
müssen,  ist  durchgehends  die  Unabhängigkeit  der  Fallgeschwindig- 
keit von  der  Masse  nur  für  Körper  gleicher  Art  behauptet;  für  ver- 
schiedenartige Materien  glaubte  Galilei  damals  sogar  beweisen  zu 
können,  daß  ihre  Fallgeschwindigkeit  je  nach  dem  Verhältnis  des 
Überschusses  des  Gewichts  über  das  Gewicht  des  vordrängten  Mediums 
verschieden,  also  für  eine  Bleikugel  in  der  Luft  etwa  elfmal  so  groß 
sein  müsse  als  für  eine  Holzkugel.  Diese  irrtümliche  Vorstellung 
findet  ihren  bestimmtesten  Ausdruck  in  der  Aufgabe,  die  Galilei  an 
das  Ende  seiner  älteren  Untersuchung  über  die  schiefe  Ebene  stellt: 
eine  Ebene  solcher  Neigung  herzustellen,  daß  von  zwei  Körpern 
gleicher  Größe,  aber  verschiedener  Art  derjenige,  der  bei  senkrechtem 
Fall  sich  schneller  bewegen  würde,  auf  dieser  Ebene  mit  derselben 
Gesch\nndigkeit  fiele,  wie  der  andere  bei  freiem  Fall,^  Wer  eine  solche 
Aufgabe  stellt  und  überdies  —  wie  Vivianis  neunzehnjähriger  Galilei 
—  über  den  Zusammenhang  zwischen  dem  Fall  auf  schiefer  Ebene 
und  der  Sch^^^ngung  des  Pendels  im  Reinen  ist,  kann  unmöglich  seit 
einer  Reihe  von  Jahren  beobachtet  haben,  daß  das  spezifische  Gewicht 
des  schwingenden  Körpers  die  Schwingungsdauer  nicht  beeinflußt. 
Ausdrücklich  hat  überdies  Galilei  in  seinem  letzten  Werke  ausgespro- 
chen, daß  er  längere  Zeit  hindurch  eine  imgleiche  Fallgeschwindigkeit 
verschiedenartiger  Stoffe  angenommen  habe. 

Das  Gleiche  gilt  von  den  beiden  Bemerkungen  über  die  Verschie- 
denheit der  Wirkung  des  Luftwiderstandes  auf  unglcicli  schnell- 
bewegte wie  auf  ungleich  dichte  Körper.  Es  handelt  sich  dabei  um 
Betrachtungen,  die  im  Zusammenhang  einer  vollständigeren  Theorie 
der  Pendelschwingungen  nicht  fehlen  durften,  —  so  finden  sie  sich  in 
den  1638  erschienonon  Discorsi;  wenn  aber  Viviani  eben  diese  Betracli- 
tungen  in  das  Jahr  1583  verlegt,  so  beweist  das  nur  die  erstaunlich 
geringe  Sorgfalt,  die  er  auf  die  Zusammenstellung  seines  Berichts 

1  Ed.  Naz.  I  p.  301. 

lt.* 


—     276     — 

vom  Jahre  1659  verwandt  hat.  In  der  Tat  wird  man  kaum  fehl- 
greifen, wenn  man  als  eigentliche  Quelle  für  die  hier  besprochenen 
Ausführungen  im  einzelnen  den  Wortlaut  eben  jener  Discorsi  von 
1638  betrachtet,  dagegen  für  die  kühne  tJbertragung  von  Versuchen 
und  Gedanken  aus  diesem  Werk  in  Galileis  zweites  Studienjahr  sich 
an  jene  andere  Quelle  hält,  aus  der  das  Verzeichnis  der  von  Gustav 
Adolf  gehörten  Vorlesungen  und  die  Liste  der  Freunde  herrührt, 
denen  Galilei  von  Padua  aus  über  die  Entdeckung  der  Sonnenflecken 
berichtet  hat. 

Viviani  berichtet  also  mit  der  Miene  des  ernsten  Historikers 
und  mit  der  Einzelkenntnis  des  Eingeweihten  über  Versuche,  die 
Gahlei  jener  Zeit  keinesfalls  ausgeführt  hat,  wie  zuvor  über  Gedanken, 
die  er  nicht  gehabt  haben  kann.  Die  Versuche  wie  die  Gedanken, 
die  in  dem  Brief  über  die  Erfindung  der  Pendeluhr  dem  neunzehn- 
jährigen Galilei  zugeschrieben  werden,  gehören  ersichtlich  der  ent- 
wickelten Lehre  von  den  Pendelbewegungen  an,  wie  sie  an  drei  ver- 
schiedenen Stellen  der  Galileischen  Discorsi  mitgeteilt  wird.  Daß 
auch  für  Viviani  in  seiner  Erzählung  aus  den  Jugendjahren  eben  dieses 
letzte  Werk  des  Meisters  oder  doch  seine  Denkweise  in  der  Periode 
der  höchsten  Reife  die  Quelle  gewesen  ist,  läßt  sich  unter  anderem 
daraus  entnehmen,  daß  er  dem  Bericht  über  die  ältesten  Pendel- 
versuche  auch  einen  Satz  eingefügt  hat,  der  sich  in  Galileis  Schriften 
nirgends  sonst  als  in  dem  letzten  Teil  der  Discorsi  von  1638  findet. 

„Je  größer  die  Geschwindigkeit  des  bewegten  Körpers"",  sagt 
Gahlei  bei  der  Erörterung  über  die  Geschwindigkeit  der  Geschosse, 
„um  so  gößer  wd  der  Widerstand  sein,  der  ihnen  von  der  Luft  ent- 
gegengesetzt wd,"  und  wie  er  dann  zeigt,  daß  trotzdem  die  großen 
Pendelschwingungen  durch  den  Widerstand  der  Luft  nicht  merkhch 
mehr  verzögert  werden  als  die  kleinsten,  so  läßt  auch  Viviani  aus  den 
beschriebenen  Versuchen  vom  Jahre  1583  den  neunzehnjährigen  Be- 
obachter schHeßen:  daß  bei  verschiedenster  Größe  der  Ablenkung 
die  Dauer  der  Sch\nngungen  desselben  Pendels  durchaus  die  gleiche 
sei  oder  daß  zmn  mindesten  eine  merkhche  Verschiedenheit  nicht 
wahrgenommen  und  dem  Hindernis  der  Luft  zugeschrieben  werden 
könne,  die  dem  schneller  bewegten  Körper  mehr  Widerstand  leistet 
als  dem  weniger  schnellen. 

Bekanntlich  folgert  Galilei  in  den  Discorsi  aus  dem  angegebenen 
Gesetz  des  Luftwiderstandes,  daß  die  Bewegung  des  in  der  Luft  fallen- 


—     277     — 

den  Körpers  schließlich  eine  Gjleichförmifje  werden  muß.  Die  p^leiche 
Behauptung  wird  in  den  älteren  Abhandlungen  de  motu  aufgestellt 
und  begründet,  hier  aber  ausschließlich  auf  die  Abnahme  der  ein- 
geprägten Kraft  zurückgeführt.  Das  Charakteristische  dieser  älteren 
Anschauung  ist,  daß  es  eines  Widerstands  der  Luft  noch  nicht  bedarf, 
um  eine  Verlangsamung  der  Bewegung  zu  bewirken.  Daß  Viviani 
anachronistisch  auch  hier  den  neunzehnjährigen  mit  den  Begriffen 
des  siebzigjährigen  operieren  läßt,  veranschaulicht  in  besonderer 
Weise  die  Willkür,  mit  der  er  Vorstellungen  und  tatsächliche  Erkennt- 
nisse aus  späteren  Perioden  in  die  der  jugendlichen  Entvdcklung 
überträgt. 

Als  willkürlich  darf  man  wohl  ohne  Bedenken  ein  solches  An- 
ordnen und  Gruppieren  der  Vorgänge  bezeichnen,  das  nicht  allein 
auf  geschichtliche  Überlieferungen  nicht  zurückzuführen  ist,  sondern 
geschichtlich  Gegebenes  unbeachtet  läßt;  es  liegt  jedoch  keine  Not- 
wendigkeit vor,  dem  Biographen  be\Mißte  Verleugnung  der  Wahrheit  zur 
Last  zu  legen;  vielmehr  scheint  hier  neben  jener  mehrfach  berührten 
Neigung,  als  geschehen  hinzustellen,  was  mutmaßlich  oder  möglicher- 
weise geschah,  als  wesentliches  Moment  die  unbegrenzte  kindliche 
Verehrung  in  Betracht  zu  kommen,  die  er  seinem  großen  Lehrer  zollt. 
Viviani  ist  offenbar  außerstande,  an  dem  Gegenstand  seiner  leiden- 
schaftlichen Bewunderung  auch  nur  insoweit  Kritik  zu  üben,  als 
dies  erforderlich  ist,  um  im  Denken  und  Entdecken  des  großen  Mannes 
Stufenfolgen  zu  begreifen.  Fast  möchte  man  glauben,  daß  ihn  eine 
Vorstellungsweise  schreckt,  die  notwendig  dazu  führen  muß,  der 
erreichten  Vollkommenheit  gegenüber  Momente  der  Unvollkommenheit 
anzuerkennen.  So  läßt  die  Fortsetzung  seiner  Erzählung  im  Brief  von 
1659  allerdings  die  Entdeckung  des  Gesetzes  der  Pendellängen  erst 
in  die  Zeit  nach  dem  Beginn  der  mathematischen  Studien  fallen, 
aber  im  Zusanmienhang  seiner  Erzählung  hört  sich  diese  Angabe  nur 
\ne  eine  Entschuldigung  dafür  an,  daß  nicht  auch  diese  Entdeckung, 
bei  der  es  sich  um  Quadratwurzeln  handelte,  sich  in  unmittelbarer 
Folge  den  Beobachtungen  im  Dom  zu  Pisa  anschloß. 

Es  darf  hier  hervorgehoben  werden,  daß  niemand  weniger  als 
Galilei  selbst  geneigt  war,  so  ungeschichtliche  Vorstellungen  über  den 
Verlauf  seiner  Forschungen  zur  Geltung  zu  bringen;  zu  wiederholten 
Malen  gedenkt  er  der  „tausende  von  Stunden",  die  er  über  den  ein- 
fachsten Problemen  seiner  Bewegungslehre  gesonnen  und  gebrütet 


—     278     — 

hat.  Viviani  dagegen  bietet  nicht  allein  nirgends  einen  Aufschluß 
über  den  hier  angedeuteten  denlavürdigen  Gedankenprozei3,  der  zur 
Begründung  der  heutigen  Wissenschaft  geführt  hat,  er  negiert  viel- 
mehr in  gewissem  Maße  jeden  solchen  Werdegang  durch  die  Nicht- 
erwähnung irgendwelcher  Übergangsstufen  und  Irrtümer. 

Als  erwiesen  darf  nach  den  vorstehenden  Erörterungen  betrachtet 
werden,  daß  Vivianis  biographische  Schriften  in  einer  Reihe  von  Fällen 
teils  unrichtige,  teils  schlechthin  unwahrscheinliche  Angaben  in  zweifel- 
loser Bestimmtheit  der  Erzählung  einfügen;  es  erscheint  dadurch 
seinen  Mitteilungen  gegenüber  Vorsicht  und  Zweifel  auch  da  gerecht- 
fertigt, wo  nicht,  wie  in  den  besprochenen  Beispielen,  wohlverbürgte 
Tatsachen  und  unzweideutige  Aussagen  den  seinigen  gegenüberstehen. 
Nicht  ohne  nähere  Prüfung  wird  man  insbesondere  alle  diejenigen 
biographischen  Einzelheiten,  die  nur  durch  ihn  bekannt  sind,  in  der 
bisher  üblichen  Weise  als  geschichtlich  beglaubigt  betrachten  dürfen. 

Eine  solche  Prüfung  muß  allerdings,  sofern  sie  sich  vorzugsweise 
auf  die  Daten  der  Jugendgeschichte  bezieht,  dem  Bedenken  unter- 
liegen, daß  sie  Erzählungen  zu  zergliedern  versucht,  bei  denen  es 
kaum  darauf  ankommt,  ob  sie  tatsächliche  Vorgänge  mehr  oder  minder 
getreu  reproduzieren,  die  vielmehr  auch  als  sagenhafte  Überheferungen, 
wie  sie  dem  Unbefangenen  sich  darbieten,  die  Jugendperiode  des 
großen  Forschers  in  anschaulicher  Weise  illustrieren ;  es  erscheint  wie 
ein  Eingriff  in  das  Recht  der  Poesie,  hier  nach  einem  zugrunde- 
liegenden wirkKchen  Geschehen  zu  suchen. 

Darauf  ist  zu  entgegnen,  daß  trotz  des  unverkennbar  sagenhaften 
Charakters  der  hier  zumeist  in  Betracht  kommenden  Erzählungen 
dieselben  fast  allgemein  im  Vertrauen  auf  das  Zeugnis  Vivianis  als 
historische  Angaben  in  den  Zusammenhang  der  Biographie  aufge- 
nommen und  darüber  hinaus  in  der  Geschichte  der  Physik  für  den  Ent- 
wicklungsgang der  physikalischen  Grundlehren  verwertet  worden  sind 
und  daß  auf  diese  Weise  sowohl  über  den  Lebensgang  und  den  Charak- 
ter Galileis  wie  über  die  Entwicklung  des  physikalischen  Denkens 
zweifellos  Irrtümer  in  Aufnahme  gekommen  sind,  deren  Berichtigung 
auch  dann  nicht  überflüssig  sein  kann,  wenn  man  aus  irgendwelchem 
Grunde  für  notwendig  hält,  die  Jugendgeschichte  Galileis  in  der  Form, 
die  ihr  Viviani  gegeben  hat,  für  immer  zu  bewahren.  Immerhin  wird 
es  der  Prüfung  wert  sein,  ob  nicht  etwa  die  von  anekdoten-  und  sagen- 
haften Bestandteilen  gereinigte  Geschichte  an  innerer  Glaubwüi'dig- 


._     279     - 

keit  und  Einheit  gewinnt,  was  möglicherweise  ihre  Anfänge  an  poeti- 
tischer  Verklärung  einbüßen  könnten. 

Es  sind  insbesondere  drei  Episoden  des  Vivianischen  Berichts, 
die  für  eine  solche  Prüfung  in  Betracht  kommen.  Zunächst  die  bereits 
berührte  ältere  Form  der  Erzählung  von  den  Beobachtungen  im  Dom 
zu  Pisa,  Die  Tatsache  dieser  Beobachtungen  oder  Wahrnehmungen 
und  die  an  sie  geknüpfte  Entdeckung  des  Isochronismus  der  Pendel- 
schwingungen noch  in  der  Zeit  der  akademischen  Studien  ist  in  den 
vorstehenden  Erörterungen  als  an  sich  dem  Zweifel  nicht  unter- 
liegend festgehalten.  Auch  für  die  Xotiz  in  dieser  einfacheren  Form 
ist  Viviani  alleiniger  Gewährsmann.  Bei  Gherardini,  der  mit  Vorliebe 
pikante  Erzählungen  gesammelt  hat,  ist  von  dem  schwingenden 
Kronleuchter  nicht  die  Rede;  man  darf  also  annehmen,  daß  Gherar- 
dini, der  mit  Galilei  seit  1632  verkehrt,  ihn  nicht  davon  hat  reden 
hören;  auch  in  den  Erinnerungen  des  Sohnes  Vincenzio  Galilei,  die 
freilich  auch  von  vielem  anderen  schweigen,  ist  der  Pisaner  Beobach- 
tungen und  Versuche  nicht  gedacht;  aber  ebensowenig  sind  sie  von 
Galilei  selbst  an  irgendeiner  Stelle  seiner  Schriften  oder  Briefe  bei 
Gelegenheit  seiner  Auseinandersetzungen  über  die  Gesetze  der  Pendel- 
schwingungen berührt.  Dagegen  findet  sich  in  den  1638  veröffent- 
lichten Discorsi  im  Zusammenhang  mit  der  nachdi'ücklichen  Dar- 
legung der  Ansicht,  daß  große  und  kleine  Sch^^^ngungen  des  gleichen 
Pendels  gleiche  Dauer  haben,  eine  Bezugnahme  auf  schwingende 
Kirchenlampen,  die  jedermann  an  Vivianis  Erzählung  erinnern  muß. 
Nachdem  Salviati  in  der  Kürze  die  Gesetze  der  Pendelbewegung 
angeführt  hat,  sagt  Sagredo^: 

„Ihr  gebt  mir  häufig  Gelegenheit,  den  Reichtum  und  zugleich 
die  außerordentliche  Freigebigkeit  der  Natur  zu  bewundern,  indem 
Ihr  aus  gewöhnlichen  und,  ich  möchte  sagen,  auch  gewissermaßen 
niedrigen  Dingen  höchst  merkwürdige  und  neue  und  sehr  oft  jeder 
Einbildungskraft  fernliegende  Erkenntnisse  entnehmt.  Ich  habe  wchl 
tausendmal  auf  Schwingimgen  acht  gegeben,  insbesondere  bei  den 
Lampen,  die  in  manchen  Kirchen  von  sehr  langen  Seilen  herabhängen, 
wenn  dieselben  unachtsamerweise  von  irgend  jemand  in  Bewegung 
versetzt  wurden;  aber  höchstens  habe  ich  aus  solcher  Beobachtung 
entnommen,  wie  unwahrscheinlich  die  Meinung  derjenigen  ist,  di(i 


1  Ed.  Naz.  VIII  p.  I40f. 


—     280     — 

behaupten,  daß  derartige  Bewegungen  vom  Medium,  alsn  von  der 
Luft,  erhalten  und  fortgesetzt  werden,  aber  daß  ich  daraus  lernen 
sollte,  daß  derselbe  an  einem  hundert  Ellen  langen  Seile  hängende 
Körper  von  seiner  tiefsten  Lage  das  eine  Mal  um  90  Grad,  das  andere 
Mal  um  einen  oder  einen  halben  Grad  abgelenkt,  ebensoviel  Zeit 
gebrauchte,  diesen  kleinsten  wie  jenen  größten  Bogen  zu  durchlaufen, 
darauf,  glaube  ich,  würde  ich  nie  gekommen  sein." 

Daß  in  irgendwelcher  Weise  zwischen  dieser  Sagredo  in  den  Mund 
gelegten  Äußerung  und  dem,  was  Viviani  berichtet,  ein  Zusanunen- 
hang  bestehen  muß,  leuchtet  ein.  Hat  Galilei  in  Wahrheit  in  jungen 
Jahren  erlebt,  was  Viviani  als  Tatsache  angibt,  so  hat  er  ohne  Zweifel, 
als  er  50  Jahre  später  die  Worte  Sagredos  niederschrieb,  den  Vorgang 
im  Pisaner  Dom  im  Sinne  gehabt;  er  hat  aber  ebenso  gewiß  die  Jugend- 
erinnerung, auf  die  er  anzuspielen  scheint,  nicht  in  verständlicher 
Weise  zur  Sprache  gebracht,  sondern  sie  geradezu  versteckt,  wie  man 
es  nicht  sorgfältiger  bei  Erlebnissen  könnte,  die  dem  Erzähler  zur 
Schande  gereichen. 

Solch  absichtliches  Verhüllen  erscheint  kaum  verständlich  bei 
einem  Manne,  der  es  nie  verschmäht  oder  gar  ungebührlich  gefunden 
hat,  sich  des  erfolgreichen  Mühens  wie  des  glücklichen  Findens  zu 
rühmen,  und  doch  wird  man  nicht  leicht  eine  andere  Deutung  finden, 
wenn  es  wirklich  notwendig  sein  sollte,  den  wahren  Sinn  der  etwa  im 
Jahre  1634  geschriebenen  Worte  einer  iVnekdote  zu  entnehmen,  die 
im  Jahre  1654  zum  erstenmal  erzählt  '^ird. 

Einfacher  kann  man  allerdings  in  der  an  sich  der  Deutung  nicht 
bedürftigen  früheren  Äußerung  den  Ausgangspunkt  für  die  Ent- 
stehung einer  Sage  sehen,  die  Viviani  als  Schilderung  eines  geschicht- 
lichen Vorgangs  in  seine  Lebensdarstellung  aufgenommen  hat.  Ein 
Widerspruch  gegen  diese  Auffassung  kann  jedenfalls  nicht  durch 
den  Hinweis  auf  die  Autorität  des  „letzten  Schülers"  begründet 
werden.  Was  wir  von  diesem  wissen,  läßt  vielmehr  als  gewiß  betrach- 
ten, daß  er  unfähig  gewesen  wäre,  eine  ihm  irgendwoher  zugetragene 
Erzählung  nicht  aufzunehmen,  aus  der  so  unverkennbar  und  in  so 
frühen  Jahren  der  Genius  des  angebeteten  Meisters  hervorleuchtet. 

Mit  der  Annahme,  daß  es  sich  in  dieser  Erzählung  keineswegs 
um  einen  geschichtlichen  Vorgang  handelt,  steht  anderseits  im  Ein- 
klang, daß  die  wichtige  Erkenntnis  des  Isochronismus  der  Pendel- 
schwingungen in  den  Pisaner   Schriften  zur  Bewegungslehre,  also 


—     281     — 

mindestens  sieben  Jahre  nach  dem  Zeitpunkt  der  angeblichen  Ent- 
deckung bei  gegebener  Gelegenheit  nicht  erwähnt  wird.  Einer  pendel- 
artigen Vorrichtung  wird  allerdings  im  Vorübergehen  gedacht,  als 
eines  Mittels,  um  experimentell  zu  beweisen,  daß  der  schwerere  Körper 
die  ihm  eingeprägte  Bewegung  länger  behält^;  aber  für  die  Ausführung 
des  hier  beschriebenen  Versuchs  war  es  nicht  nötig,  zu  wissen,  daß 
die  Dauer  der  einzelnen  Schwingung  von  der  Weite  derselben  unab- 
hängig ist. 

Es  ist  außer  Frage,  daß  Galilei  bei  denjenigen  Versuchen,  durch 
die  er  etwa  im  Jahre  1604  oder  kurz  zuvor  die  Gesetze  des  freien 
Falls  ableitet  oder  bestätigt,  sich  des  Pendels  als  Zeitmesser  nicht 
bedient  hat;  noch  bei  der  Beschreibung  solcher  Versuche  in  den 
üiscorsi  von  1638  wird  ausschließlich  der  Messung  durch  die  Gewichte 
des  ausfließenden  Wassers  gedacht;  es  läßt  sich  begreifen,  daß  er 
in  dieser  späten  Mitteilung  sein  Verfahren  genau  so  darstellt,  wie  es 
bei  den  ursprünglichen  Versuchen  in  Anwendung  gebracht  wurde, 
also  auch  die  schwerfällige  Weise  der  Zeitmessung  nicht  durch  die- 
jenige ersetzt,  die  er  inzwischen  kennengelernt  hat;  als  wenig  wahr- 
scheinlich muß  dagegen  betrachtet  werden,  daß  er  im  Jahre  1604 
das  außerordentlich  viel  einfachere  Mittel  unbenutzt  gelassen  hätte, 
wenn  ihm  zu  dieser  Zeit  schon  der  Gedanke  gekommen  wäre,  von 
der  theoretischen  Erkenntnis  des  Isochronismus  der  Pendelschwin- 
gungen die  Anwendung  zu  machen,  die  ihm  nach  Viviani  zwanzig 
Jahre  zuvor  als  unmittelbare  Frucht  der  Beobachtungen  im  Dom 
zu  Pisa  sich  ergeben  hätte. 

Die  Nichtbenutzung  des  Pendels  bei  den  Fallversuchen  legt  die 
Vorstellung  nahe,  daß  es  hier  wie  in  so  vielen  verwandten  Fällen  für 
die  praktische  Anwendung  der  erkannten  Gesetzmäßigkeit  eines 
zweiten  Erkennens  bedurft  hat,  das  einem  nicht  unerheblich  späteren 
Zeitpunkt  angehört  hat.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  zu  untersuchen, 
ob  diesen  zweiten  Schritt  ein  anderer  vor  Galilei  getan  hat.  Gewiß 
ist,  daß  auch  in  bezug  auf  die  Verbindung  beider  Wahrnehmungen 
Vivianis  Aussage  als  unzuverlässig  betrachtet  werden  muß. 


Den  Erzählungen  über  die  Pendelforschung  nahe  verwandt  sind 
die  Mitteilungen  über  das  Verhalten  des  jungen  Galilei  zur  Schul- 


1  Ed.  Naz.  I  p.  335  und  413. 


—     282     - 

Wissenschaft  und  zur  Lehre  des  Aristoteles.  Wie  in  jenen  die  wissen- 
schaftliche Entdeckung  in  die  Zeit  vor  dem  Beginn  jeder  wissenschaft- 
lichen Tätigkeit  zu  fallen  scheint,  so  fällt  die  Äußerung  des  scharfen 
kritischen  Sinnes  nach  Vivianis  Darstellung  schon  in  die  Tage  des 
Novizen  von  Vallombrosa:  ,, langweilig,  nutzlos  und  unbefriedigend" 
dünlvcn  ihn  im  logischen  Unterricht  „die  dialektischen  Termini,  die 
vielen  Definitionen  und  Distinktionen,  die  Menge  der  Schriften,  An- 
ordnung und  Inhalt  des  Vortrags.  "^ 

Als  er  dann  auf  der  Pisaner  Universität  die  Vorträge  über  aristote- 
lische Philosophie  zu  hören  begonnen,  kam  ihm  alsbald  der  Gegensatz 
seiner  eigenen  Denkweise  gegen  die  der  herrschenden  Schulweisheit 
zum  Bewußtsein;  „er,  den  die  Natur  erkoren  hatte,  der  Welt  einen 
Teil  der  Geheimnisse  zu  enthüllen,  die  so  viele  Jahrhunderte  hin- 
durch in  dichtester  Finsternis  begraben  lagen,  weil  die  Geister  in 
sklavischer  Abhängigkeit  der  Meinung,  den  Behauptungen  eines  ein- 
zelnen folgten,  er  vermochte  schon  damals  nicht,  sich  wie  die  anderen 
blindlings  dem  fremden  Verstände  zu  unterwerfen;  freien  Geistes, 
wie  er  den  Dingen  gegenüberstand,  meinte  er,  nicht  so  leichthin  sich 
auf  die  Aussprüche  und  Meinungen  der  alten  wie  der  neueren  Schrift- 
steller verlassen  zu  dürfen,  wo  er  durch  Nachdenken  und  Erfahrung 
der  Sinne  sich  selbst  befriedigen  konnte.  Er  trat  daher  in  den  Disputa- 
tionen über  Sätze  der  Naturlehre  oftmals  denen  gegenüber,  die  sich 
verpfHchtet  glaubten,  jedes  von  Aristoteles  geschriebene  Wort  aufs 
strengste  zu  verteidigen  und  erwarb  sich  unter  ihnen  den  Namen 
eines  Widerspruchsgeistes,  weil  sie  es  unerträglich  fanden,  die  Lehren, 
die  sie  sozusagen  mit  der  Muttermilch  eingesogen,  in  neuer  Weise 
mit  Leichtigkeit  bestritten  und  widerlegt  zu  sehen."- 

Diese  Schilderung,  die  im  wesentlichen  noch  für  die  ein  Viertel- 
jahrhundert später  beginnende  Periode  des  Kampfes  um  die  tele- 
skopischen Entdeckungen  passen  würde,  ist  in  einer  späteren  Bearbei- 
tung der  Biographie  von  Viviani  in  sehr  charakteristischer  Weise 
verbessert  und  ergänzt  worden. ^  Hier  läßt  er  den  kecken  Studenten 
nicht  ,, oftmals",  sondern  ,, immer"  den  Anhängern  des  Aristoteles 
widersprechen;  zum  Namen  „Widerspruchsgeist",  den  er  nach  dem 
ursprünglichen  Wortlaut  sich  erwirbt,  kommt  in  dem  verbesserten: 

1  Ed.  Naz.  XIX,  p.  602. 

2  Ed.  Naz.  XIX,  p.  G02f. 

*  Vergl.  über  diese  Bearbeitung  Ed.  Naz.  XIX,  p.  597—598. 


—     283     — 

„als  Belohnung  für  die  von  ihm  entdeckten  Wahrheiten  der  Haß" 
der  Verteidiger  des  Aristoteles;  die  Kühnheit  und  zugleich  die  Be- 
deutung seines  Auftretens  wird  nachdrücklich  gekennzeichnet,  indem 
er  seinen  Widerspruch  erhebt  „als  ein  blutjunger  Student"  (giovanetto 
studente),  der,  wie  die  Gegner  sich  ausdrücken,  „noch  nicht  seinen 
Kursus  durchgemacht  hat";  obgleich  aber  durch  diesen  Zusatz  die 
Szene  der  gelehrten  Kämpfe  noch  bestimmter  in  die  ersten  Studien- 
jahre verlegt  \nrd,  bringt  der  junge  Galilei  seine  Entgegnungen  nicht 
nur,  wie  es  der  älteren  Ausgabe  genügte,  „mit  Leichtigkeit",  sondern 
auch  „in  durchaus  überzeugender  Weise"  (con  tanta  evidenza)  zum 
Vortrag. 

Die  wesentliche  Verschärfung  des  oppositionellen  Verhaltens, 
die  in  dieser  \ierfachen  Änderung  liegt,  ist  wenig  geeignet,  Vivianis 
Darstellung  glaubhafter  erscheinen  zu  lassen.  Konnte  die  ältere  Lesart 
noch  als  eine  stark  verherrlichende  Xachbildung  wirklicher  Vor- 
gänge angesehen  werden,  so  ergänzen  die  Verbesserungen  das  dort 
Gegebene  zum  Bild  des  Jünglings  von  ,, übernatürlicher"  Begabung, 
für  den  es  ein  geistiges  Werden  nicht  eigentlich  gegeben  und  der 
deshalb  nicht  irgendwelcher  einführender  Studien  bedurft  hat,  um 
neue  Walirheiien  zu  entdecken,  um  in  den  Werken,  die  für  die  Mit- 
lebenden den  Inbegriff  des  Wissens  darstellen,  auf  den  ersten  Blick 
die  leere  Wortweisheit  zu  erkennen,  um  neue  Weisen  des  Denkens 
und  Begründens  der  veralteten  Dialektik  gegenüberzustellen.  Zugleich 
aber  machen  die  Varianten  der  späteren  Bearbeitung  in  erhöhtem 
Maße  wahrscheinlich,  daß  Vivianis  Bild  nicht  den  Erinnerungen  und 
Aufzeichnungen  des  gewissenhaften  Historikers  entnommen,  sondern 
aus  der  Phantasie  des  Künstlers  hervorgegangen  ist,  der  nach  Be- 
dürfnis und  I^eigung  umgestaltet,  was  er  gestaltet  hat.^ 


^  In  gleichem  Sinne  charakteristisch  erscheint  die  Kürzung,  die  Viviani 
in  der  verbesserten  Handschrift  seiner  Biographie  an  der  Schilderung  der 
Kindheit  vorgenommen  hat.  Die  ältere  von  Salvini  und  übereinstimmend 
von  der  Paduancr  Ausgabe  mitgeteilte  Lesart  läßt  den  Knaben  in  seinen  Spiel- 
stunden „Alles,  was  ihm  an  Merkwürdigem  und  Sinnreichem  zu  Gesichte 
gekommen  war,  nachbilden,  wie  es  ihm  durch  den  Kopf  ging,  oder  v,-ie  es 
seine  Schulgefährten  von  ihm  begehrten,  denen  er  deswegen  ein  beliebter 
Kamerad  gewesen  ist".  Die  verbesserte  Ausgabe  hat  das  Begehren  der  Schul- 
gefährten und  diese  selbst  über  Bord  geworfen.  Dafür  sind  aus  den  frülier 
nur  allgemein  bezeichneten  Nachbildungen  in  der  späteren  Bearbeitung 
, »Mühlen,  Schiffe  und  dergleichen"  geworden. 


—     284     — 

Viviani  hat  allem  Anscheine  nach  in  seiner  Schilderung  des 
kämpfenden  Pisaner  Studenten  seine  Vorstellung  von  den  Ursprüngen 
des  Streits,  der  Galileis  Leben  erfüllte,  verkörpert;  für  den  blind- 
verehrenden Schüler  beginnt  mit  dem  ersten  Blick  in  ein  aristote- 
lisches Buch  der  "Widerspruch  gegen  den  Aristoteles.  Zu  wesentlich 
anderen  Vorstellungen  gibt  die  einzige  aus  Galileis  Studienzeit  er- 
haltene Urkunde,  das  im  ersten  Band  besprochene  Kollegienheft, 
Veranlassung.  1  Wie  "wunderlich  auch  in  den  Vorträgen  „über  den 
Himmel"  der  scholastische  Meister  spekuliere  und  disputiere  —  nirgends 
zeigt  das  Heft,  in  dem  der  achtzehn-  oder  neunzehnjährige  Student 
seine  Lehren  eingetragen,  eine  Spur  von  jenem  Widerspruchsgeist, 
von  dem  Viviani  so  Erstaunliches  zu  berichten  weiß;  keine  Bemerkung, 
nicht  ein  bescheidenes  Fragezeichen  am  Rande  deutet  an,  daß  der 
Inhalt  der  Vorträge  über  die  Schriften  des  Aristoteles  für  den  jugend- 
lichen Hörer  Gegenstand  der  Kritik  oder  auch  nur  des  leise  sich 
regenden  Zweifels  gewesen  ist;  geduldiger  hat  niemals  ein  Schüler 
halb  verstandene  und  unverstandene  Weisheit  nach  Hause  getragen.^ 

Selbst  in  den  frühestens  vier  Jahre  darauf  entstandenen  Ab- 
handlungen und  Dialogen  zur  Bewegungslehre  sind  es  nicht  allgemeine 
kritische  Bedenken,  sondern  wesentlich  mathematische  Betrachtungen, 
an  die  ein  Widerspruch  gegen  den  Aristoteles  sich  knüpft;  die  Beschäf- 
tigung mit  der  Mathematik  hat  offenbar  den  Ausgangspunkt  der 
neuen  Denkweise  und  der  Abwendung  von  der  Schulgelehrsamkeit 
gebildet,  und  darin  liegt  ein  weiterer  Beweis  dafür,  daß  die  Kämpfe 
der  jüngeren  Jahre  der  Sage  angehören. 

Geschichtlich  wahrscheinlicher  wenigstens  lautet  der  Bericht 
über  die  Pisaner  Lehrtätigkeit  und  die  offene  Bekämpfung  des  Aristo- 
teles während  dieser  Periode.  Die  Schriften  zur  Bewegungslehre 
beweisen,  daß  in  dieser  Zeit  in  der  Gedankenwelt  des  jungen  For- 
schers der  Gegensatz  gegen  die  aristotelische  Physik  bereits  eine  ent- 
scheidende Rolle  spielt ;  es  ist  also  wohl  denkbar,  daß  die  neu  gewonnene 
Überzeugung  schon  damals  auch  sein  äußeres  Leben  beeinflußt  und 
bestimmt  hat.  Ist  aber  das,  was  in  dieser  Beziehung  Viviani  erzählt, 
auch  mehr  als  nur  ..sehr  wohl  denkbar?"  Mit  andern  Worten:  nötigt 

1  s.  Bd.  I.  S.  70ff. 

-  Wer  wie  einige  italienische  Gelehrte  in  dem  ,, Kollegienheft"  vielmehr 
die  erste  eigene  Arbeit  Galileis  sieht,  wird  dreifach  unverständlich  finden 
müssen,  was  Viviani  von  kritischen  Gelüsten  erzählt. 


—     285     — 

lins  Vivianis  Bericht,  zu  «rlauben,  daß  ihm  übor  die  Zeit  der  Pisaner 
Professur  Mitteilungen  zu  Gebote  standen,  die  uns  heute  fehlen?  oder 
läßt  sich  annehmen,  daß  er  hier  —  wie  in  so  manchen  andern  Fällen  — 
nur  das,  was  ihm  in  der  Vorstellung  gewiß  erschien,  ohne  Benutzung 
der  sonst  üblichen  Wege  zur  geschichtlichen  Wahrheit  in  die  Bio- 
graphie hinübergenommen  hat? 

jN'icht  zu  bezweifeln  ist  vor  allem,  daß  wie  für  uns,  auch  fürViviani 
(h'e  handschriftlich  erhaltenen  Abhandlungen  „de  motu"  die  Haupt- 
quelle für  die  Kenntnis  jener  Zeit  gewesen  sind.  Man  braucht  aus 
seiner  Erzählung  nur  einige  Worte  wegzulassen,  um  in  ihr  im  wesent- 
lichen einen  kurzen  Bericht  über  den  Hauptinhalt  der  Abhandlungen 
zu  lesen. 

„In  der  Erkenntnis,  daß  zur  Erforschung  der  Naturerscheinungen 
mit  Notwendigkeit  eine  wahre  Einsicht  in  die  Natur  der  Bewegung 
erforderlich  ist"  —  so  schreibt  Viviani  — ,  „gab  Galilei  damals  sich 
ganz  dem   Nachdenken  über  diesen  Gegenstand  hin;  so  wurden  in 

jener  Zeit 

von  ihm  mit  Hilfe  von  Experimenten  und  durch  strenge  Beweise  und 
Erörterungen  sehr  zahlreiche,  auf  die  Bewegung  bezügliche  Lehren 
des  Aristoteles  als  falsch  er\\iesen,  die  bis  zu  jener  Zeit  als  durchaus 
klar  und  keinem  Zweifel  unterliegend  angesehen  waren,  wie  unter 
anderm,  daß  die  Geschwindigkeiten  von  Körpern  derselben  Materie, 
aber  ungleicher  Schwere,  wenn  dieselben  sich  dm-ch  dasselbe  Medium 
bewegen,  keineswegs  dem  Verhältnis  ihrer  absoluten  Schwere  ent- 
sprechen, wie  Aristoteles  es  angibt,  sondern  daß  dieselben  vielmehr 

sich  alle  mit  gleicher  Geschwindigkeit  bewegen — 

und  daß  ebensowenig  die  Geschwindigkeiten  desselben  Körpers  in 
verschiedenen  Medien  im  umgekehrten  Verhältnis  mit  den  Wider- 
ständen oder  Dichtigkeiten  dieser  Medien  stehen,  was  er  aus  der 
offenbarsten  Absurdität  der  Konsequenzen  ableitete,  zu  denen  im 
Widerspruch  mit  der  Sinneswahrnehmung  die  Behauptung  des  Aristo- 
teles führen  müßte."  ^ 

Das  alles  könnte  offenbar  auch  ein  heutiger  Leser  der  Pisaner 
Abhandlungen  geschrieben  haben;  erst  die  beiden,  im  vorstehenden 
durch  Striche  bezeichneten  Zusätze  machen  aus  dem  Referat  über 
eine  Schrift  eine  Erzählung  aus  dem  Leben  ihres  Verfassers. 


1  Ed.  Naz.  XiX.  p  606. 


—     286     — 

An  der  ersten  Stelle,  wo  davon  die  Rede  ist,  daß  Galilei  als  Pisaner 
Dozent  Behauptungen  des  Aristoteles  als  falsch  erwiesen,  schaltet 
Viviani  ein:  „zur  großen  Bestürzung  aller  Piiilosophen". 

Für  den  unbefangenen  Leser  enthalten  diese  fünf  Worte  die 
Schilderung  einer  tatsächlich  ausgeübten  Wirkung.  Wir  wissen  bereits, 
(laß  Viviani  mit  ungefähr  den  gleichen  Worten  auch  den  Eindruck 
wiedergeben  würde,  den  seiner  Überzeugung  nach  Galileis  Gedanken 
hervorrufen  mußten,  wenn  immer  sie  den  Peripatetikern  bekannt 
wurden.  Der  Zusatz  beweist  daher  höchstens,  daß  Viviani  darüber, 
daß  der  wesentliche  Inhalt  der  Handschrift  in  die  Öffentlichkeit 
drang,  keinen  Zweifel  gehegt  hat.^ 

Bestimmter  ist  in  der  zweiten  Einschaltung  als  Tatsache  hin- 
gestellt, daß  die  Polemik  der  Abhandlungen  den  Gegenstand  öffent- 
licher Vorträge  und  Diskussionen  gebildet  hat.  Dem  Satz  von  der 
gleichen  Geschwindigkeit  ungleich  schwerer  Körper  fügt  Viviani  hinzu : 
„und  das  bewies  er  durch  wiederholte  Versuche,  die  von  der  Höhe 
des  Glockenturmes  zu  Pisa  herab  in  Anwesenheit  der  übrigen  Dozenten 
und  Philosophen  und  der  ganzen  Studentenschaft  ausgeführt  wurden,"^ 

Es  ist  nicht  möglich,  klarer  auszudrücken,  daß  nach  der  Meinung 
des  Berichterstatters  das  Erzählte  wirkhch  vorgefallen  ist,  man  wird 
daher  zunächst  geneigt  sein,  den  Gedanken  weit  abzuweisen,  daß 
auch  hier  nur  die  lebendige  Einbildungskraft  des  Biographen  aus 
der  Vorstellung,  die  er  den  Abhandlungen  ,,über  die  Bewegung" 
entnommen,  einen  geschichtlichen  Vorgang  gestaltet  hat. 

Gewiß  ist,  daß  für  Vivianis  Erzählung  jede  anderweitige  Be- 
stätigung fehlt  und  daß  dies  Fehlen  keinenfalls  als  unerheblich  an- 
gesehen werden  kann.  Denn  es  schweigen  über  den  völlig  außergewöhn- 
lichen Vorgang  auch  diejenigen,  die  ihn  zu  berühren  die  bestimmteste 
Veranlassung  hatten.  Das  gilt  insbesondere  von  Jacopo  Mazzone, 
der  als  Galileis  nahe  befreundeter  Kollege  in  der  Zeit  der  Pisaner 
Professur  im  zweiten  Kapitel  des  1.  Bandes^  genannt  ist.  Ihm  gegen- 


^  Eine  vollständige  Analogie  zu  den  fünf  Worten  bieten  diejenigen, 
die  Viviani  seiner  Angabe,  Galilei  habe  das  Pendel  zur  Messung  des  Puls- 
schlags benutzt,  hinzufügt;  es  verstand  sich  ganz  von  selbst,  daß,  wenn  er 
in  Wahrheit  diese  Erfindung  gemacht  hat,  dies  „con  istupore  e  diletto  de 
medici  di  que'  tempi"  geschah. 

2  Ed.  Naz.  XIX,  p.  606. 

ä  s.  Bd.  I,  S.  114f. 


—     287      - 

über  hat  Galilei  schon  damals  aus  seinen  Bedenken  ^egen  die  aristo- 
telische Physik  kein  ilehi  gemacht;  diese  Bedenken  sind  der  Gegen- 
stand freundschaftlicher  Disputationen  zwischen  beiden  Gelehrten  ge- 
wesen, in  denen  Mazzone  den  Aristoteles  verteidigte. ^  Es  ist  daher 
ebenso  unwahrscheinlich,  daß  diesen  Mann  öffentlich  angestellte  Ver- 
suche des  Freundes,  die  in  einem  Hauptpunkt  den  Aristoteles  ent- 
scheidend widerlegten,  gleichgültig  gelassen  hätten,  wie  es  undenkbar 
ist,  daß  sie  ihm  unbekannt  geblieben  wären, 

Nun  hat  aber  Mazzone  im  Jahre  1597,  also  fünf  Jahre  nach 
dem  Scheiden  Galileis  von  Pisa,  in  seinem  Buche  „de  comparationc 
Aristotelis  et  Piatonis"  auch  der  Naturlehre  des  Aiistoteles  ein- 
gehende Besprechungen  gewidmet.  Er  war  inzwischen,  wie  Galilei 
mit  Genugtuung  anerkannt  hat,  aus  einem  unbedingten  Verteidiger 
zum  mindesten  ein  ernster  Zweifler  geworden;  der  ordentliche  Pro- 
fessor der  aristotelischen  Philosophie  stellt  in  einem  besonderen  Ab- 
schnitt seines  Buchs  eine  Reihe  von  Irrtümern  zusammen,  denen 
Aristoteles  in  seiner  Physik  verfallen  ist,  weil  er  die  Bedeutung  der 
Mathematik  für  die  Begründung  der  Naturlehre  nicht  in  gebührender 
Weise  gewürdigt  hat.  Unverkennbar  liegen  dieser  Kritik  die  Unter- 
suchungen Benedettis  zugrunde;  in  der  Ausführung  selbständig,  nicht 
selten  auch  selbständig  irrend,  folgt  Mazzone  sowohl  in  der  Auswahl 
der  Sätze,  die  er  bemängelt,  wie  im  wesentlichen  in  der  Begründung 
seines  Widerspruchs  dem  Gedankengang  des  Turiner  Mathematikers; 
in  mehreren  Fällen  sind  Benedettis  „Disputationen  gegen  den  Aristo- 
teles" am  Rande  als  Quelle  angeführt,  so  bei  der  ausführlichen  Wider- 
legung der  Behauptung,  daß  im  leeren  Raum  die  Bewegung  keine 
Zeit  erfordern  würde.  Als  einen  Irrtum,  der  mit  diesem  nahe  zusammen- 
hängt, führt  Mazzone  den  Satz  an:  daß  die  Fallgeschwindigkeiten 
verschiedener  Körper  gleicher  Art  sich  nach  dem  Verhältnis  der 
Größe  richten;  er  behauptet  in  Übereinstimmung  mit  Benedetti  und 
Galilei,  die  er  nicht  nennt,  daß  vielmehr  im  gleichen  Medium  bei 
verschiedenster  Größe  Körper  derselben  Ai't  mit  gleicher  Geschwin- 
digkeit fallen. 

Wenn  irgendwo,  durfte  man  in  diesem  Zusammenhange  eine 
Bezugnahme  auf  die  Versuche  erwarten,  die  nach  Viviani  alle  Philo- 


^  Vergl.   Galileis  Brief  an  Mazzone  vom   30.  Mai   1597.     Ed.  Naz.   II 
p.  197. 


—     288     — 

sophen  in  Bestürzung  versetzt  hatten;  aber  Mazzone  begnügt  sich 
damit,  auf  Grund  des  archimedischen  Prinzips  für  seine  Behauptung 
einen  Beweis  abzuleiten,  den  er  leicht  und  überzeugend  findet^;  er 
schweigt  von  Versuchen,  die  dem  Ergebnis  der  mathematischen  Er- 
örterung zur  Bestätigung  dienen  könnten. 

Wie  Mazzone  im  Jahre  1597,  so  schweigt  trotz  dringender  Ver- 
anlassung, zu  reden,  im  Jahre  1612  der  Pisaner  Peripatetiker  Giorgio 
Coresio  von  Galileischen  Versuchen.  Coresio  gehörte  zu  denjenigen 
Schulgelehrten,  die  sich  berufen  fühlten,  gegen  Galileis  Discorso 
intorno  ai  Galleggianti  in  die  Schranken  zu  treten.  Bei  Erwähnung 
der  Galileischen  Ansicht  über  die  Fallgeschwindigkeit  ungleich  großer 
Körper  bemerkt  Coresio:  dies  habe  vor  Galilei  Mazzone  gelehrt,  sein 
Ii-rtum  sei  vielleicht  daraus  hervorgegangen,  daß  er  den  Versuch  nur 
vom  Fenster  aus  gemacht  habe,  von  dem  aus,  weil  es  niedrig  lag, 
alle  schweren  Körper  vielleicht  gleichschnell  zu  Boden  fielen;  er  aber 
(Giorgio  Coresio)  habe  ihn  von  der  Höhe  des  Campanile  des  Pisaner 
Doms  herab  ausgeführt  und  habe  die  Behauptung  des  Aristoteles 
bewährt  gefunden,  daß  von  derselben  Materie  das  Ganze,  „wenn 
seine  Gestalt  der  Gestalt  des  Teils  proportioniert  sei",  schneller  als 
dieser  falle.^ 

Nicht  nur  für  Coresio,  sondern  für  die  ganze  Schar  der  verbün- 
deten Florentiner  und  Pisaner  Gegner  mußte  von  Galileis  älteren 
Fallversuchen  jede  Spur  verloren  gegangen  sein,  wenn  sie  darauf 
verzichteten,  eine  solche  direkte  Widerlegung  des  Versuchs  -durch 
den  besseren  Versuch  gegen  ihn  auszubeuten.  In  der  Tat  wider- 
sprechen sie  alle  seiner  Lehre,  aber  keiner  gedenkt  seiner  Versuche. 

Aber  ein  Zeugnis  für  Versuche,  wie  Viviani  sie  beschreibt,  ist 
auch  bei  Galilei  selbst  nicht  zu  finden.  Die  Pisaner  Abhandlungen 
zur  Bewegungslehre,  wie  der  Dialog  über  den  gleichen  Gegenstand 
widerlegen  die  Lehren  des  Aristoteles,  begründen  Galileis  Ansicht 
über  die  Fallgeschwindigkeit,  aber  was  sie  von  Erfahrungen  in  gleichem 
Sinne  sagen,  entspricht  sehr  wenig  den  Erwartungen,  die  der  Bio- 
graph hervorgerufen  hat.    Wer  nach  Vivianis  Erzählung  darin  vor 


^  Mazzones  Beweis,  der  in  Wahrheit  nichts  weniger  als  überzeugend 
ist,  läßt  Benedettis  Vorbild  unbenutzt;  dagegen  erinnert  er  stark  an  einen 
—  gleichfalls  unzureichenden  —  Begründungsversuch  in  Galileis  Handschrift 
de  motu. 

"  Ed.  Naz.  IV  p.  242. 


—     289     — 

allem  das  Verdienst  des  jungen  Forsehers  sieht,  daß  er  die  Unver- 
einbarkeit der  aristotelischen  Lehre  mit  leicht  zu  erprobenden  Wahr- 
nehmungen zum  Bewußtsein  bringt,  ihre  Naturwidrigkeit  an  schla- 
genden Beispielen  dartut,  wd  sich  schon  dadurch  enttäuscht  sehen, 
daß  gerade  bei  der  Lehre  von  der  Fallgeschwindigkeit  die  Pisaner 
Handschrift  einer  Überschätzung  der  Erfahrung  als  Mittel  zur  Er- 
gründung  der  Wahrheit  entgegentritt.  Zwar  beginnt  Galilei  mit  dem 
Hinweis  auf  Konsequenzen  der  aristotelischen  Lehre,  die  der  Augen- 
schein als  "widersinnig  erscheinen  läßt.  „Wenn  von  einem  hohen  Turm 
zwei  Steine  herabgeworfen  werden,  von  denen  der  eine  doppelt  so 
groß  ist  wie  der  andere,  wer  wird  wohl  glauben,  daß,  wenn  der  kleinere 
in  halber  Höhe  des  Turms  ist,  der  größere  schon  die  Erde  erreicht 
haben  wird?  Oder  wenn  aus  der  Tiefe  des  Meeres  ein  sehr  großer 
Balken  und  ein  kleines  Stück  aus  demselben  Holz  gleichzeitig  auf- 
zusteigen beginnen  —  wer  möchte  behaupten,  daß  der  Balken  hundert- 
mal schneller  die  Oberfläche  des  Wassers  erreichen  wd?"i  Das  aber 
ist  auch  alles,  was  er  von  Erfahrungen  sagt,  als  wichtiger  und  allein 
entscheidend  bezeichnet  er  die  theoretische  Untersuchung.  „Wir 
wollen",  sagter^,  „mehr  mit  Gründen  als  mit  Beispielen  operieren, 
denn  was  wir  suchen,  sind  die  Ursachen  der  Erscheinungen,  die  uns 
die  Erfahrung  nicht  gibt."  Demgemäß  wird  auch  in  der  darauf- 
folgenden Ableitung  der  eigenen  Lehre  ebensowenig  wie  bei  Benedetfci 
und  Mazzone  auf  Versuche  Bezug  genommen.  Nur  zur  Veranschau- 
lichung der  Tatsache  der  gleichen  Geschwindigkeiten  großer  und  kleiner 
Körper  gedenkt  Galilei  nochmals  der  schwimmenden  Hölzer;  daß 
aber,  was  diese  glaublich  erscheinen  lassen,  aus  Fallversuchen  sich 
unmittelbar  ergibt,  ist  weder  in  den  ausführlichen  Abhandlungen, 
noch  in  dem  zusammenfassenden  Dialog  irgendwo  ausgesprochen. 

Und  doch  werden  in  eben  diesen  Schriften  tatsächlich  ausgeführte 
Fallversuche  mehrfach  erwähnt;  auch  eines  hohen  Turms  wd  ge- 
dacht, von  dem  aus  sie  angestellt  sind;  man  kann  es  auffällig  finden, 
daß  Galilei  diesen  nicht  bestimmter  bezeichnet,  doch  liegt  darin  kein 
Grund,  zu  bezweifeln,  daß  der  Pisaner  Campanile  gemeint  ist;  im 
übrigen  aber  sind  die  Versuche  von  dem,  was  man  nach  Vivianis 
Bericht  „die  berühmten  Pisaner  Fallversuche"  nennt,  wesentlich  ver- 
schieden; sie  suchen  zum  Teil  die  Antwort  auf  Fragen,  die  für  die 


1  Ed.  Naz.  I  p.  263. 

Wohlwill,  Galilei.    II.  19 


._     290     — 

heutige  Wissenschaft  nicht  mehr  vorhanden  sind.  So  erörtert  Galilei, 
weslialb  von  zwei  fallenden  Körpern  der  leichtere  anfangs  schneller 
fällt;  er  widerspricht  der  Erklärung  des  Hieronynius  Borrius;  nach 
dieser  müßte  der  leichtere  Körper  nicht  nur  zu  Anfang,  sondern  immer 
schneller  fallen;  „die  Erfahrung  aber",  sagt  Galilei^,  „zeigt  das  Gegen- 
teil: es  ist  wahr,  daß  das  Holz  im  Anfang  seiner  Bewegung  sich  schneller 
bewegt  als  das  Blei;  aber  bald  darauf  wird  die  Bewegung  des  Bleis 
so  sehr  beschleunigt,  daß  es  das  Holz  hinter  sich  läßt  und  wenn  beide 
von  einem  hohen  Turm  herabfallen,  demselben  um  eine  große  Strecke 
vorauseilt,  und  dieses  habe  ich  oftmals  durch  den  Versuch  erprobt." 

Was  diese  Versuche  bestätigen,  ist  also  einerseits  die  iiTtümlich 
von  Galilei  wie  von  den  Anhängern  des  Aristoteles  angenommene 
größere  Anfangsgeschwindigkeit  des  fallenden  Holzes,  andrerseits  die 
auch  von  Aristoteles  behauptete  größere  Durchschnittsgeschwindig- 
keit des  fallenden  Bleis. 

So  ausdrücklich,  wie  in  diesem  Falle,  werden  in  keinem  andern 
die  Versuche  als  von  Galilei  selbst  ausgeführte  bezeichnet;  doch  hat 
man  offenbar  an  seine  eigenen  Wahrnehmungen  auch  dann  zu  denken, 
wenn  er  nur  in  allgemeinen  Ausdrücken  bemerkt,  daß  beim  Fallen 
der  Körper  von  einem  hohen  Turm  herab  bestimmte  Erscheinungen 
beobachtet  werden ;  es  geschieht  dies  zweimal  in  den  Abhandlungen 
und  einmal  in  dem  Dialog. 

Galilei  glaubt  bewiesen  zu  haben,  daß  die  Fallgesch'windigkeiten 
verschiedenartiger  Stoffe  sich  wie  die  Überschüsse  der  Getsdchte 
gleicher  Räume  über  diejenigen  gleichgroßer  Räume  des  Mediums 
verhalten.  „Aber  diese  Verhältnisse",  sagt  er,  „werden  von  dem- 
jenigen, der  den  Versuch  macht,  nicht  beobachtet;  denn  wenn  man 
zwei  Körper  solcher  Beschaffenheit,  daß  der  eine  doppelt  so  schnell 
als  der  andere  sich  bewegen  müßte,  von  einem  Turm  herabfallen 
läßt,  so  wird  der  schnellere  sicher  nicht  doppelt  so  schnell  die  Erde 
erreichen."^ 


1  Ed.  Naz.  I  p.  334. 

-  Ed.  naz.  I  p.  273.  Galilei  wird  durch  diesen  Widerspruch  der  Er- 
fahrung keineswegs  in  seiner  Ansicht  unsicher;  die  Abweichung  erscheint 
ihm  als  notwendig  zusammenhängend  mit  der  oben  erwähnten  vermeintlichen 
Wahrnehmung,  nach  der  im  Anfang  der  Bewegung  die  Geschwindigkeit  des 
leichteren  Körpers  die  größere  ist;  und  dafür  findet  er  eine  völlig  befriedigende 
Erklärung  in  seiner  Theorie  der  Fallbeschleunigung. 


—     291     — 

Hier  ist  es  also  die  eigene,  aus  archimedischer  Lehre  abgeleitete 
Theorie  Galileis,  der  sein  Versuch  widerspricht. 

An  einer  andern  Stelle  behauptet  er  gegen  Aristoteles,  daß, 
wenn  auch  die  natürliche  Bewegung  des  fallenden  Körpers  bis  ins 
Unendliche  fortdauern  könnte,  darum  doch  die  Geschwindigkeit 
nicht  unendlich  zunehmen  müsse,  vielmehr  werde  für  jeden  Körper 
nach  angemessener  Dauer  des  Falls  die  Bewegung  eine  gleichförmige 
werden ;  ließe  man  Körper  von  größerem  Gewicht  von  der  Höhe  eines 
Turms  herabfallen,  so  würde  allerdings  bis  zum  Erreichen  der  Erde 
Beschleunigung  wahrgenommen,  da  der  Weg  und  die  Zeit  zu  kurz 
sei,  um  die  dem  Körper  eingeprägte  Ki'aft  zu  verzehren. ^ 

Es  ist  durchaus  glaublich,  daß  dieser  Behauptung,  die  fast  mit 
denselben  Worten  im  Dialog  reproduziert  wird^,  wirkliche  Beobach- 
tungen zugrunde  liegen;  daß  dieselben  zur  Widerlegung  der  aristote- 
lischen Ansicht  keineswegs  brauchbar  gewesen  sind,  erhellt  ohne 
weiteres. 

Die  in  den  Pisaner  Schriften  erwähnten  Fallversuche  sind  dem- 
nach im  vollsten  Gegensatz  zu  denjenigen,  die  Viviani  beschreibt, 
Hilfsmittel  der  stiUen  unabgeschlossenen  Forschung,  zur  öffentlichen 
Demonstration  vor  Uneingeweihten  selbst  dann  nicht  geeignet,  wenn 
dabei  vom  Kampf  gegen  den  Aristoteles  ganz  abgesehen  wäre,  für 
diesen  aber  aus  dem  einfachen  Grunde  nicht  verwendbar,  weil  die 
Ergebnisse  mit  aristotelischen  Lehren  nicht  im  Widerspruche  stehen. 

Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  Galilei  neben  den  hier  erwähnten 
Versuchen  auch  solche  über  die  Fallgeschwindigkeiten  gleichartiger 
Körper  von  verschiedener  Größe  angestellt  hat;  daß  er  sie  nicht  an- 
führt und  dadurch  gerade  dem  Hauptpunkt  der  aristotelischen  Lehre 
gegenüber  den  Erfahrungsbeweis  schuldig  bleibt,  erklärt  sich  einfach, 
wenn  man  in  Betracht  zieht,  daß  Versuche  im  lufterfüllten  Raum 
auch  bei  sorgfältiger  Ausführung  Abweichungen  von  der  theoretischen 
Forderung  völliger  Gleichheit  der  Geschwindigkeiten  ergeben  mußten, 
für  die  Galilei  damals  keine  genügende  Erklärung  zu  Gebote  stand. 
Konnte  darin  für  ihn  eine  Veranlassung  liegen,  mit  dem  unbefriedigen- 
den Ergebnis  die  Versuche  selbst  in  seinen  Aufzeichnungen  unerwähnt 
zu  lassen  —  wieviel  mehr  mußte  die  Unzuverlässigkeit  des  Experi- 


1  Ed.  Naz.  I  p.  329. 

-  Ed.  Naz.  I  p.  406—407. 

19  = 


—     292     — 

nicnts  ihn  hindern,  sie  zum  Gegenstand  einer  öffentlichen  Demon- 
stration zu  machen! 

Es  ist  kaum  nötig,  hinzuzufügen,  daß  die  Versuche,  von  denen 
Viviani  berichtet,  ebensowenig  wie  in  der  ältesten  in  irgendeiner  der 
späteren  Schriften  Galileis  erwähnt  werden.  Auch  die  bestimmte 
Aufforderung,  die  in  den  angeführten  Worten  des  Giorgio  Coresio 
lag,  gab  Galilei  keine  Veranlassung  weder  zur  kritischen  Äußerung 
über  die  neuen  Experimente,  noch  zur  Erinnerung  an  die  eigenen 
mehr  als  zwanzig  Jahre  älteren.  Unter  Galileis  Zusätzen  zur  ungedruck- 
ten Gegenschrift  seines  Freundes  Castelli  nimmt  der  letztere  auf  Coresios 
gegen  Mazzone  gerichteten  Tadel  Bezug;  in  bestimmten  Ausdrücken 
gibt  er  dem  alten  Pisaner  Freunde  gegen  den  unwissenden  Kritiker 
recht,  aber  auch  bei  dieser  Gelegenheit  gedenkt  er  der  eigenen  Ver- 
suche nicht.  ^ 

Als  erwiesen  darf  daher  betrachtet  werden,  daß  der  Erzählung 
von  der  öffentlichen  Pisaner  Demonstration  zur  Widerlegung  der 
aristotelischen  Lehre  kein  geschiclitlicher  Vorgang  entsprochen  hat. 
Um  zu  erklären,  wie  sie  entstanden  ist,  hat  man  keine  andere  Wahl, 
als  anzunehmen,  daß  entweder  Viviani  einer  älteren,  heute  spurlos 
verlorenen  Überlieferung  folgt,  die  ihm  interessant  genug  erschien, 
um  üir  gegenüber  das  unzweideutige  Zeugnis  der  Pisaner  Abhand- 
lungen unberücksichtigt  zu  lassen,  oder  daß  er  in  freier  Kombination 
aus  dem  -sviderstrebenden  Material  derselben  Abhandlungen  in  der 
Demonstration  vor  den  versammelten  Studenten  und  Professoren 
ein  Seitenstück  zu  den  häuslichen  Experimenten  vom  Jahre  1583 
geschaffen  hat. 

i^un  hängen  aber  die  Fallversuche  in  Vivianis  Darstellung  aufs 
engste  zusammen  mit  der  Gesamtschilderung  der  kurzen  Periode 
der  Pisaner  Professur;  sie  erscheinen  nur  als  ein  Moment  in  dem  großen 
Unternehmen  Galileis,  durch  akademische  Vorträge  die  aristotelische 
Lehre  zu  bekämpfen;  diese  Vorträge  wiederum  werden  als  der  Höhe- 
punkt seiner  Pisaner  Tätigkeit  hingestellt;  sie  sind  es,  die  ihm  Ruhm 
und  Anerkennung  bei  den  Einsichtigen  erwerben,  die  zu  Eifersucht 
und  Übelwollen  gegen  ihn  die  Schulgelehrten  aufregen  und  seinem 
Wirken  in  Pisa  das  Ende  bereiten.  Von  diesem  allen  —  wewohl  es  noch 
heute  zum  Bilde  des  historischen  Galilei  zu  gehören  scheint  —  gilt, 


1  Vergl.  Ed.  Naz.  IV  p.  285. 


—     293     — 

was  von  den  öffentlichen  Versuchen  dargetan  ist:  es  ist  nicht  besser 
verbürgt  als  dies.^;  obgleich  es  sich  dabei  in  erster  Linie  um  Vorgänge 
handelt,  die  für  die  Universität  Pisa  und  einen  großen  Teil  ihier 
Angehörigen  von  eingreifender  Wichtigkeit  waren,  um  Angriffe  schwer- 
wiegender Art  gegen  die  einflußreichsten  Persönlichkeiten,  wie  gegen 
das  System  und  den  Geist  der  herrschenden  Wissenschaft,  so  hat 
doch  weder  Freund  noch  Feind  auch  nur  durch  eine  Andeutung  das 
Gedächtnis  dieser  Dinge  der  Nachwelt  aufbewahrt.  In  der  Literatur 
zur  Geschichte  der  Universität  Pisa  und  ihrer  Gelehrten  ist  das  Inter- 
mezzo voller  Kampf  und  Leidenschaft  nicht  vorhanden. 

Es  ist  daher  um  so  weniger  möglich,  in  der  Schilderung  Vivianis 
eine  wahrheitsgetreue  Darstellung  der  Pisaner  Periode  zu  sehen,  je 
mehr  dieselbe  auch  an  innerer  Wahrscheinlichkeit  zu  wünschen  übrig 
läßt.  Für  einen  Viviani  lag  allerdings  nichts  Erstaurdiches  darin, 
wenn  im  Angesicht  des  jungen  Löwen  den  Veteranen  der  Gelehr- 
samkeit das  Wort  des  Widerspruchs  auf  der  Lippe  verstummte,  wenn 
sie  in  schweigendem  Zorn  nach  jVIitteln  suchten,  ihn  unschädlich  zu 
machen,  und  da  der  gerade  Weg  ungangbar  schien,  zu  Intriguen  ihre 
Zuflucht  nahmen;  wer  die  Literatur  der  neueren  peripatetischen 
Schule  oder  auch  nur  die  gegen  Galilei  gerichteten  Schriften  der 
späteren  Zeit  durchblättert  hat,  weiß,  daß  eine  Wii'kung  öffentlicher 
antiaristotelischer  Vorträge,  wie  sie  nach  Viviani  stattgefunden  hätte, 
mit  dem  eigentlichen  Wesen  der  Schulgelehrsamkeit  jener  Tage,  das 
in  Wortweisheit  wurzelt,  nicht  vereinbar  ist.  Eine  Widerlegung,  die 
eine  Zurückweisung  auch  nur  erschwert  oder  gar  eine  unwiderstehliche 
Überlegenheit,  die  sich  die  Anerkennung  erzwingt  —  das  sind  Vor- 
stellungen, die  im  Gedankenkreis  der  Jünger  des  Aristoteles  keinen 
Raum  fanden;  schon  das  Nichtvorhandensein  irgendwelcher  dispu- 
tierenden Entgegnungen  könnte  daher  als  Wahrscheinlichkeitsbeweis 
dafür  gelten,  daß  ein  öffentlicher  Angriff  Galileis,  wie  ihn  Viviani 
schildert,  niemals  erfolgt  ist. 

Mit  diesem  Hauptgegenstand  der  Pisaner  Lehrtätigkeit,  im  Sinne 
einer  sagenhaften  Überlieferung,  würde  dann  freilich  auch  die  Glorie 
ve^sch^^^ndcn,  die  über  jenen  Tagen  zu  schweben  schien;  die  Anerken- 
nung der  wenigen  Kundigen  wird  dem  Wissen  und  dem  Gedanken- 
flug des  jungen  Mathematikers  sicherlich  nicht  gefehlt  haben,  die 
Dankbarkeit  einer  kleinen  Zahl  von  wißbegierigen  Schülern  mag  dem 
unvergleichlichen  Lehrer  zeitweilig:  den  Druck  einer  kaum  erträdichen 


—     294     — 

Lage  erleichtert  haben;  aber  Kuhm  und  Ehren,  die  zu  giftigem  Neid 
die  wohlbestallten  ,, Philosophaster"  erregten,  gehören  derselben  Phan- 
tasie an,  die  aus  dem  bescheidenen  Dozenten  der  Mathematik  den 
siegreichen  Bekämpfer  des  Aristoteles  gestaltet  hat. 

Der  Schilderung  Vivianis  gegenüber  treten  uns  aus  den  Bruch- 
stücken des  Briefwechsels  mit  dem  Marchese  dal  Monte  aus  den 
Jahren  1589—92  die  Züge  eines  Bildes  entgegen,  in  dem  für  Neid 
und  Eifersucht  der  Angriffspunkt  nicht  vorhanden  ist.  Der  Zustand, 
in  dem  dal  Monto  den  Freund  ,, nicht  sehen  kann",  ist  für  den  unbefaur 
genen  Leser  schlechthin  der  des  mißachteten  Genius,  des  zu  schlimm- 
ster Nahrungssorge  verurteilten  Forschers.  Dieser  Dämmcrungs- 
zustand,  in  dem  die  Leuchte  des  kommenden  Tages  kaum  von  den 
höchsten  Höhen  herab  sichtbar  wird,  ist  offenbar  für  Vivianis  begeister- 
ten Sinn  etwas  Unfaßbares;  er  begreift  eine  Zeit,  in  der  dem  wunder- 
baren Manne  gegenüber  die  Abneigung  der  Schlechten  und  Törichten 
die  Neigung  der  Guten  und  Klugen  überwiegt,  nicht  eine  Periode 
der  stillen  inneren  Vorbereitung,  an  der  die  Außenwelt  keinen  Teil 
hat  und  der  sie  deshalb  ohne  Haß  und  Liebe  gegenübersteht.  Einfach 
erldärt  sich  nach  dal  Montes  Briefen,  daß  Galilei  mit  dem  Abschied 
von  Pisa  eine  unhaltbare  und  aussichtslose  Lage  aufgibt;  statt  dieser 
natürlichen  Lösung  bedarf  Viviani  eines  komplizierten  Apparats,  denn 
bei  ihm  gilt  es  nicht,  den  kaum  beachteten  jungen  Mathematiker, 
sondern  den  ruhmreichen  Gegner  des  Aristoteles  zu  entfernen;  nicht 
genug,  daß  ihm  Feinde  und  Neider  erstehen,  die  darauf  bedacht 
sind,  sich  seiner  zu  entledigen  —  eine  neue  rühmliche  Tat  des 
Helden  muß  ihnen  das  Mittel  geben,  ihren  Plan  zur  Ausführung  zu 
bringen. 

Für  die  Erzählung  dieses  im  Text  erwähnten  Vorgangs  hat  man 
eine  geschichtliche  Grundlage  bisher  vergebens  in  den  Florentiner 
Archiven  gesucht;  nur  eine  scheinbare  Bestätigung  bietet  die  an- 
nähernd übereinstimmende  Ausführung  des  Kanonicus  Gherardini. 
Niccolö  Gherardini  hatte  als  Prior  der  Parochie  von  S.  Margherita 
a  Montici,  zu  der  Galileis  Villa  gehörte,  während  der  sieben  letzten 
Lebensjahre  des  Gefangenen  von  Arcetri  mit  diesem  in  freundschaft- 
lich nachbarlichem  Verkehr  gestanden.  Erinnerungen  an  diese  Zeit 
hat  er  seiner  eigenen  Aussage  gemäß  dreizehn  Jahre  nach  Galileis 
Tode,  das  heißt  1655  aufzuzeichnen  begonnen,  als  er  erfuhr,  daß 
man  damit  umgehe,  das  Leben  und  die  Taten  des  großen  Mannes  zu 


—     295     — 

schreiben.^  Durch  diese  ZoitbcstimimiiiEf  scheint  allerdinojs  aus- 
^eschlusseii,  daß  Viviani  seine  Aufzeichnungen  hätte  benutzen  können; 
um  so  wuhrscheinlidier  ist,  daß  Gherardini  zu  denen  f^ehürt  hat,  die 
er  befragte,  als  es  ihm  darauf  ankam,  von  allen,  die  Galilei  nahe- 
gestanden, authentische  Mitteilungen  über  sein  Leben  zu  erlialten,  und 
daß  er  von  seinen  Erzählungen  benutzt  hat,  was  ihm  glaublich  erschien. 

Mit  der  Annahme,  daß  auch  für  die  Differenz  mit  dem  Prinzen 
Giovanni  Gherardinis  Erinnerungen  Vivianis  Quelle  gewesen  wären, 
sind  die  Abweichungen  beider  Erzählungen  wohl  vereinbar.  Gherar- 
dini nennt  den  Namen  des  Prinzen,  Viviani  redet  nur  von  einer  „hohen 
Persönlichkeit'';  es  ist  begreiflich,  daß  er  sich  hier  in  dem  Brief  an 
einen  Fürsten  aus  dem  Mediceischen  Hause  auf  eine  Andeutung 
beschränkt.  Viviani  eigentümlich  ist  die  nähere  Bezeichnung  der 
]\Iaschine,  die  der  hohe  Herr  in  Vorschlag  gebracht;  Gherardini  sagt 
ausdrücklich:  er  wisse  nicht,  welcher  Art  sie  war;  Viviani  weiß,  daß 
es  eine  Maschine  zur  Ausbaggerung  des  Hafens  von  Livorno  war; 
darin  ließe  sich  ein  Beweis  für  ein  Wissen  aus  moderner  Quelle  finden, 
wenn  nur  nicht  der  Fälle  so  viele  wären,  in  denen  der  „letzte  Schüler" 
zeigt,  daß  es  für  ihn  keine  unbestimmten  tatsächlichen  Angaben 
gibt,  weil  er  keine  Schwierigkeit  kennt,  der  unbestimmten  Überlieferung 
bestimmte  Form  zu  geben. 

Auch  von  anderweitigen  Gegnern  in  Pisa  ist  Gherardini  nichts 
bekannt,  er  weiß  daher  nichts  davon,  daß  durch  diese  Prinz  Giovanni 
Galilei  feindlich  gestimmt  wurde.  „Was  weiter  nach  Galileis  ungün- 
stigem Urteil  folgte"  —  schließt  er^  — ,  ,,weiß  ich  nicht,  doch  weiß 
ich,  daß  der  Widerspruch  dem  Herrn  Don  Giovanni  nicht  angenehm 
war;  in  Ausdrücken  lebhaften  Unwillens  zeigte  er,  wie  sehr  das  Urteil 
ihn  verdroß.  Galilei  fürchtete  weiteres  und  nahm  seinen  Abschied." 
Viviani  eigentümlich  ist  demnach  auch  die  Verwertung  des  Vorgangs 
als  Mittel  für  die  Zwecke  der  eifersüchtigen  Peripatetiker  und  die 
auf  diese  Weise  gewonnene  Verbindung  zwischen  dem  Auftreten 
gegen  Aristoteles  und  der  Entlassung  aus  Pisa.  Wie  jene  Kämpfe 
und  Verfolgungen,  muß  auch  die  Verbindung  zwischen  den  vermeint- 
lichen Feinden  und  dem  Prinzen  Giovanni  als  Kombination  des 
Biographen  angesehen  werden. 


1  Ed.  Naz.  XIX  p.  633—646. 
-  Ed.  Naz.  XIX  p.  638. 


—     296     — 

Gherardinis  Erzählung  enthält  an  sich  nichts  Unwahrscheinliches, 
in  seinen  biographischen  Aufzeichnungen  ist  jedoch  nachweislich  so 
^'ielfach  Wahres  mit  Falschem  vermischt,  Früheres  mit  Späterem 
verwechselt  und  auch  in  einfachen  Dingen  so  mancherlei  unzweifel- 
haft IVIiß verstandenes  mitgeteilt,  daß  man  nicht  leicht  als  wohlver- 
bürgt betrachten  kann,  was  auf  seine  Erinnerungen  als  erste  Quelle 
zurückzuführen  ist.  Wer  Galilei  den  neuen  Stern  vom  Jahre  1604 
durch  das  Fernrohr  beobachten  läßt,  der  kann  auch  in  bezug  auf  den 
Zeitpunkt,  dem  ein  Gutachten  angehört,  das  eine  Jahrzehnt  mit 
dem  andern  vertauschen. 

Daß  mit  der  Erzürnung  des  Prinzen  Giovanni  zu  den  an  sich 
ausreichenden  wohlbekannten  Umständen  eine  zweite  (bei  Viviani 
eine  dritte)  Ursache  der  Veranlassung  zum  Verzicht  auf  die  Pisaner 
Professur  hinzukommt,  erhöht  nicht  die  Wahrscheinlichkeit  des  Be- 
richts; der  stärkere  dramatische  Effekt,  mit  dem  Gherardinis  und 
in  erhöhtem  Maße  Vivianis  Erzählung  den  Abschluß  der  Pisaner 
Periode  zur  Darstellung  bringt,  läßt  sie  der  Einbildungskraft  befrie- 
digender, aber  in  gleichem  Maße  mehr  den  sagenhaften  Bestandteilen 
der  Jugendgeschichte  zugehörig  erscheinen. 

Als  eine  mögliche  Veranlassung  für  die  Entstehung  der  Episode 
vom  Prinzen  Giovanni  mag  hier  Erwähnung  finden,  daß  Differenzen 
zwischen  dem  Prinzen  und  Galilei  zwei  Jahrzehnte  nach  Galileis 
Abschied  von  Pisa  unzweifelhaft  bestanden  haben.  Das  geht  schon 
daraus  hervor,  daß  von  den  damals  veröffentlichten  Galilei. feind- 
lichen Schriften  zwei  der  bösartigsten,  die  Dianoia  des  Francesco 
Sizzi  und  der  Discorso  apologetico  des  Lodovico  delle  Colombe  dem 
Prinzen  Giovanni  gewidmet  sind.  Beide  Verfasser  rühmen  sich  in 
den  Zueignungen  des  besondern  Wohlwollens  des  Prinzen.  Aber  der 
Schrift  delle  Colombes  ist  überdies  zu  entnehmen,  daß  in  dem  Streit 
um  die  schwimmenden  Körper  im  Jahre  1611  Prinz  Giovanni  zu 
Galileis  erklärten  Gegnern  gehört,  also  auf  der  Seite  der  Ignoranten 
gestanden  hat.  Wer  in  der  Episode  der  Jugendgeschichte  historische 
Wahrheit  liest,  kann  —  wie  es  geschehen  ist  —  in  diesem  späteren 
Verhalten  des  Prinzen  Giovanni  die  Frucht  eines  in  zwei  Jahrzehnten 
nicht  abgeschwächten  Grolls  erkennen.  Hält  man  sich  jedoch  an 
die  soeben  erwähnten  Tatsachen  als  die  einzigen  wohlverbürgten 
Daten  über  Beziehungen  zwischen  Galilei  und  dem  Prinzen  Giovanni, 
so  wird  man  sie  genügend  finden,  um  die  geringe  Urteilsfähigkeit 


—     297     — 

des  Prinzen  in  wissenschaftlichen  und  technischen  Fragen  zu  erweisen 
und  dadurch  zugleich  begreiflich  zu  machen,  daß  mit  Notwendigkeit 
das  Zusammentreffen  beider  Männer  am  Florentiner  Hofe  nach  Galileis 
Heimkehr  zur  Entstehung  eines  Mißverhältnisses  führen  mußte,  auch 
wenn  zur  Zeit  der  Pisaner  Professur  keiner  der  beiden  vom  andern 
gewußt  haben  sollte. 

Bemerkenswert  ist,  daß  die  in  Sizzis  und  dclle  Colombes  Schriften 
enthaltenen  gesicherten  Zeugnisse  für  die  unfreundlichen  Beziehungen 
der  späteren  Periode  weder  von  Viviani  noch  von  irgendeinem  andern 
Biographen  erwähnt  werden;  es  steht  also  bei  ihnen  gewissermaßen 
die  problematische  Differenz  aus  dem  Jahre  1592  an  der  Stelle  der 
historischen  aus  den  Jahren  1610/11.  Daß  auf  dem  Wege  der  Tradition 
aus  dieser  jene  sich  gestaltet  haben  könne,  wird  sich  nicht  bestreiten 
lassen,  wenn  man  sieht,  in  wie  einfacher  Weise  in  Vivianis  Biographie 
die  viel  bedeutsamere  Übertragung  des  großen  Kampfs  gegen  die 
Peripatetiker  in  die  Jugendzeit  vollzogen  ist. 

Die  ]\Iitwirkung  der  Phantasie  des  Berichterstatters  bei  derartigen 
Umgestaltungen  geschichtlicher  Vorgänge  illustrieren  in  eigentüm- 
licher Weise  die  Zutaten  und  Abänderungen,  mit  denen  Vivianis 
Nachfolger  bis  in  die  jüngste  Zeit  seine  Erzählung  und  in  ihr  zumeist 
die  sagenhaften  Bestandteile  ausgestattet  haben. 


Anliaus:  II 


ö 


Untersiicliimgeii  über  das  Yatikanmaiiuskript  der 
beiden  Iiiqiiisitiousprozesse  Galileis. 


A.  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  über  das  Protokoll  vom 
26.  Februar  1616. 

Bis  zum  Bekanntwerden  der  Akten  des  gegen  Galilei  geführten 
Inquisitionsprozesses  im  Jahre  1867  hat  man  ganz  allgemein  bei 
aller  Sympathie  für  den  Verteidiger  der  Wissenschaft  sich  das  Urteil 
seiner  Eichter  angeeignet,  daß  die  über  ihn  verhängte  Strafe  formell 
durch  ein  Vergehen  seinerseits  gerechtfertigt  gewesen  sei.^  Das  Werk 
über  die  Bewegung  der  Erde,  das  er  im  Jahre  1632  veröffentlichte, 
war  allerdings  von  der  Zensur  nach  langen  Verhandlungen  gebüligt, 
aber  —  so  argumentiert  die  seit  mehr  als  zweihundert  Jahren  all- 
gemein bekannte  und  oftmals  abgedruckte  Sentenz  —  die  Erfaubnis 
war  erschhchen  und  deshalb  ungültig:  Galilei  hatte  für  die  Form, 
in  der  er  Zeugnisse  für  die  Wahrheit  der  copernicanischen  Lehre  trotz 
des  kircliMchen  Verbotes  zusammenstellte,  die  Zustimmung  der  römi- 
schen Zensur  erbeten  und  erlangt,  aber  er  hatte  bei  dieser  Gelegenheit 
verschwiegen,  daß  im  Jahre  1616,  als  die  Schriftwidrigkeit  der  coper- 
nicanischen Lehre  ausgesprochen  wurde,  ihm  persönlich  unter  An- 
drohung des  Inquisitionsprozesses  auferlegt  worden  war,  fortan  diese 
Lehre  nicht  aUein  nicht  für  wahr  zu  halten  und  zu  verteidigen,  sondern 
dieselbe  auch  in  keiner  Weise  in  Wort  oder  Schrift  lehrend  vorzutragen. 

Als  ich  im  Jahre  1869  die  Akten  in  der  unvollständigen,  von 
Henri  de  L'Epinois  veröffenthchten  Ausgabe  kennen  lernte,  fand  ich, 
daß  dieselben  allerdings  in  dem  auf  die  Verhandlungen  von  1615/16 

1  Vergl.  Kap.  VII. 


-      299     — 

bezüglichen  Teile  das  vielbesprochene  Verbot  enthalten;  bei  näherer 
Prüfung  wurde  ich  jedoch  auf  den  eigentümlichen  Umstand  auf- 
merksam, daß  eine  päpstliche  Verordnung  vom  25.  Februar  1616  ein 
formelles  Verbot  des  angedeuteten  Inhalts  nur  für  den  Fall  vorschrieb, 
daß  Galilei  der  Aufforderung,  seine  Ansicht  aufzugeben,  den  Gehor- 
sam verweigerte,  während  am  26.  Februar  der  Aufforderung  des  Kar- 
dinals unmittelbar  und,  ohne  daß  ein  Widerspruch  Galileis  dazu 
die  Veranlassung  gäbe,  die  Mitteilung  des  strengeren  Verbots  durch 
den  Inquisitionskommissar  sich  anschließt,  daß  also  in  der  Verhängung 
dieses  später  als  entscheidend  betrachteten  Verbots  etwas  aus- 
geführt \Wrd,  was  der  Anordnung  des  Papstes  nicht  entspricht. 

Die  tiefgreifende  Abweichung  in  dem  Inhalt  der  Verordnung 
vom  25.  Februar  und  dem  des  Protokolls  vom  26.  über  die  Ausführung 
habe  ich  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  geschichtlichen  Bedin- 
gungen, unter  denen  die  betreffenden  Vorgänge  stattfanden,  ein- 
gehend charakterisiert.^ 

Die  hier  als  Tatsache  hingestellte  Behauptung,  daß  an  einen 
Widerspruch  Galileis  der  Mahnung  des  Kardinals  Bellarmin  gegen- 
über nicht  zu  denken  sei,  habe  ich  später  in  der  ersten  Abhandlung 
gegen  Friedlein  eingehend  begründet.^ 

Die  Bedenken  gegen  das  Protokoll  vom  26.  Februar,  nach  dem 
geschehen  sein  soll,  was  der  Papst  nicht  gewollt  hat,  was  auch  sonst 
durch  die  Verhältnisse  in  keiner  Weise  gerechtfertigt  erscheint,  werden 
verstärkt  durch  das  Zeugnis  der  Beteiligten. 

1.  Des  Kardinals  Bellarmin,  der  aussagt,  daß  Galilei  nur  das 
Delo-et  der  Indexkongregation  und  was  sich  daraus  ergibt,  mit- 
geteilt sei.^ 

2.  Galileis  selbst. 
Ich  bespreche 

a)  seine  Berichte  vom  März  1616^, 

b)  sein  Verhalten  nach  1616^, 

c)  seine  Aussagen  in  den  Verhören  und  seine  Verteidigung  1633^ 


^  E.  Wohlwill,  Der  Inquisitionsprozeß  des  Galilei.  Berlin  1870,  p.  5 — 15. 
2  Zeitschrift  für  Math.  u.  Physik,  Literaturztg.  17.  Jg.  (1872),  p.  12f. 
^  Wohlwill,  Der  Inquisitionsprozeß  des  Galilei,  Berlin  1870,  p.  16 — 22. 
*  a.  a.  O.  p.  23—26. 

5  a.  a.  O.  p.  26—30,  77. 

6  a.  a.  O.  p.  31—50. 


—     300     — 

(Galilei  selbst  stellt,  ohne  es  klar  zu  wissen,  das  Zeugnis  des  Kar- 
dinals Bellarmin  dem  Protokoll  vom  26. 2.  gegenüber).  Er  redet, 
wie  1616,  so  1633,  als  habe  er  anderes  als  die  Ermahnung  des  Kar- 
dinals Bellarmin  nie  gehört.  Nichts  deutet  an,  daß  er  von  einem 
speziellen  Verbot  des  Inquisitionskommissars  weiß.  Seine  Erklämngen 
enthalten  implicite  (nur  implicite,  weil  ihm  der  "Wortlaut  desselben 
nicht  mitgeteilt  wird)  einen  Widerspruch  gegen  die  Authentität  des 
Protokolls  vom  26.  Februar,  oder  vielmehr  den  zweiten  Teil  desselben. 

Es  entsteht  der  Verdacht,  daß  dieser  zweite  Teil  unecht,  das 
Verbot,  das  ausschließlich  durch  den  Wortlaut  eben  dieses  zweiten 
Teils  uns  zur  Kenntnis  gebracht  wird,  niemals  ergangen  ist. 

Eine  Untersuchung  über  die  Form  des  Protokolls^,  das  den  Befehl 
verzeichnet,  ergibt,  daß  dieselbe  in  keiner  Weise  geeignet  ist,  den 
Inhalt  gegen  den  erhobenen  Verdacht  zu  schützen. 

Aber  in  eben  diesem  uns  vorliegendem  Dokument  haben  allem 
Anscheine  nach  auch  Galileis  Richter  das  entscheidende  Zeugnis  für 
die  Tatsache  des  Verbots  von  1616  gefunden^,  und  eben  dieses  Ver- 
bot ist  es  in  der  Tat,  wie  man  seit  langer  Zeit  weiß,  das  ihnen  die  juri- 
stische Handhabe  zu  Galileis  Verurteilung  geboten  hat.  Sie  haben 
es  in  diesem  Sinne  verwertet,  obwohl  ihnen  der  Widerspruch  gegen 
den  Inhalt  des  Protokolls,  wie  er  aus  seinem  eigenen  Wortlaut,  aus 
den  Erklärungen  Galileis  und  dem  Zeugnis  Bellarmins  sich  ergibt, 
schwerlich  entgehen  konnte;  sie  haben  ihn  unberücksichtigt  gelassen, 
sie  beseitigen  insbesondere  die  Berufung  Galileis  auf  das  Zeugnis 
BeUarmins  durch  eine  durchaus  sophistische  Wendung.^  Sie  haben 
also  Galilei  auf  Grund  eines  juristisch  wertlosen,  seinem  Inhalt 
nach  verdächtigen,  von  ihnen,  soviel  die  Akten  ergeben,  niemals 
näherer  Prüfung  unterworfenen  Aktenstücks  verurteilt. 

Dies  der  wesentliche  Inhalt  meiner  Aufstellungen  vom  Jahre 
1870.  Ich  habe  damals  geglaubt,  sehr  bald  eine  Geschichte  des  Pro- 
zesses veröffentlichen  zu  können,  und  bin  dämm  nicht  auf  die  nahe- 
liegende Frage  eingegangen:  wie  soll  man  sich  denken,  daß  die  all- 
mächtige Inquisition  der  Fälschung  bedurft  hat,  um  zu  verurteilen 
und  zu  strafen,  was  unter  allen  Umständen  ein  Vergehen  gegen  Dekrete 


1  a.  a.  0.  p.  69—75. 

2  a.  a.  0.  p.  54—57. 

3  a.  a.  O.  p.  57—63. 


—     301     — 

der  höchsten  kh-chlichen  Behörden  war,  und  deshalb  den  Verdacht 
ketzerischer  Denkweise  rechtfertigte?  Eine  Antwort  auf  diese  Frage 
gehört  allerdings  in  den  Zusammenhang  einer  Erörterung,  die  Galileis 
Prozeß  als  auf  Fälschung  beruhend  darstellen  will.  Ich  hebe  hier 
nur  das  Wichtigste  hervor,  Galilei  hat  anfangs  eine  Abänderung 
oder  Aufhebung  des  Dekrets  von  1616  bei  Papst  Urban  VIII.  betrieben. 
Als  diese  sich  nicht  erreichen  ließ,  hat  er  einen  Modus  gesucht,  alles, 
was  er  über  die  Bewegung  der  Erde  gedacht,  zu  veröffentlichen, 
ohne  in  der  Form  gegen  das  Dekret  zu  verstoßen.  Über  diesen  Modus 
hat  er  und  der  Zensor  seines  Buchs  oder  einer  von  ihnen  mit  dem 
Papste  verhandelt,  und  der  Papst  hat  ihn  genehmigt.  Die  Zusätze, 
die  er  um  dieses  Zweckes  willen  zu  seinem  Buche  gemacht,  die  Vor- 
rede und  der  Schluß,  waren  verabredet.  Sie  waren  die  Bedingungen, 
unter  denen  das  Imprimatur  gewährt  wurde.  Alles  dieses,  speziell 
der  Anteil,  den  der  Papst  an  den  Vorverhandlungen  über  den  Druck 
nahm,  wird  durch  Schriftstücke,  die  in  den  Akten  bewahrt  ^verden, 
außer  Frage  ges  teilt.  ^ 

Als  dann  das  Buch  erschien,  war  es  Galileis  Gegnern  nicht  schwer, 
zu  zeigen,  daß  Vorrede,  Zusätze  und  Schlußwort  völlig  durchsichtige 
Verhüllungen  der  rein  copernicanischen  Absicht  waren.  Es  kam 
dazu  die  Verdächtigung,  daß  Galilei  durch  die  Überweisung  des 
päpstlichen  Arguments  an  den  „im  ganzen  Buch  wenig  geachteten" 
Simplicio  den  Papst  selbst  geringschätzig  behandelt  habe. 

Die  Aufgabe  der  Richter  war,  die  Täuschung  und  das  Vergehen 
gegen  den  Papst,  resp.  die  Verletzung  des  Dekrets  von  1616  zu  strafen, 
ohne  Rücksicht  auf  die  Mitschuld  des  Zensors  und  des  Papstes  zu 
nehmen,  und  dabei  doch  Formen  eines  ordentlichen  Prozesses  in 
gewissem  Maße  zu  wahren.  Dazu  hat  das  Verbot  von  1616  geholfen, 
das  alle  Vorverhandlungen  über  den  Druck  der  Dialoge  als  unerlaubt 
und  deshalb  für  Galileis  Rechtfertigung  wertlos  erscheinen  ließ. 

Die  formelle  Motivierung  einer  Verurteilung,  durch  die  dem 
Widerspruch:  „Ihr  verurteilt  und  straft,  was  Ihr  selbst  ausdrücklich 
gestattet  habt?"  im  voraus  begegnet  wurde,  war  unerläßlich,  wo  das 
Urteil  sofort  der  Öffentlichkeit  übergeben  wurde  und  überdies  die 


^  Der  Anteil,  den  der  Papst  an  den  Vorverhandlungen  genommen, 
wird  am  stärksten  durch  die  zuerst  von  Pieralisi  (Urbano  VIII  e  Gaüleo 
Gaülei,  Roma  1875,  p,  82 ff.)  abgedruckten  Worte  fol  393  Nel  fine  ausge- 
sprochen, in  denen  Aufnahme  des  päpstUchen  Arguments  befohlen  wird. 


—     302     — 

spezielle  Kücksicht  auf  den  gefügigen  Florentiner  Hof  einen  formell 
nicht  angreifbaren  Prozeß,  durch  die  Sentenz  verbürgt,  erforderlich 
machte.  Wenn  man  sagt:  sie  hätten's  auch  anders  machen  können, 
so  habe  ich  nichts  dagegen.  Ich  behaupte  nur,  so  haben  sie  es  gemacht. 
Dies  war  der  Weg,  den  sie  tatsächlich  eingeschlagen  haben,  um  eine 
Verurteilung  in  scheinbar  rechthcher  Form  zustande  zu  bringen.  Und 
dieser  Schein  des  Eechts  hat  alle  Welt  getäuscht,  bis  die  Veröffent- 
lichung der  Akten  eine  Prüfung  des  entscheidenden  Dokuments 
ermöglichte. 

Meine  Ansicht  über  den  Wert  dieses  Dokuments  fand  unmittel- 
bar nach  dem  Erscheinen  meines  Buchs  eine  überraschende  Bestäti- 
gung durch  die  Veröffentlichung  Gherardis^,  der  im  Jahre  1848  im 
Palast  der  Inquisition  die  Protokolle  der  Generalkongregation  des 
heiligen  Offiziums  mit  Rücksicht  auf  Galileis  Prozeß  geprüft  hatte. 
Unter  diesen  war  der  Bericht  des  Kardinals  Bellarmin  über  den  Vor- 
gang vom  26.  Februar  1616,  der  durchaus  mit  meinen  Schlüssen 
übereinstimmte.  Der  Kardinal  berichtet,  daß  er  Galilei  ermahnt, 
seine  Meinung  aufzugeben,  und  daß  Galilei  sich  dabei  beruhigt  habe. 
Das  ist  der  Vorgang,  wie  er  sich  erwarten  ließ  und  wie  er  in  Überein- 
stimmung mit  der  Anordnung  des  Papstes  vom  25.  Februar  statt- 
gefunden haben  muß,  wenn  nicht  —  was  niemand  behauptet  — ,  und 
Bellarmin  verneint,  Galüei  der  Mahnung  gegenüber  auf  seiner  Ansicht 
bestanden  hat. 

Gherardi  hat  aus  diesem  Aktenstück,  das  er  gleichfalls  dem 
„Protokoll"  vom  26.  Februar  gegenüberstellte,  unter  Berücksichti- 
gung des  von  Galilei  produzierten  Zeugnisses  des  Kardinals  Bellarmin 
und  der  Verhöre  von  1633  den  bestimmten  Schluß  gezogen,  daß 
das  Protokoll  vom  26.  Februar  als  Fälschung  zu  betrachten  sei. 
p.  42 :  io  m'ardisco  prof erire :  d'avere  gia  accumulati  argomenti  da 
vendere  per  provare,  aUa  gente  di  buona  fede:  „che  la  relazione  tratta 
dal  processo  deve  tenersi  per  alterata,  contrafatta,  falsata,  fino  dal 
tempo,  principalmente,  del  pleno  e  vero  processo  di  Galileo, 
cioe  nel  1632—33. 


1  Darüber  speziell  M.  Cantor,  Zeitschrift  für  Math.  u.  Physik  1871, 
Literaturzeitung  S.  1 — 9,  vergl.  meine  Ausführungen  in  der  ersten  Abhand- 
lung gegen  Friedlein,  Zeitschrift  für  Math.  u.  Physik  1872,  Literaturzeitung 
S.  12  f.,  wo  ich  die  Authentizität  der  Gh.s  Dekrete  prüfe. 


—     303     — 

Gherardi  hatte  nichts  von  mir,  ich  nichts  von  ihm  gewußt.  Meine 
Schrift  erschien  im  Juni  1870^,  die  seine  im  Juni  und  Juli  desselben 
Jahres.  Beide  hatten  wir  im  Laufe  des  vorhergehenden  Jahres  — 
Gherardi  am  20.  Mai  in  Bologna,  ich  in  Hamburg  —  über  die  Resul- 
tate unserer  Untersuchungen  kleineren  Kreisen  Bericht  erstattet.  Für 
mich  ist  nach  der  Bestätigung  durch  das  Gherardische  Dekret  Kr.  6 
ein  Zweifel  an  der  Wahrheit  meiner  Annahme,  daß  das  Protokoll 
vom  26.  Februar  gefälscht  sei,  nicht  mehr  möglich  gewesen. 

Ich  übergehe  die  Diskussionen  der  folgenden  Jahre,  an  denen 
ich  nur  durch  die  beiden  Erwiderungen  auf  Friedleins  Kiitik  teil- 
genommen habe.^ 

1876  erschreckte  mich  das  Erscheinen  des  Geblerschen  Buchs", 
das  mir  in  allem  zustimmte,  mich  dabei  bis  auf  den  letzten  Bluts- 
tropfen ausschrieb,  und  mir  in  der  Schilderung  des  Prozesses  auf 
Grund  meiner  Annahme  zuvorkam,  während  ich  doch  in  seiner  Dar- 
stellung wichtiger  Teile  meiner  Auffassungsw^ise  durchaus  Wider- 
sprechendes finden  mußte.  Durch  die  völlige  Nichtberücksichtigung 
von  Galileis  Werken,  speziell  Unkenntnis  der  Dialoge,  Beschrän- 
kung auf  die  Daten  des  Briefwechsels,  der  seinen  eigentlichen  Wert 
nur  als  Ergänzung  der  Werke  gewinnen  kann,  erscheint  Geblers 
schön  lesbares  Buch  in  vielen  Beziehungen  als  Geschichtsdarstellung 
unhaltbar.  Seine  Ansicht  in  der  Torturfrage  wurde  leider  für  mich 
die  Veranlassung,  längere  Zeit  an  die  Bearbeitung  dieses  abscheu- 
lichsten aller  Zeitdiebe  zu  wenden. 

Unmittelbar  vor  der  Veröffentlichung  meines  Buchs  über  die 
unglückliche  Torturfrage  erschien  der  Bericht  Geblers  über  seine 
Vergleichung  des  Vatikanmanuskripts  mit  dem  wichtigen  Ergebnis, 
„daß  sich  der  Verdacht  einer  nachträglichen  Entstehung  der  ,, Auf- 
zeichnung" vom  26.  Februar  gegenüber  der  äußeren  Beschaffenheit 
dieser  Annotation  als  nicht  stichhaltig  erwiesen  habe".* 

Gebier  hatte  bei  dem  vollständigen  Abdruck  der  Akten,  die  er 


^  Das  Vorwort  des  ,,Inq.-prozesses"  ist  vom  Febr.  1870  datiert. 

2  Zeitschrift  für  Math.  u.  Physik  1872,  17.  Jhg.,  Literaturzeitung  p.  9ff., 
p.  81  ff. 

2  K.  von  Gebier,  GaUleo  Galilei  und  die  römische  Curie.    Stuttgart  1876. 

*  Gebier  schreibt  15.  XI.  1877:  „eine  Fälschung  ist  materiell  un- 
möglich" (sie). 


—     304     — 

veröffentlichte,  die  unmittelbar  vorher  erschienene  neue  Ausgabe  des 
selben  Aktenhefts  von  Henri  de  L'Epinois^  benutzen  können.  Diese, 
die  im  übrigen  der  Geblerschen  erheblich  nachsteht,  bot  eine  sehr 
wertvolle  Ergänzung  derselben  in  einer  Reihe  von  Faksimiles,  unter 
denen  dasjenige  der  Aufzeichnungen  vom  25.  und  26.  Februar  1616 
von  höchstem  Interesse  war. 

Ich  habe  tatsächlich  in  diesem  Faksimile,  das  mir  in  photo- 
lithographischem  Abdi'uck  vorlag,  längere  Zeit  von  dem  Gesuchten 
nichts  erkennen  können.  Als  ich  aber  anfing,  meine  Aufmerksamkeit 
speziell  auf  die  Stelle  zu  richten,  wo  der  Wortlaut  der  Aufzeichnung 
vom  26.  Februar  mit  der  Wendung:  ,,et  successive  ac  incontinenti" 
den  vöUig  unerwarteten  Inhalt  einleitet,  wurde  ich  mehr  und  mehr 
gewahr,  daß  die  eben  hier  beginnenden  drei  letzten  Zeilen  des  Blattes 
höchst  eigentümlich  abweichende  Formen  der  Buchstaben  in  größerer 
Zahl,  daneben  mancherlei  unverständliche  Unreinheit  an  verschie- 
denen Stellen  enthalten.  So  entstand  die  Vorstellung:  diese  drei 
letzten  Zeilen  stehen  über  und  in  den  Trümmern  einer  älteren  Schiif t ; 
der  folgende  größere  Teil  der  Aufzeichnung  auf  dem  darauffolgenden 
Blatte  ist  auf  1616  weiß  gelassenem  Papier  nachträghch  hinzu- 
gefügt. 

Eine  umständliche  Ausführung  dieser  Ansicht  habe  ich  in  auto- 
graphierter  Mitteilung  Freunden  und  Gegnern  zugesandt.  Wenn  es 
bedenklich  schien,  solche  Erörterungen  auf  die  Photolithographie 
eines  in  unbekannter  Weise  gewonnenen  Faksimile  zu  begründen, 
so  rechtfertigte  doch  der  Umstand,  daß  Abweichungen,  Verkrüppe- 
lungen und  unmotivierte  Unreinheiten  der  Schrift,  wie  sie  in  den 
drei  Zeilen  des  Faksimiles  sich  häuften,  in  andern  Teilen  desselben 
gar  nicht  oder  durchaus  vereinzelt  gefunden  wurden,  die  Annahme, 
daß  dieser  Sonderstellung  der  drei  Zeilen  des  Faksimile  eine  ähn- 
liche Sonderstellung  des  gleichen  Textes  im  Originahnanuskript 
entsprechen  würde,  daß  insbesondere  die  wesentlichen  Differenzen 
in  den  Buchstaben,  die  mir  das  Faksimile  zeigte,  von  irgend  etwas 
herrühren  müssen,  was  auch  im  Original  sich  findet. 

Meine  Ausführungen  in  Verbindung  mit  Äußerungen  meiner  Privat- 
briefe wurden  von  v.  Gebier  in  der  Augsburger  Allgemeinen  Zeitung 


^  Henri  de  l'Epinois,  Les  pieces  du  proces  de  Galilee  (Roms  et  Paris, 
Palme)  1877. 


—     305     — 

ungenau  A^iedei^egeben  und  gröblich  verhöhnt.'  Eine  rein  sachlich 
gehaltene  Entgegnung  schickte  mir  die  Redaktion  der  Augsburger 
Zeitung  als  zur  Aufnahme  ungeeignet  zurück.  Ich  habe  nicht  ver- 
sucht, sie  anderweitig  an  die  Öffentlichkeit  zu  bringen. 

Weit  besser  als  ,, Freund"  Gebier  behandelte  mich  der  ent- 
schiedene Gegner  Henri  de  L'Epinois.^  Er  bot  mir  zu  weiterer  Prüfung 
meiner  Vermutung  eine  Originalphotographie  der  Aufzeichnungen  vom 

25.  und  26.  Februar  an  und  lud  mich  ein,  bei  seiner  Anwesenheit 
in  Paris  im  Herbst  1878  die  in  seinen  Händen  befindlichen  Original- 
Kliches  in  Augenschein  zu  nehmen. 

Die  Photographie,  die  ich  Herrn  de  L'Epinois  verdanke,  zeigte 
mir,  daß  meine  Annahme  über  das  Verhältnis  des  photolithographier- 
ten Faksimile  zum  Original  berechtigt  war,  obgleich  mehrere  der 
im  ersteren  wahrgenommenen  Sonderbarkeiten  und  Unreinheiten  in 
der  Photographie  sich  nicht  wiederfanden;  die  wichtigsten  Abwei- 
chungen stimmten  in  beiden  Reproduktionen  annähernd  überein, 
dazu  kamen  aber  in  der  Photographie  in  überraschender  Deutlichkeit 
namentlich  unter  dem  Worte  ,,constituto"  Überreste  anderer  Buch- 
staben, die  im  Faksimile  nicht  vorhanden  waren  (und  auch  in  der 
Photographie  erst  sichtbar  wurden,  nachdem  ich  eine  zweifellos  ab- 
sichtlich darüber  gepinselte  oder  gewischte  gelbliche  Bedeckung 
beseitigt  hatte). 

Ich  bin  dann  zur  Zeit  der  Pariser  Ausstellung  1878  der  Einladung 
des  Herrn  de  L'Epinois  gefolgt,  habe  bei  ihm  die  Klischees  gesehen 
und  in  denselben  alles  wiedergefunden,  was  mir  in  der  Photographie 
meine  Ansicht  zu  bestätigen  schien.  Ich  habe  auch  Herrn  de  L'Epinois 
alle  diese  Einzelheiten  gezeigt.  Er  hat  mir  zum  mindesten  nicht 
widersprochen  und  hat  ebenso  ohne  Widerspruch  mein  Bedenken 
dagegen   angehört,    daß    der   größere    Teil  der  Aufzeichnung  vom 

26.  Februar  auf  einem  Blatte  steht,  das  höchstwahrscheinlich  im 
Jahre  1616  mit  dem  vorhergehenden  nicht  verbunden  gewesen  ist. 

Herr  de  L'Epinois  hat  mir  dann  angeboten,  mich  zu  dem  größten 
französischen  Paläographen  Delisle  zu  führen,  damit  ich  diesem  meine 
Hypothese  vortrage. 


^  Augsburger  Allgemeine  Zeitung  25. — 27.     Feb.  1878;  ferner  „Gegen- 
wart" 1878,  Nr.  18,  19,  24,  25. 

-  Revue  des  questions  historiques   1878,  p.  242 — 248. 
Wohlwill,  Galilei.    H.  20 


—     306     — 

Im  guten  Glauben  an  meine  Sache  bin  ich  darauf  eingegangen. 
Ich  habe  aber  bei  dieser  Gelegenheit  erfahren,  daß  eine  kurze  Mit- 
teilung derart,  wie  sie  in  kurzer  Zeit  gegeben  werden  kann,  da,  wo 
jede  Vorbereitung  durch  speziellere  Kenntnis  der  Streitfrage  fehlt, 
und  mehr  noch,  wo,  me  es  hier  der  Fall  war,  dem  Vortragenden  und 
seiner  Sache  nur  mit  geringem  Vertrauen  begegnet  wird  —  nicht 
einmal  zu  verständiger  Erörterung,  geschweige  zur  Verständigung 
führen  kann.  Ich  mußte  mich  darauf  beschränken,  Herrn  Delisle 
zu  sagen,  aus  inneren  Gründen  richtet  sich  ein  Verdacht  gegen  die 
Echtheit  der  hier  stehenden  Zeilen;  ich  finde,  daß  die  Beschaffen- 
heit der  Schrift  in  eben  diesen  Zeilen  den  Verdacht  bestätigt,  und 
ihm  dann  die  von  mir  bemerkten  Einzelheiten  zu  zeigen.  Herr  Delisle 
fand  dieselben  vöUig  unerheblich  und  wiederholte  einmal  über  das 
andere:  „je  ne  vois  rien  du  tout."  Seine  Prüfung  und  Abweisung  war 
so  rasch,  so  wenig  dem  entsprechend,  was  ich  von  der  Vergleichung 
eines  Gelehrten  ersten  Kanges  erw^artet  hatte,  daß  ich,  als  Herr  de 
L'Epinois  vorschlug,  nach  dem  Protokoll  vom  26.  Februar  auch  das 
Dekret  vom  16.  Juni  1633  vorzunehmen,  sofort  antwortete:  „0  non 
merci!" 

Wie  ernst  Herr  de  L'Epinois  selbst  diese  Verhandlung  genommen 
hat,  ergibt  sich  einigermaßen  daraus,  daß,  als  er  bald  darauf  meine 
Abhandlung  über  das  eben  berührte  Dekret  vom  16.  Juni  1633  Ivriti- 
sierte,  er  das  absprechende  Urteil  Delisles  ohne  weiteres  so  anführt, 
als  ob  es  meinen  Vermutungen  über  dieses  Dekret  gegolten 
hätte.  ^ 

Die  Verhandlung  mit  Herrn  Delisle  hat  mich  in  keiner  Weise 
gefördert,  in  keiner  Weise  irreführen  können.  Weitere  Aufklärung 
in  der  gleichen  Richtung,  wie  ich  sie  schon  dem  gedruckten  Faksimile, 
dann  den  Photographien  entnommen,  kam  mir  dagegen 

1.  aus  einer  Mitteilung  in  der  Magia  Naturalis  von  I.  Baptista 
Porta.  Da  Gebier  sehr  bestinmit  erklärte,  daß  von  Radierungen 
keine  Spur  im  Original  zu  erkennen  sei,  die  Reste  einer  früheren 
Schrift  mir  aber  nicht  minder  bestimmt  in  den  Reproduktionen  ent- 
gegentraten, so  mußte  die  Beseitigung  des  verschwundenen  alten 
Textes  in  anderer  Weise  stattgefunden  haben.  Darüber  gab  Porta 
Aufschluß.    Er  klärt  darüber  auf,  daß  man  zu  seiner  Zeit  imstande 


1  Revue  des  questions  historiques  1879,  p.  223 — 232. 


—     307     — 

gewesen  ist,  auf  chemischem  Wege  Schriftzeichen  zu  beseitigen  und 
das  Papier  alsdann  so  zu  bearbeiten,  daß  eine  neue  Schrift  an  die 
Stelle  der  alten  gesetzt  werden  kann.^  Nun  bedurfte  ich  der  Radie- 
rungen nicht. 

2.  Aus  von  Geblers  Mitteilungen  über  die  Verbindung  der  Blätter 
des  Vatikanmanuskriptes.  Es  ging  daraus  hervor,  daß  der  letzte 
entscheidende  Teil  des  Protokolls  vom  26.  Februar  1616  auf  einem 
Blatte  steht,  das  für  diesen  Zweck  höchstwahrscheinlich  zu  dieser 
Zeit  nicht  zur  Verfügung  gestanden  hat  und  unter  allen  Umständen 
in  der  Art  dieser  Benutzung  ein  neues  Verdachtsmoment  bietet. 

Meine  früheren  Wahrnehmungen  in  Verbindung  mit  der  histo- 
rischen Belehrung  durch  Porta  und  dem  Aufschluß  v.  Geblers  über  die 
Zusammenfügung  der  einzelnen  Dokumente  zum  Aktenheft  gewährten 
mir  die  Möglichkeit,  eine  in  sich  konsequente  und  klare  Ansicht  über 
den  Modus  der  Fälschung  auszubilden.  Meine  Photographie  enthielt 
genug,  um  in  mir  die  Richtigkeit  dieser  Ansicht  zur  Gewißheit  zu 
erheben.  Aber  es  bedurfte  der  Vergleichung  des  Originals,  um  jeden 
Zweifel  über  den  Wert  der  Photographie  für  die  Beurteilung  zu  be- 
seitigen und  außerdem  durch  den  Augenschein  die  Anordnung  der 
Teile  der  Aufzeichnung  vom  25.  und  26.  Februar  im  Aktenheft  noch 
genauer  kennen  zu  lernen,  als  die  Angaben  der  Berichterstatter  ge- 
statteten. Dazu  habe  ich  im  Oktober  und  November  1891  bei  einem 
Besuch  im  geheimen  Archiv  des  Vatikans  Gelegenheit  gehabt.  Ich 
fasse  nun  zusammen,  was  sich  mir  im  Zusammenhang  mit  den  früheren 
Wahrnehmungen  und  Betrachtungen  bei  der  Prüfung  des  Original- 
manuskripts der  Aufzeichnungen  vom  25.  und  26.  Febniar  1616 
ergeben  hat. 

Schon  im  ersten  unvollständigen  Abdruck  der  Akten,  den  de 
L'Epinois  herausgegeben  hat,  fand  sich  die  Angabe,  daß  die  Aufzeich- 
nungen vom  25.  und  26.  Februar  1616  auf  zwei  Seiten  aufeinander- 
folgender Blätter  eingetragen  sind.  Auf  meine  Anfrage  teilte  mir 
schon  damals  Herr  de  L'Epinois  mit,  daß  —  mit  den  Worten:  „Totius 


^  Porta,  Magia  Naturalis,  Francof .  1597;  lib.  XVI.  De  ziferis  cap.  XI. 
p.  567:  aperi  epistulam  supra  speculum  vitreum  cui  desit  bracteola,  supra 
epistolam  pone  albam  chartam,  sub  vitro  lumen  —  —  — ,  atramentum 
tempera  ad  similitudinem  scripti,  et  supra  apparentes  characterum  ductus 
lineas  ducito. 

20* 


—     308     — 

congi'egationis"  beginnend  —  der  größere  Teil  der  Aufnahme  vom 
26.  Februar  auf  der  Vorderseite  des  zweiten  Blattes  (988)  stehe,  das 
vorhergehende  auf  der  Rückseite  von  Blatt  987. 

Aus  von  Geblers  Mitteilungen  über  die  Verbindung  der  Blätter 
des  Aktenheftes  war  alsdann  der  weitere  Aufschluß  zu  entnehmen, 
daß  die  beiden  aufeinanderfolgenden  Blätter  nicht  ursprünglich  mit 
einander  verbunden  gewesen  sind.  Das  zweite,  mit  988  (379)  bezeich- 
nete Blatt  gehört  nämlich  zu  einem  aus  sechs  Bogen  bestehenden 
Heft,  auf  dessen  ersten  Blättern  das  Verhör  des  Denunzianten  Caccini 
eingetragen  ist;  speziell  ist  988  das  achte  Blatt,  das  heißt  das  zweite 
des  fünften  Bogens,  dessen  erste  Hälfte  (Blatt  966)  das  vorletzte  der 
für  jenes  Verhör  benutzten  Blätter  ist.  Zvrischen  den  nach  dem  Ab- 
schluß des  Verhörs  übrigbleibenden  Blättern  sind  andere  zum  Prozeß 
gehörige  Aktenstücke  eingeheftet  und  zwar  zwischen  dem  sechsten 
und  siebenten  Blatt  vier  Briefe,  zwischen  dem  siebenten  und  achten 
zwei  Briefe,  zwei  vom  Florentiner  Inquisitor  übersandte  Kopien 
von  Zeugenverhören,  alsdann  die  der  Begutachtung  der  Konsul- 
toren unterworfenen  Thesen  über  die  copernicanische  Lehre  und 
endlich  ein  Bogen,  auf  dessen  erster  Seite  die  gutachthche  Entschei- 
dung und  die  Unterschrift  der  theologischen  Konsultoren  der  Inqui- 
sition zu  lesen  sind.  Auf  der  vierten  Seite  eben  dieses  eingehefteten 
Bogens  findet  sich  die  Aufzeichnung  vom  25.  Februar  1616  und  der 
Anfang  derjenigen  vom  26.,  deren  Fortsetzung  und  Schluß  dann 
auf  einem    Blatte  des  verbindenden  Heftes  folgen. 

Die  Art  der  Registrierung  über  die  Vorgänge  vom  25.  und 
26.  Februar,  die  sich  auf  diese  Weise  ergibt,  ist  eine  sehr  auffällige. 
Aus  der  Bezifferung  der  Seiten  des  Aktenhefts  —  dieselbe  umfaßt 
die  Zahlen  950—992  —  ersieht  man  ohne  weiteres,  daß  die  Akten 
des  ersten  Galileischen  Prozesses  ursprünglich  den  Bestandteil  einer 
größeren  Sammlung  gebildet  haben;  für  diesen  Zweck,  wie  überhaupt, 
um  einer  zuverlässigen  Aufbewahrung  willen,  mußten  die  unzusammen- 
hängenden Dokumente  durch  Heftung  zum  Ganzen  verbunden  werden. 
Wann  wird  das  geschehen  sein?  Antwortet  man  ohne  Rücksicht  auf 
den  vorliegenden  FaU,  so  vdrd  man  als  wahrscheinlich  bezeichnen 
müssen,  daß  es  frühestens  nach  dem  Abschluß  des  Prozesses  geschah; 
man  heftet  in  wohlüberlegter  Ordnung  eine  abgeschlossene  Sammlung 
von  Papieren,  aber  man  befestigt  nicht  Brief  nach  Brief  oder  Urkunde 
nach  Urkunde,  \Nie  sie  einlaufen  und  vollzogen  werden,  z^^'ischen 


—     309     — 

den  Blättern  eines  fertigen  Heftes.  Nimmt  man  an,  daß  demgemäß 
auch  mit  den  Akten  von  1615/16  verfahren,  daß  also  nicht  das  am 
24.  Februar  jedenfalls  noch  freie  Blatt,  am  25.  oder  26.  durch  Ein- 
nähen an  seinem  jetzigen  Platze  befestigt  worden  ist,  so  war  am 
26.  Februar  die  Einlage,  auf  deren  letzter  Seite  das  Protokoll  von 
diesem  Tage  beginnt,  mit  dem  Blatte,  auf  dem  es  fortgesetzt  und 
zu  Ende  geführt  wird,  in  keiner  Weise  verbunden.  Es  wäre  also  die 
Fortsetzung  auf  einem  Blatte  des  vorhandenen  Aktenheftes  nur  ein- 
getragen in  der  bestimmten  Erwartung,  daß  vor  demselben  die  Ein- 
lage durch  Einnähen  später  befestigt  werden  würde.  Ein  solches 
Eintragen  im  Hinblick  auf  die  später  zu  bewerkstelligende  feste 
Verbindung  der  Blätter  entspricht  sicherlich  anderweitig  üblichen 
Verfahrungsweisen  nicht  wesentlich  besser  als  das  regelmäßige  Ein- 
nähen jedes  frisch  einlaufenden  Dokuments  an  geeignet  erscheinen- 
der Stelle  der  Aktensammlung.  Denkbar  bleibt  immerhin,  daß  in 
der  einen  oder  der  andern  ungewöhnhchen  Weise  das  eigentümlich 
geteilte  Ganze,  das  uns  vorKegt,  ordnungsmäßig,  also  im  Jahre  1616, 
zustande  gekommen  wäre.  Daß  aber  diese  befremdende,  erdenklichem 
Zweck  nicht  entsprechende  Weise  der  Teilung  und  Verbindung  auch 
in  den  beiden  Aktensammlungen  des  Vatikanmanuskripts  ausschheß- 
lich  an  einer  Stelle  vorkommt,  die  um  ihres  Inhalts  willen  der  Fäl- 
schung dringend  verdächtig  ist,  daß  es  gerade  der  an  sich  unglaub- 
liche Befehl  im  Munde  des  Inquisitionskommissars  ist,  den  wir  in  so 
völlig  außergewöhnlicher  Weise  registriert  finden,  muß  demjenigen, 
dem  die  Unglaub Würdigkeit  der  Aufzeichnung  außer  Frage  steht, 
sofort  als  weitere  Bestätigung  des  Verdachts  erscheinen:  Wir  sehen 
den  größeren  Teil  des  unglaubhaften  Inhalts  auf  einem  Blatte  ein- 
getragen, das  bei  gewöhnlicher  Registrierungsweise  im  Jahre  1616 
für  diesen  Zweck  gar  nicht  zur  Verfügung  stand. 

Was  in  dieser  Beziehung  v.  Geblers  Notizen  über  die  Verbindung 
der  Blätter  des  Vatikanmanuslvripts  zu  entnehmen  war,  läßt  sich  bei 
dem  Zustande  der  Handschrift,  wie  ich  ihn  im  Oktober  1891  vor- 
gefunden habe,  durch  den  Augenschein  nicht  mehr  bestätigen.  Aus 
dem  Aktenheft  in  papierenem  Umschlag,  wie  es  von  Gebier  beschreibt, 
ist  ein  kräftiger  Pappband  geworden,  das  Werk  des  Buchbinders 
hat  den  Untersuchungen  über  die  Verbindungsweise  der  Aktenstücke 
ein  Ziel  gesetzt.  Von  den  breiten  Überresten  weggeschnittener  Blätter, 
deren  Gebier  gedenkt,  ist  ein  Teil  beim  Binden  völlig  verschwunden. 


—     310     — 

Mit  Sicherheit  in  irgendeinem  Falle  zu  erkennen,  welche  getrennten 
Blätter  Teile  desselben  Bogens  sind,  welche  Blätter  zwischen  denen  der 
größeren  für  die  Verhöre  benutzten  Hefte  eingeschaltet  sind,  ist  mir 
nicht  möglich  gewesen,  und  ich  glaube  nicht,  daß  es  anderen  ohne 
Zerstörung  des  Einbands  möglich  sein  wird.  Es  wüi-den  daher  bei 
der  Erörterung  von  derartigen  Fragen  auch  fernerhin  die  Angaben 
von  Geblers  über  die  Verbindung  der  Blätter  zugrunde  zu  legen  sein. 
Diese  Angaben  sind  in  allen  Einzelheiten  von  Berti  bestätigt.  Daß 
sie  in  völlig  zuverlässiger  Weise  wiedergeben,  was  der  Zustand 
der  Handschrift  im  Frühjahr  1877  zu  erkennen  gestattete,  darf  als 
verbürgt  betrachtet  werden.  Was  insbesondere  die  hier  in  Betracht 
kommenden  Blätter  987  und  988  (der  ältesten  Numerierung)  betrifft, 
so  hat  ihre  Verbindung  mit  andern  Blättern  des  Aktenheftes  für  von 
Gebier  den  Gegenstand  besonders  aufmerksamer  Nachforschungen 
gebildet.  Er  führt  das  (oben  benutzte)  Ergebnis  als  entscheidenden 
Beweis  dafüi'  an,  daß  die  Blätter  987  und  988  schon  1616  vorhanden 
gewesen,  also  keinesfalls  später  eingefügt  sind,  und  bedient  sich  dieser 
Wahrnehmung  in  seiner  Beweisführung  gegen  die  Annahme  der 
Fälschung;  man  wird  also  seiner  Angabe  den  Wert  eines  unverdäch- 
tigen Zeugnisses  nicht  absprechen. 

Auffälliger  noch  als  durch  diese  Angaben  erscheint  die  Verteilung 
der  Aufzeichnung  vom  26.  Februar  1616  auf  zwei  aufeinanderfolgen- 
den Blättern,  wenn  man  sie  im  Aktenheft  selbst  vor  Augen  hat.  Man 
erkennt  auf  den  ersten  Blick,  daß  die  erste  Seite  völlig  ausreichenden 
Kaum  für  das  ganze  Protokoll  geboten  hätte,  wenn  nicht  der  Notar, 
statt  die  ganze  unbeschriebene  Seite  zu  benutzen,  seine  Aufzeichnung 
nur  wenig  oberhalb  der  Mitte  begonnen  hätte.  Sagen  wh-  es  ohne 
Umschweife:  der  Anfang  der  Aufzeichnung  an  eben  dieser  Stelle 
entspricht  der  Vorausberechnung  des  Baumes,  wie  er  bei  üblicher 
Schreibweise  für  die  päpstliche  Anordnung  vom  25.  Februar  und  für 
einen  Berieht  über  den  Vorgang  vom  26.  genügt  hätte,  sofern  derselbe 
nicht  anders  verlief,  als  er  nach  der  JVIitteilung  des  Kardinals  Bellarmin 
tatsächlich  verlaufen  ist;  und  der  Notar,  der  auf  der  unbeschriebenen 
Seite  die  obere  Hälfte  unbenutzt  ließ,  hat  offenbar,  als  er  zu  schreiben 
begann,  ein  weiteres  nicht  gekannt  und  nicht  erwartet.  Daß  er  auf 
eine  Mitbenutzung  des  folgenden  Blattes,  auch  wenn  es  ihm  zur  Ver- 
fügung gestanden  hätte,  nicht  rechnet,  veranschaulicht  überdies  die 
zunehmende   Zusammendrängung,    die    ungleich    engere   Folge   der 


—     311     — 

Zeilen  und  der  Buchstaben  auf  der  ersten  Seite  im  Vergleich  mit  der 
bequemen  Ausbreitung  der  Fortsetzung  auf  dem  oberen  Teil  der 
zweiten.  Auf  den  gleichen  Raum  von  drei  Zentimeter  kommen  auf 
Seite  987''  fünf  Zeilen,  auf  988^  nur  vier;  die  Länge  der  Zeilen  in  dem 
auf  987^  registrierten  Teil  der  Aufzeichnung  vom  26.  Februar  beträgt 
16,2—19  Zentimeter  (von  den  beiden  oberen  abgesehen,  16,2—16,6), 
in  der  Fortsetzung  auf  988''  15—15,5  von  der  obersten  abgesehen 
15  cm),  die  Zahl  der  Buchstaben  pro  Zeile  auf  der  ersten  Seite  50—60, 
auf  der  zweiten  39—49. 

Es  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  überdies  der  Abschluß  der 
Aufzeichnung  auf  der  letzten  Seite  eines  Bogens,  zu  dessen  Inhalt 
dieselbe  in  näherer  Beziehung  steht,  nicht  nur  mit  dem,  was  wir  aus 
allgemeineren  Gründen  rationell  nennen,  sondern  auch  mit  der  Regi- 
strierungsweise, wie  sie  in  den  beiden  Aktenheften  des  Galileischen 
Prozesses  als  die  übliche  oder  doch  ausnahmslos  geübte  erscheint, 
im  besten  Einklang  stehen  würde. 

Auch  die  räumliche  Verteilung  auf  den  beiden  Seiten  entspricht 
demnach  dem  Verdacht,  daß  ein  älterer  Wortlaut  teilweise  durch 
einen  inhaltlich  abweichenden  ersetzt  und  dann  auf  dem  zweiten 
früher  unbeschriebenen  Blatte  in  erforderlicher  Weise  ergänzt 
worden  ist. 

Die  Frage,  ob  dieser  Verdacht  zunächst  der  Handschrift  des 
zweiten  Blattes  gegenüber  haltbar  erscheine,  muß  m.  E.  unbedingt 
bejaht  werden.  Hat  eine  Fälschung  stattgefunden,  so  darf  man  an- 
nehmen, daß  dabei,  um  die  Täuschung  zu  ermöglichen,  die  Ver- 
meidung irgendwie  auffälliger  Abweichungen  von  den  Schriftzügen 
des  verbundenen  ersten  Blattes  erstrebt  worden,  daß  man  also  nach 
besten  Kräften  eben  diese  Vorlage  nachgeahmt  hat.  Die  gestellte 
Frage  kann  also  nur  den  Sinn  haben:  Geht  die  offenbar  vorhandene 
Ähnlichkeit  der  Schrift  auf  beiden  Seiten  über  das  hinaus,  was  durch 
geschickte  Nachahmung  zu  erreichen  ist? 

Schriftkundige  mögen  entscheiden.  Ich  glaube,  daß  es  unmög- 
lich ist,  mehr  als  eine  allgemeine  durch  Nachahmung  zu  erzielende 
Übereinstimmung  zu  behaupten.  Diese  war  wesentlich  dadurch 
erleichtert,  daß  eine  nicht  geringe  Zahl  von  Worten  auf  beiden  Seiten 
vorkommt,  bei  der  Nachbildung  also  ohne  jede  Übertragung  der  Buch- 
staben zu  kopieren  war.  Die  Zahl  solcher  Worte  war  höchstwahr- 
scheinhch  noch  größer  zu  jener  Zeit,  als  der  ursprüngliche  Text  der 


—     312     — 

ersten  Seite  noch  unverändert  vorlag,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
in  andern  Teilen  der  Aktensammlung  ein  größerer  Vorrat  von 
Worten  in  den  Schriftzügen  der  Protokollisten  von  1616  zur 
Verfügung  stand. ^  j\Iit  der  mehr  oder  minder  großen  Übereinstim- 
mung bei  diesen  beiderseits  vorkommenden  Wörtern  hängt  der  all- 
gemeine Eindruck  der  iÜmlichkeit  der  Schrift  zusammen.  Sie  ist 
ähnlich,  aber  sie  erscheint  doch  nicht  als  dieselbe.  Von  dem  scharf 
ausgeprägten  Charakter  der  Schrift  auf  Folio  987  weichen  beispiels- 
weise das  Congreg.^^*  der  ersten,  die  Stelle  als  con  ipsü  procedetur 
in  der  vierten,  das  pntibus  ibide  der  sechsten,  das  Cypri  et  Augusti 
der  siebenten  Zeile  von  Fol.  988  nicht  unerheblich  ab. 

Dazu  kommen  generelle   Verschiedenheiten.     Ich   hebe   hervor 
(zum  Teil  nach  der  Autographie  von  1877): 

1.  Die  durchschnittliche  Verschiedenheit  in  der  jN'eigung  der 
Buchstaben  gegen  die  Linie  der  Schrift.  Folio  987  (378)  gewährt 
den  Gesamteindruck  einer  mehr  schrägen,  Folio  988  (379)  den  einer 
mehr  steilen  Schrift.  Die  genauere  Vergleichung  ergibt,  daß  bei  aller 
Mannigfaltigkeit  der  Neigungen  der  einzelnen  Striche  auf  beiden 
Blättern  die  Melirzahl  der  starken  graden  Striche  auf  dem  zweiten 
von  der  Senkrechten  ungleich  weniger  abweichen  als  die  entsprechen- 
den auf  dem  ersten  Blatte.  Es  würde  nicht  schwer  sein  —  wenn  man 
die  Zeit  daran  wenden  wollte  —  für  dieses  Verhältnis  der  Schrift  auf 
beiden  Seiten  einen  nach  Maß  und  Zahl  bestimmten  Ausdruck  zu 
gewinnen.  Der  Unterschied  tritt  sehr  bestimmt  hervor,  wenn  man  die 
korrespondierenden  Striche  solcher  Buchstaben  verlängert,  die  sich 
auf  beiden  Seiten  und  an  verschiedenen  Stellen  der  ersten  wieder- 
holen. Man  vergleiche  (s.  ilbb.  1)  in  solcher  Weise  den  Hauptstrich 
des  P  in  dem  viermal  vorkommenden  oponem  oder  opinionem,  alle 
Buchstaben  des  gleichfalls  viermal  vorkommenden  supradictus  und 
insbesondere  den  starken  Strich  im  G  des  viermal  auf  der  ersten, 
einmal  auf  der  zweiten  Seite  vorkommenden  Galileus.  Auch  ohne 
Messung  erkennt  man,  daß  sich  kein  G  der  ersten  Seite  dem  wesent- 
lich abweichenden  der  zweiten  soweit  nähert  wie  das  —  ohnehin 
verdächtige  —  auf  Zeile  2  von  unten. 


1  Ich  bin  der  Meinung,  daß  das  Verhör  des  Pater  Caccini  von  der  Hand 
desselben  Notars  herrührt  ^vie  die  Aufzeichnung  vom  25.  Febr.  und  der  Anfang 
des  Protokolls  vom  26. 


Wühhvill,  Galilei.    II. 


\      aus 
Fol.  987 


J 


♦^yi^^K-vfu-«i'nÄ 


aus 

Fol.  988 


\    aus 
Fol.  987 

c^^^^^      aus  Fol.  987 

vorletzte 
Zeile 

^^Ji^^^^.  aus  Fol  988 


Abbildung     1 


C7^  ,  r/^T  ■         aus 


\^yyruro^JiJf 


aus 
Fol  988 


"^        aus  Fol.  987 


^ aus  Fol  988 


<^ 


Abbi/dung    2. 


Die  Schriftproben  stellen  Photographien  dar,  die  den  Facsimiles  de  l'Epinois' 
fs.  S.  S04)  entnommen  sind. 


Verlag  von  Leopold  "Voss,  Leipzig. 


—     313     ~ 

Die  Bedeutung  der  hervorgehobenen  Verschiedenheiten  ist  ein- 
leuchtend. Die  durchschnittliche  Neigung  der  Schrift  entspricht  bei 
einer  festen  Hand  ohne  Zweifel  einer  gewissen  Gewohnheit  des  Schrei- 
benden, von  der  Abweichungen  nur  in  beschränktem  Maße  und  vor- 
zugsweise bei  getrennten  Schriftstücken  vorkommen.  Der  Fall,  daß 
in  dem  ersten  und  zweiten  Teil  derselben  amtlichen  Aufzeichnung 
oder  gar  desselben  Satzes  auf  zwei  unmittelbar  einander  folgenden 
Seiten  bei  sauberer  Schrift  Verschiedenheiten  wie  die  hier  vorliegen- 
den zu  erkennen  wären,  wd  kaum  jemals  vorkommen. 

Ist  kein  Irrtum,  was  ich  bei  oft  wiederholter  Vergleichung  ge- 
funden zu  haben  glaube,  daß  die  Schrift  des  ProtokoUisten  im  Ver- 
hör des  Pater  Caccini  mit  der  des  größeren  Teils  der  Aufzeichnungen 
auf  Folio  987  identisch  ist,  so  bestätigt  die  durchgehends  hervor- 
tretende gleichartige  und  mit  Folio  987  übereinstimmende  schräge 
Schrift  dieses  ProtokoUisten  die  Annahme,  daß  die  Abweichung  auf 
988  keine  zufällige  ist. 

Gebier  und  andere  haben  behauptet,  die  Abweichung  in  der 
Neigung  der  Schrift  könne  durch  eine  Änderung  in  der  Lage  des 
Papiers  hervorgerufen  sein.  Ich  glaube,  daß  jeder,  der  in  dieser  Be- 
ziehung eine  feste  Gewohnheit  sich  angeeignet  hat,  durch  den  Ver- 
such sich  überzeugen  wird,  daß  ein  solcher  Einfluß  der  Lage  des  Buchs 
entweder  gar  nicht  oder  nur  in  äußerst  geringem  Maße  besteht,  daß 
insbesondere  nie  bei  jemand,  dessen  Schrift  gewohnheitsgemäß  schräge 
ist,  durch  solche  äußere  Veranlassung  Schriftstücke  Zustandekommen 
werden,  die  deutlich  den  Charakter  der  steilen  Handschrift  zeigen. 
Ich  bewahre  als  Ergebnis  eines  Experiments  in  dieser  Beziehung 
ein  Schriftstück,  das  Professor  Cantor  in  Heidelberg  auf  meinen  Wunsch 
bei  sehr  verschiedenen  Lagen  des  Papiers  aufgesetzt  hat.  Professor 
Cantor  war  damals  in  der  Hauptsache  nicht  meiner  Meinung,  aber 
der  Winkel  seiner  Schrift  ist  in  vier  verschiedenen  Lagen  des  Papiers 
genau  der  gleiche  geblieben. 

Ich  betone,  daß  ich  nur  von  durchschnittlicher  Neigung  oder 
von  derjenigen  rede,  die  bei  so  vielen  Buchstaben  vorkommt,  daß 
durch  dieselbe  der  Charakter  der  Schrift  sich  bestimmt;  man  braucht 
nicht  lange  zu  suchen,  um  neben  dieser  Mehrzahl  auch  auf  Folio  987 
steilere,  auf  Folio  988  schrägere  Striche  zu  finden;  in  sehr  eigentüm- 
licher Weise  stimmen  auch  in  bezug  auf  die  Neigung  der  Striche 
einige  beiderseits  vorkommende  Worte  überein,  so  die  Worte  sol  sit. 


—     314     — 

mundi,  et  imobilis,  et  terra  moveatur,  S,  Offieii,  testibus,  und  doch 
ist  auch  hier  Verschiedenheit,  die  mit  Nachahmung  zusammen- 
hängen kann,  ersichtlich. 

2.  Der  einfachen  Schreibweise  des  Notars  auf  dem  ersten  Blatte 
entspricht  es,  daß  auch  die  langausgezogenen  Buchstaben  oder  die 
am  Schlüsse  der  Worte  befindlichen  über  das  allgemeine  Gleichmaß 
imr  ausnahmsweise  hinausgehen,  und  daß  in  Übereinstimmung  damit 
auch  die  sehr  häufig  vorkommenden  Abkürzungskurven  ihrer  Mehr- 
zahl nach  vom  Anfang  bis  zum  Ende  in  beinah  gleicher  Stärke 
verlaufen;  nur  in  einzelnen  Fällen  erkennt  man  in  der  etwas  zu- 
nehmenden Breite  am  Schlüsse  des  Bogens  den  Druck,  den  der  Schrei- 
bende ausgeübt.  Dagegen  finden  sich  auf  Folio  988  in  den  lang- 
gezogenen Buchstaben  und  Abkürzungszügen  fast  ausnahmslos  der 
zweite  Teil  der  Kurve  erheblich  —  bis  zum  vierfachen  des  ersten  — 
verstäi'kt,  und  nur  vereinzelt  treten  die  gleichmäßig  gezogenen  Ab- 
breviaturen auf;  dieselben  sind  überdies  in  der  Regel  erheblich  größer 
als  bei  gleichen  oder  ähnlichen  Buchstaben  auf  FoHo  987  und  treten 
in  dieser  zwiefachen  Abweichung  viel  anspruchsvoller  aus  dem  Rahmen 
der  übrigen  Schrift  hervor.^ 

Ich  bin  der  Meinung  —  und  andere  haben  mir  das  Gleiche  aus- 
gesprochen, ehe  ich  mich  ihnen  gegenüber  geäußert  hatte  — ,  daß 
die  hier  hervorgehobene  Abweichung  in  der  Schreibweise  auf  Folio 
988  vorzugsweise  der  Annahme  entspricht,  daß  hier  die  gleichartigen 
Schriftzüge  der  ersten  Seite  nachgeahmt  sind. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  die  sichtlich  vorhandene  Ähnlichkeit  über 
das'  Maß  dessen  hinausgeht,  was  durch  geschickte  Nachahmung 
zu  erreichen  ist,  oder  ob  die  Älmlichkeit  so  groß  ist,  daß  sie  Identität 
der  Handschrift  erweist  und  dadurch  gegenüber  dem  gewichtigen 
Argument,  das  in  der  Verbindung  beider  Blätter  und  der  Außergewöhn- 
hchkeit  der  Registrierungsweise  liegt,  in  Betracht  kommt,  wobei  vom 
unwahrscheinlichen  Inhalt  abgesehen  werden  darf.  Sobald  anerkannt 
ist,  daß  die  Ähnlichkeit  durch  Nachahmung  zu  erreichen  war,  also 
von  Seiten  der  Handschrift  hier  ein  ausschlaggebender  Widerspruch 
nicht  vorhanden  ist,  treten  die  übrigen  Argumente  mit  verdoppelter 
Kraft  in  die  Schranken,  und  entscheidend  als  Beweis  der  Fälschung 


^  S.  die  beiden  immobiles,  dazu  das  i  für  in  auf  Abb.  2.  Die  entsprechen- 
den Kvirven  sind  durchweg  auf  fol.  988  größer;  vgl.  auch  das  Zeichen  für  quod. 


—     315     — 

erscheint  dann  die  Beschaffenheit  der  drei  letzten  Zeilen  der 
ersten  Seite. 

Die  drei  letzten  Zeilen  von  Folio  QST". 

Ich  nehme  an,  daß  hier  der  ursprüngliche  —  mit  Gherardis 
Dekret  übereinstimmende  —  Text  beseitigt  und  durch  den  jetzt 
vorhandenen  ersetzt  ist.  Die  Beseitigung  durch  Radierung  ist,  wie 
mich  der  Augenschein  belehrt  hat,  so  gut  wie  ausgeschlossen;  das 
Papier  ist  sehr  dünn,  daß  nirgends  durchscheinende  Steilen  sind, 
hat  schon  von  Gebier  gesagt.  Aber  man  bedurfte  der  Radierung 
nicht.  Johann  Baptista  Porta  lehrt  in  der  zweiten  Ausgabe  seiner 
Magia  Naturalis  Lib.  XVI.  de  ziferis  cap.  X  pag.  565  e  papyro  literas 
abstergere  und  dann  aliquid  in  absterso  loco  scribere. 

Sein  Verfahren,  wörtlich  eingehalten,  wird  schwerlich  ohne 
besondere  Kunstgriffe  zum  Ziel  führen.  Aber  das  Prinzip  ist  aus- 
reichend. Es  wird  durch  Säure  mit  einem  Pinsel  die  Tinte  beseitigt, 
dann  das  Papier  an  der  betreffenden  Stelle  neu  geleimt.  Daß  Porta, 
um  Mißbrauch  zu  verhüten,  unvollständig  beschreibt i,  scheint  aus 
der  Vorrede  pag.  544  hervorzugehen.  Jedenfalls  ist  sein  Verfahren 
leicht  so  zu  modifizieren,  daß  der  gewünschte  Erfolg  —  speziell  ohne 
Zerstörung  des  Papiers  —  erreicht  wird,  ohne  daß  dabei  Mittel  in 
Anwendung  kämen,  die  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts  nicht  zu 
Gebote  standen. 

Ich  habe  nach  einigen  Vorversuchen  das  folgende  Verfahren 
brauchbar  gefunden:  Ich  bestreiche  die  (mit  Gallustinte  hergestellte) 
Schrift  mittelst  einer  Federfahne  mit  einer  Mischung  aus  konzen- 
trierter Salzsäure  (1,19  spez.  Gew.)  und  dem  gleichen  Volumen  Wasser, 
wiederhole  dies  bis  nahe  zum  Verlöschen  der  Schrift,  ziehe  dann 
das  Papier  (oder  den  betreffenden  Teil  desselben)  durch  dieselbe 
Säure  unter  gleichzeitigem  Bestreichen  mit  der  Gänsefederfahne, 
übergieße  dann  A^iederholt  mit  Wasser,  um  die  Säure  zu  beseitigen 
und  trockne  in  mäßiger  Wärme;  dann  ziehe  ich  durch  eine  Mischung 
von  Alaun  und  Leim,  tropkne,  behandle  nochmals  mit  der  Leim- 
mischung und  trockne  nochmals.  Es  ist  dann  das  Papier  zum  Be- 
schreiben völlig  geeignet. 

Das  Maß  der  Wirkung  der  Säure  hängt  (abgesehen  von  ihrer 
Stärke  und  Art)  von  der  Beschaffenheit  des  Papiers,  der  Schrift 


^  Vielleicht  weiß  er  auch  unvollständig. 


—     316     — 

usw.  ab;  sie  ist  zuweilen  so  vollständig,  daß  kein  Überrest  zu  erkennen 
ist.  In  anderen  Fällen  bleiben  mehr  oder  minder  teils  mit  schwacher 
Tintenfärbung  sichtbare  Schriftrückstände,  teils  völlig  entfärbte  Ein- 
drücke im  Papier.  Reste  von  beiderlei  Art  sind  durch  die  neue  Schrift 
an  gleicher  Stelle  der  Wahrnehmung  zu  entziehen,  indem  sie  entweder 
geradezu  überschrieben  oder  für  die  neuen  Buchstaben  mit  verwertet 
werden.  Im  letzteren  Falle  werden  —  da  die  neue  Schrift  nur  aus- 
nahmsweise an  gleicher  Stelle  die  gleichen  Buchstaben  gebraucht, 
durch  Verbindung  der  neuen  mit  den  alten  abweichende  Formen 
der  Buchstaben  resultieren.  Es  werden  neben  den  neuen  Buchstaben 
nichtverständhche  Striche  und  Anhängsel  bleiben  und  es  können 
endlich,  wenn  nicht  genau  die  gleiche  Linie  der  Schrift  eingehalten 
wd,  oder,  wie  das  naturgemäß  vorkommt,  die  Lücken  zwischen 
den  Worten  der  zweiten  Schrift  nicht  mit  denen  der  ersten  zusammen- 
fallen, in  den  Lücken  Buchstaben  sichtbar  und  namentlich  durch  die 
Photographie  wahrnehmbar  werden,  die  für  den  neuen  Zusammenhang 
bedeutungslos  sind.  Es  hängt  dies  alles  damit  zusammen,  daß  die 
Säure  zwar  die  Tinte  mehr  oder  minder  vollständig  wegnimmt,  aber 
die  Eindrücke  der  Feder  im  Papier  erhalten  bleiben  und  deshalb 
überall  da  gesehen  werden,  wo  sie  stark  genug  sind  und  die  neue  Schrift 
sie  nicht  bedeckt.  Aus  der  Natur  des  Verfahrens  geht  hervor,  daß 
zwar  durch  Überreste  der  bezeichneten  drei  Arten  die  stärksten 
Indizien  für  die  vorgenommene  Veränderung  gewonnen  werden  können, 
daß  aber  in  der  Regel  eine  auch  nur  teilweise  Wiedererkennüng  der 
älteren  Schrift  bei  einiger  Vorsicht  und  Geschicklichkeit  des  Fäl- 
schers ausgeschlossen  bleiben  wird.  Die  Eigentümlichkeit  des  Ver- 
fahrens bedingt  ferner,  daß  Fälschungen  dieser  Ait  der  Wahrnehmung 
vollständig  entgehen,  wenn  nicht  auf  die  Schrift  der  betreffenden 
Stelle  speziellste  Aufmerksamkeit  verwandt  wird.^ 

Meine  Forschung  in  Rom  hatte  die  Aufgabe,  festzustellen,  ob 
das,  was  an  Überresten  der  bezeichneten  Art  die  Photographie  zu 


^  Ob  mittelst  geeigneter  Behandlung,  vielleicht  Bestreichen  mit  GaUäpfel- 
auszug  die  alte  Schrift  wieder  herzustellen  ist,  bleibt  zu  untersuchen;  denkbar 
ist,  daß  durch  Säure  und  Waschung  auch  das  Eisen  vöUig  entfernt  ist,  dann 
ist  Wiederherstellung  durch  Gerbsäure  nicht  zu  erwarten,  aber  Eisen- 
chloridlösung wird  wahrscheinlich  immer  teilweise  durch  Papier 
zurückgehalten. 


—     317     — 

bieten  schien,  im  Original  übereinstimmend  vorhanden  war,  ferner 
weitere  durch  die  Photographie  nicht  reproduzierte  feinere  Einzel- 
heiten aufzufinden.  In  beiden  Beziehungen  hat  der  Erfolg  meinen 
Erwartungen  entsprochen. 

Ich  verzeichne  demnach  im  folgenden: 

1.  Abweichende  Formen  der  Buchstaben  in  den  letzten  drei 
Reihen  von  Folio  987. 

2.  Mit  der  gegenwärtigen  Schrift  nicht  zusammenhängende  Buch- 
stabenreste und  Schriftzeichen. 

3.  Rückstände  der  früheren  Schrift  an  unbeschriebener  Stelle, 
die,  weil  vollständig  entfärbt,  nur  bei  besonderer  Aufmerksamkeit 
als  eingraviert  in  der  Handschrift  wahrzunehmen  sind. 

1.  a)  Der  untere  Teil  des  ersten  s—  in  der  drittletzten  Zeile  —  in 
successive,  der  bis  in  das  111.°^°  der  zweiten  Reihe  hineinreicht;  das 
Original  zeigt  hier  deutlich  einen  nach  unten  gehenden  Buchstaben, 
den  ich  als  ein  p  ansehe. 

b)  Der  Anfang  des  Wortes  m."^*^  —  in  der  vorletzten  Zeile  — ; 
der  vorderen  Kurve  des  großen  I  entspricht  nichts  in  den  beiden  Formen 
des  sonst  noch  sechsmal  auf  gleicher  Seite  vorkommenden  Wortes 
und  der  Schreibweise  des  I  in  dem  Verhör  des  Caccini,  sie  ist  unver- 
ständliche Zutat. 

c)  Das  durch  den  großen  Klecks  verdeckte  D  vor  Card."  ist  D 
überhaupt  nur  in  der  Möglichkeit;  in  den  vier  Fällen,  wo  außerdem 
noch  Ulm.  D.  Card,  vorkommt,  hat  der  Buchstabe  D  ungefälu*  die 
dreifache  Ausdehnung,  ist  überdies  jedesmal  mit  dem  darauffolgenden 
Card.^'^  verbunden,  was  hier  nicht  nur  fehlt,  sondern  unmögKch  ist. 
Der  Schein  eines  D  entsteht  eigenthch  nur  dadurch,  daß  das  Wort 
zwischen  111.™"  und  Card'',  nur  Domino  sein  kann. 

Im  Original  findet  sich  da,  wo  wir  den  Hauptkörper  des  D  zu 
sehen  glauben,  nichts  als  ein  ovales  Loch,  dem  links  ein  schräger  für 
das  D  verwendbarer  Strich  anhaftet;  der  rechts  anhaftende,  aufwärts 
führende  Strich,  den  die  Photographie  deutlich  zeigt,  hat  keinen 
rechten  Sinn. 

d)  Das  große  P  vor  Comiss.^  ist  kein  P,  wie  es  irgendwo  sonst 
vorkommt;  es  ist  weit  eher  ein  L.  Die  Verdickung  in  dem  Haupt- 
strich hat  etwas  Künstliches. 


—     318     — 

e)  Die  drei  ersten  Buchstaben  des  pred.**'  und  das  Herausfallen 
derselben  aus  der  Linie  der  Schrift;  man  vergleiche  das  in  gewisser 
Beziehung  ähnliche  Pred,  vorletztes  Wort  der  fünfletzten  Zeile. 

f)  Das  p  des  pnti  (zweites  Wort  der  letzten  Zeile),  die  unregel- 
mäßig verdickte  Abkürzungskurve  vor  dem  p  kommt  nirgends  ähnlich 
vor  und  hat  im  Zusammenhang  der  sonstigen  Schreibweise  keinen 
Sinn. 

Diesen  sechs  durch  keine  Deutung  zu  beseitigenden  Abweichungen 
schließen  sich  als  minder  erheblich  in  der  vorletzten  Reihe  das  C 
des  Card.^^  mit  gebrochener  Kurve  und  das  Co  des  Comiss^  an.  Beide 
Zeichen  könnten  so  vorkommen,  kommen  aber  nicht  vor,  dazu  das 
S'°'  drittletztes  Wort  der  letzten  Zeile. 

2.  Mit  der  gegenwärtigen  Schrift  nicht  zusammenhängende  Buch- 
stabenreste und  Schriftzeichen. 

a)  Das  schon  unter  1.  a)  hervorgehobene  p-artige  Zeichen  am 
und  unter  dem  s  des  successive. 

b)  In  einer  Senkrechten  liegende  Punkte,  die  mitten  durch  das 
erste  1  des  .111.'"°  (zweite  Zeile)  gehen. 

c)  Damit  zusanmienhängend  (nur  in  der  Photographie  sichtbar) 
ein  v-artiges  Zeichen,  das  unterhalb  der  Buchstaben  das  I  des  I1I.™° 
mit  dem  zweiten  1  zu  verbinden  scheint,  schwach  sichtbar. 

d)  Am  C  des  Card.^'  ein  nur  in  der  Photographie  sichtbarer  vom 
C  zum  a  laufendei  Sfcrich  mit  Schlußverdickung  am  a,  der  den"  unteren 
Teil  des  C  als  größeres  0  erscheinen  läßt. 

e)  Soviel  ich  nachträglich  sagen  kann,  nur  in  der  Photographie 
sichtbar  ein  o-artiges  Oval  im  oberen  Teil  des  p  von  pred.^  und  Teile 
eines  schräg  nach  unten  führenden  Strichs  im  p  und  i  desselben 
Worts. 

f)  Neben  dem  unteren  Teil  des  s  in  successive  und  dem  ganzen 
jll  mo  vorzugsweise  verdächtig  die  deutlich  sichtbaren  Buchstaben 
und  Zeichen  im  und  unter  dem  constituto  der  letzten  Zeile,  ganz  wie 
die  Photographie  sie  aufweist;  am  deutlichsten  ist  der  das  erste  o 
durchschneidende,  nach  unten  links  sich  ausbreitende  p-artige  Buch- 
stabe. Minder  verständlich,  aber  deutlich  vorhanden  sind  die  von 
n  nach  unten  und  links  nach  oben  abgehenden  Striche,  eine  Ab- 
zweigung nach  unten  an  dem  st  und  Halb  verloschenes  unter  dem  u. 

g)  Ein  kommaartiger  Strich  am  zweiten  et. 


—     319     — 

3.  Nur  im  Original  sichtbare,  fast  verloschene  Rückstände  an 
unbeschriebener  Stelle. 

a)  Ganz  deutlich  wahrnehmbar,  wenn  man  sie  erst  gefunden, 
zwei  Buchstaben,  die  den  Raum  zwischen  Comiss.^  und  pred.**^  der 
vorletzten  Zeile  ausfüllen;  ich  habe  immer  ce  gelesen,  Prof.  Quidde 
hat  nur  das  e  erkannt. 

b)  An  das  t  im  et  vor  successive  anschließend,  und  zwar  unter- 
halb des  wagerechten  Striches,  drei  schräge  Striche,  die  dem  ui  eines 
an  dieser  Stelle  möglichen  cui  entsprechen.  Ich  habe  sie,  nachdem 
ich  sie  am  ersten  Tage  aufgefunden,  jederzeit  wiedersehen  können. 
Prof.  Quidde  hat  sie  nicht  gesehen.  Die  Photographie  läßt  sehr 
schwach  hinter  dem  t  an  eben  derselben  Stelle  zwei  Striche  und  eine 
schwache  Verbindung  derselben  wahrnehmen.  Die  Beschaffenheit 
der  Stelle,  wie  ich  sie  sehe,  entspricht  derjenigen,  wie  sie  bei  völliger 
Beseitigung  der  Tinte  entsteht,  wenn  man  nichts  weiter  als  die  rück- 
ständigen Eindrücke  der  Feder  wahrnimmt.  Die  Beseitigung  der 
Tinte  ist  hier  noch  weiter  gegangen  als  bei  dem  ce  zwischen  Coihiss.^ 
und  predto. 

Wird  bei  den  Zeichen  und  Überresten  der  di-ei  besprochenen 
Arten  eine  rationelle  Deutung  außerhalb  der  Fälschungshypothese 
schwerlich  Raum  finden,  so  hat  man  für  die  beiden  ganz  unleser- 
lichen Worte  in  der  zweiten  Hälfte  der  letzten  Zeile  aller- 
dings eine  Lesart  angenommen,  die  in  den  Zusammenhang  der  ge- 
fälschten Registrierung  paßt,  und  es  ist  ja  auch  nicht  zweifelhaft, 
daß  beim  Schreiben  oder  Umschreiben  dieser  Worte  die  Absicht 
bestanden  hat.  Hierhergehöriges  zwischen  die  vorhergehenden  und 
folgenden  Worte  zu  setzen.  Tatsächlich  ist  aber  die  Schrift  an 
dieser  Stelle  zerstört.  Man  sieht  mehr  Löcher  als  Buchstaben  und 
die  Worte  proprio  nomine  sind  reine  Kombination.  Daß  auch  hier 
ursprünglich  anderes  gestanden,  wird  insbesondere  durch  den  Buch- 
staben angedeutet,  der  zurzeit  das  S™*  vor  D.  N.  Pape  herstellt. 

Mit  der  Entdeckung  dieser  Überreste  ergibt  sich,  daß  die  ver- 
dachterregenden Zeichen  genau  an  derselben  Stelle  beginnen  wie 
der  verdächtige  Inhalt.  Die  Zeichen  an  dem  et  und  dem  s  des  successive 
machen  sehr  glaublich,  daß  an  dieser  Stelle  gestanden: 

Cui  praecepto  Galileus  acquievit  et  parere  promisit.  Weder 
diese  bestimmten  Worte  noch  die  folgenden  lassen  sich  mit  Sicherheit 
rekonsti'uieren ;  auch  bleibt  möglich,  daß  für  einzelne  der  verkrüppelt 


—     320     — 

erscheinenden  Buchstaben  und  der  anderweitigen  Abweichungen  Be- 
lege in  Schriftstücken  der  gleichen  Hand  aufgewiesen  werden;  andere 
könnten  durch  Zufall  entstanden  sein.  Aber  für  die  Gesamtheit  der 
hier  zusammengestellten  Einzelheiten  wird  man  weder  eine  Analogie 
finden,  noch  eine  zufällige  Entstehungsweise  annehmen  können;  die 
halbverloschenen  bestimmt  erkennbaren,  mit  der  vorhandenen  Schrift 
in  keiner  Weise  zusammenhängenden  Buchstaben,  die  Keste  zwischen 
den  abgeschlossenen  Worten,  die  Mehrzahl  der  oben  bezeichneten 
Buchstabenformen  deuten  unwidersprechlich  auf  die  Beseitigung 
einer  früher  an  gleicher  Stelle  vorhanden  gewesenen  Schrift.  Die 
Annahme  der  chemischen  Bearbeitung  der  Schrift  und  des  Papiers 
erklärt  ebensowohl  die  Erscheinungsweise  dieser  Rückstände,  wie 
das  Vorhandensein  reinlich  geschriebener  Worte,  an  denen  nichts 
Fremdes  haftet  und  das  Fehlen  anderweitiger  Spuren  der  Manipu- 
lation namentlich  im  Zustande  des  Papiers. 

Daß  so  zahlreiche  Indizien  auf  dem  beschi'änkten  Raum  der 
drei  Zeilen  sich  finden,  gegen  deren  Inhalt  die  stärksten  Verdachts- 
gründe vorhanden  waren,  als  man  von  all  diesen  äußeren  Zeichen 
noch  nichts  wahrgenommen  hatte  —  beseitigt  den  letzten  Zweifel 
an  der  Tatsache  der  Fälschung. 

Diejenigen,  die  wie  Berti^  annehmen,  es  ist  geschehen,  was 
das  Protokoll  behauptet,  lassen  unter  anderm  unerklärt  und  be- 
trachten vielmehr  als  unerheblich,  ja  selbstverständlich,  daß  hier 
etwas  geschieht,  wozu  gar  keine  Veranlassung  war,  und  was  dem 
Verfahren  gegen  die  Schrift  des  Copernicus  offenbar  widerspricht, 
kurz,  daß  vom  allgemeinen  Beschluß  zu  Galileis  Nachteil  abgewichen 
wird.  Daß  man  1632  ein  solches  Geschehen  als  Abweichung  betrachtet, 
geht  aus  der  Forderung,  den  Befehl  bei  Erlangung  der  Zensur  vor- 
zuzeigen, unwidersprechlich  hervor.  Für  die  Abweichung  war  Ver- 
anlassung —  si  recusaverit  parere,  sonst  nicht.  Wer,  wie  Reusch^ 
annimmt:  es  ist  nicht  geschehen  —  sagt  nur:  die  Richter  benutzten 
völlig  leichtfertig  ein  wertloses,  seinem  Inhalte  nach  unglaubhaftes 
Dokument,  das  —  wie  auch  zustandegekommen  —  ihren  oder  anderer 
Leute  ZwTcken  entsprach. 


^  Dom.    Berti,    II   processo    originale   di    Galileo  Galilei,    Roma    1876, 
p.  CVIIsq. 

-  Hist.  Zeitschr.  34  (1875),  p.  121  ff.,  bes.  p.  133 ff. 


—     321     — 

B.  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  über  moderne  Fälschungen, 

speziell  des  examen  de  inten tione  im  Vatikanmanuskript  des 

Galilei  sehen  Prozesses. 

Ich  habe  1877  in  meiner  Schrift:  „Ist  Galilei  gefoltert  worden?" 
die  Behauptung  verteidigt,  daß  ein  Beweis  gegen  die  Folterung  den 
Akten,  insbesondere  dem  Verhör  de  intentione  vom  21.  Juni  1633 
nicht  entnommen  werden  könne,  weil  man  bezweifeln  dürfe,  daß  das 
Protokoll  über  dieses  Verhör,  so  wie  es  uns  vorliegt,  ursprünglicher 
und  unverfälschter  Bestandteil  der  Akten  ist.  Ausgangspunkt  dieses 
Zweifels  war  der  nicht  wegzu diskutierende  Widerspruch  des  Schluß- 
satzes, demgemäß  der  Richter  sich  auf  Androhung  der  Tortur  be- 
schränkt hätte,  mit  dem  Wortlaut  der  Sentenz;  der  letztere  war  authen- 
tisch, die  Differenz  forderte  genaueste  Prüfung,  ob  das  Gleiche  für 
das  Verhör  als  verbürgt  zu  betrachten  sei.^  Es  sind  anscheinend  gering- 
fügige Formalitäten,  die  ich  damals  als  bedenkenerregend  hervor- 
gehoben habe;  ich  muß  heute  sagen:  was  mich  leitete,  war  weniger 
ein  vollständiges  Wissen  über  das,  was  im  Gebrauch  der  Inquisition 
vorkommt,  als  ein  bestimmtes  Gefühl,  daß  die  Ausdrücke,  wie  sie 
in  dem  Protokoll  sich  voranden,  diesem  Gebrauch  rationellerweise 
nicht  entsprechen  könnten;  ich  witterte  Unordnung,  weil  Marinis 
Angaben  (Ist  Galilei  gefoltert  worden?  86—88)  geradezu  dazu  zwangen, 
an  Unordnung  zu  denken. 

Unter  den  drei  Punkten,  auf  die  ich  hingewiesen  habe,  erschien 
mii-  als  weitaus  der  wichtigste  die  Anfangswendung:  Galileus  de 
Galüeis  Florentinus,  de  quo  alias.  Man  kann  die  Sache  wenden, 
wie  man  wiU,  alias  bedeutet:  an  anderer  Stelle;  und  hier  fand  sich 
die  Verweisung  auf  die  andere  Stelle  mitten  in  einem  Aktenheft 
(oder  wenn  man  will,  am  Schlüsse  desselben),  das  ausschließlich 
Galileis  Prozeß  umfaßt,  in  jeder  Linie  auf  ihn  Bezug  nimmt,  ja 
Seite  an  Seite  neben  dem  päpstlichen  ,,Dela'et"  vom  16.  Juni,  das 
mit  den  Worten  Galilei  de  Galileis  de  quo  supra^  beginnt;  ich  war 
der  Meinung,  daß  man  eine  Bezugnahme  auf  räumlich  so  naheliegende 
Dokumente  nicht  durch  die  Worte  de  quo  alias  ausdrücken  würde, 
daß  vielmehr  dieses  alias  auf  eine  andere  Umgebung  hindeute,  in 


1  Vergl.  Ist  G.  gefoltert  worden  ?  103  u.  f. 

-  „N.  N.,  de  quo  supra"  heißt  es  in  den  Eingangsformehi  sämtlicher 
Formulare  des  examina  de  intentione,  die  Wolynski  zusammenstellt. 

Wohlwill,  GaUlei.     II.  21 


—     322     — 

der  sich  das  Protokoll  vom  21.  Juni  1633  ursprünglich  befunden  habe 
und  für  die  in  Walirheit  das  Hauptaktenheft  des  Galileischen  Pro- 
zesses ein  alias  gewesen  wäre.  Ich  konnte  mich  darauf  berufen,  daß 
bei  den  Verhören  im  Hauptprozeß,  die  durch  Zwischenräume  von 
18  und  10  Tagen  getrennt  sind,  der  Angeklagte  nach  der  ersten  Ver- 
nehmung stets  als  supradictus  Galileus  oder  Galileus,  de  quo  supra 
eingeführt  wird;  wenn  nun  gleichermaßen  fünf  Wochen  nach  der 
letzten  Vernehmung  das  päpstliche  Dekret  vom  16.  Juni  wiederum 
mit  den  Eingangsworten  Galileus,  de  quo  supra  reproduziert  wird  — 
war  es  dann  glaublich,  daß  das  Protokoll  über  das  Verhör  vom  22., 
das  als  Ausführung  eben  dieses  Dekrets  vom  16.  betrachtet  werden 
will  und  auf  dasselbe  sich  ausdrücklich  bezieht,  in  völlig  neuer  Wen- 
dung begomien  hätte:  „Galilei,  von  dem  an  anderer  Stelle"  (die 
Rede  ist),  wenn  es  von  vornherein  ebenda  gelegen  hätte,  wo  es  heute 
liegt? 

Bewiesen  war  damit  freilich  das  „anderswoher"  nicht,  auch  dann 
nicht,  wenn  ich  imstande  gewesen  wäre,  aus  einer  großen  Zahl  von 
Prozessen  den  regelmäßigen  Gebrauch  des  „de  quo  supra"  in  ähn- 
lichem Zusammenhange  nachzuweisen;  ein  einziges  wohlverbürgtes 
de  quo  alias  in  einer  Anwendung,  die  der  Stellung  des  Verhörs  vom 
22.  Juni  unzweideutig  entspricht,  während  doch  ein  anderer  Ort 
der  Aufbewahrung  nicht  in  Frage  kommen  kann,  würde  meine  Argu- 
mentation über  den  Haufen  werfen.  Bis  jetzt  hat  niemand  einen 
solchen  Gegenbeweis  geliefert.  Wolynski^  hat  uns  versichert,  che 
apesso  nei  processi  del  S.  Officio  abbiamo  letto  questa  espressione; 
daß  das  Wort  alias  vorkoiiunt,  hat  niemand  bezweifelt,  aber  Wolynski 
hat  von  den  Fällen,  die  ihm  zu  Gebote  stehen,  keinen  einzigen  namhaft 
gemacht,  so  darf  man  zweifeln,  ob  sie  beweisen,  worauf  es  ankommt. 

Für  meine  Annahme  spricht  überdies,  daß  Galüei  in  den  Eingangs- 
worten des  Verhörs  von  neuem  als  Florentinus  eingeführt  wird;  der 
gleiche  Zusatz  findet  sich  ordnungsgemäß  neben  den  übrigen  Per- 
sonalien im  ersten  Verhör,  aber,  ^ie  gleichfalls  begreiflich,  in  keinem 
der  folgenden  und  in  keiner  der  zahlreichen  anderweitigen  Regi- 
strierungen des  Aktenhefts;  er  ist  verständlich  im  Eingang  eines 
Protokolls,  das  außerhalb  dieses  Aktenheftes,  vielleicht  unter  ähn- 


^  Arturo  Wolynski,   Nuovi   Documenti  inediti  del  processo  di   Galileo 
Galilei,  Firenze  1878,  S.  96. 


—     323     _ 

liehen  Verhören  anderer  Inquisitoren  bewahrt  wird.  Ich  habe  ferner 
darauf  aufmerksam  gemacht,  daß  in  der  Schhißwendung  des  Pro- 
tokolls der  Gebrauch  der  Worte  in  executionem  decreti  ohne  weitere 
Bezeichnung  dieses  Dekrets,  ohne  Datum  und  ohne  Nennung  der 
Kongregation,  die  es  erlassen,  ungewöhnlich  sei;  ich  kenne  sehr  zahl- 
reiche Anwendungen  derselben  Formel,  keine,  bei  der  in  solcher 
Weise  von  „dem  Dekret"  geredet  wird.  Meine  Gegner  haben  keine 
Schwierigkeit  darin  gesehen,  mich  au